Hajo Schindler

Augen zu und los

Es ist ein alter Menschheitstraum: Reisen durch die Zeit, in die Zukunft und vor allem in die Vergangenheit. Manchmal kommt auf eine sehr geheimnisvolle Weise dieses Verlangen auch in mir auf.

Wer hat nicht schon mal davon geträumt, in die Vergangenheit zu reisen? Dort vorbeischauen, wo man mit Geschehen konfrontiert wurde, an die man sich ab und an immer wieder gerne mit Schmetterlingen im Bauch und rosaroter Brille erinnert. Balsam für die Seele. Nur einmal nachsehen, ob alles so war, wie es in den Gedanken und der Seele einen festen Platz gefunden hat: so beherrschend, so bunt, so ungeheuer lebendig.

Ich frage mich, wie es wohl wäre, wenn es tatsächlich die Möglichkeit einer Zeitreise geben würde, man die Uhr des Lebens zurückdrehen könnte, in welches Jahr, an welchen Tag ich mich bringen lassen würde.

Ich habe das Gefühl, dass in dieser derzeitigen bizarren Zeit mein Gedächtnis aktiver ist als sonst. Ich träume von längst vergangenen Begebenheiten, weil ich mir aktuell keine unverkrampften Tage vorstellen kann. Wie schön, dass diese Erinnerungen mich in eine unbekümmerte Zeit versetzen.

Bestimmt wären es die Sommer und die großen Ferien in meiner Kindheit, die mir unendlich lang vorkamen und die ich auf einem Bauernhof in der Nähe von meiner Geburtsstadt Göttingen verbrachte. 6 Wochen Freiheit, 6 Wochen draußen, in denen ich mich treiben ließ. Wenn ein sanfter Wind warm und weich einem Streicheln gleich sich in meinen Haaren verfing, die Getreidefelder und die Mohnblumen am Wegesrand behutsam tanzen ließ, war er da, der Sommer meiner Kindheit. Jeder Tag ein Abenteuer. Mit anderen Kindern am Ufer eines Baches sitzen, mit nackten Füßen im Wasser planschen oder ein aus kleinen Ästen gebautes Floß darauf auf die Reise schicken. Wenn mal ein Regenschauer niederprasselte, hörte man das Klatschen der dicht fallenden Tropfen auf dem Laub und auf dem Asphalt der Straße bildeten sich winzig kleine Regen-Vulkane. Ich habe den Duft des nassen Laubes noch heute in der Nase. Mein Blick hing wie gebannt an dem farbenprächtigen Regenbogen der sich nach einem gewittrigen Regenschauer über das Land spannte. Ich denke mit großer Genugtuung an die Momente, in denen ich unbekümmert, mehr oder weniger planlos die Tage verbrachte und das Leben genoss. Mir kommt dann diese Zeit wie eine echte Supersorgloszeit vor.

Einige von uns würden sicher in das Jahr reisen, in dem sie den ersten Kuss auf einer der Jugendfeten bekamen. Den allerersten Kuss im Rausch des Verliebt seins vergisst man nicht. Vorsichtig, zärtlich, liebevoll – später etwas forscher, fordernder, leidenschaftlicher. Auch so ein unbeschreiblicher Moment.

Vielleicht tauchen vergleichbare Bilder wie bei mir auch in Ihrem Kopfkino auf. Bilder von dem Moment in der Disco, wo man sich bei gedämpftem Licht z.B. zu den Schmuseklängen von Peter Maffay`s „DU“ (…in deinen Augen steht so vieles, was mir sagt, Du fühlst genau so wie ich, Du bist das Mädchen, das zu mir gehört… ) an seinen Schwarm schmiegte, unbeholfen auf der Stelle hin- und her trat und schließlich wie durch Magie, beide wussten, dass der Moment gekommen war, Wange an Wange zu tanzen.

Vermutlich werden Sie darüber ein wenig schmunzeln, evtl. überdies sogar lachen, aber auch heute noch kriecht mir bei den ersten Takten dieses Liedes eine Gänsehaut über den Rücken.

Mit dem ersten selbst verdienten Geld bummeln gehen. Sich endlich Dinge leisten zu können, von denen man geträumt hatte. Im Kino mit weit aufgerissenen Augen den „Sandalenklassiker“ Ben Hur mit Charlton Heston oder den James Bond Film „Goldfinger“ mit Sean Connery noch einmal auf einer Großleinwand verfolgen.

Ich sehe mich in dem kleinen Plattenladen, den es heute nicht mehr gibt, stehen und einen Stapel Langspielplatten auf den Tresen legen, damit der Inhaber des Ladens sie mich mit Kopfhörern anhören ließ.

Gänsehaut bekomme ich, wenn meine Gedanken mich in die Zeit zurückversetzen, in der ich mit meiner Liebsten in einem VW-Käfer nach Paris gefahren bin. Wieder eintauchen in die Gemütsbewegung, die wir damals in uns spürten, als wir diese Stadt als blutjunge Menschen erleben durften. Ich will die magischen Abende an den Quais der Seine, an die dort sitzenden Clochards, die sich ihre Mahlzeit mit den neben ihnen liegenden Hunden teilten, das Lied von Michel Polnareff „La Poupee qui fait non“ (Meine Puppe sagt Nein), oder das Lied von Francois Hardy „L´amour d´un garcon“ (Die Liebe eines Jungen), wieder und wieder durchleben. Ich sehe, wie wir es uns zu vorgerückter Zeit in unserem einfachen Hotelzimmer auf dem Bett bequem machten. Im Supermarkt an der Ecke hatten wir uns Käse, typische lufttrockne französische Wurst und eine Flasche billigen Rotwein besorgt. „Bonne appetit“, wünschte uns die Verkäuferin, als sie bemerkte, was wir eingekauft hatten und reichte uns das noch warme Brot, dessen Kruste verheißungsvoll durch das Papier knackte. Jetzt hatten wir alles für ein Abendessen zu zweit in unserem kleinen intimen Reich in der Stadt der Liebe. Im letzten Licht der Sonne, das unser Zimmer flutete, lebten wir in dem kleinen Raum unseren Traum. Ich weiß noch genau wie es war an diesem Tag. Wir bauten Luftschlösser, malten Bilder von dem Leben, welches wir uns bauen wollten. Der Horizont war unser Ziel. Es war eine sorglose und es war eine glückliche Zeit.

Noch heute überfällt mich ein Gefühls-Tsunami bei der Erinnerung an diese Zeit. Geblieben sind in meinem Gedächtnis unauslöschbare Stunden, die ich, wie schon der Schriftsteller Ernest Hemingway sagte: ………... für den Rest meines Lebens in mir trage, wohin ich auch gehen mag.

Erinnern wir uns nicht alle gern an den unbeschreiblichen Moment und möchten noch einmal dieses Gefühl spüren, als die Freundschaft zu dem Mädchen, das man liebte und zu einem gehörte, sagte: „Ja, ich will“.

Mit Leuten noch einmal die warmen Sommerabende genießen, die uns viel zu früh verlassen haben oder mit der jüngeren Ausgabe unserer Mütter oder Väter reden, um sie danach zu fragen, wie sie diese Zeit mit uns erlebt haben. Und wir könnten ihnen dann endlich für die Supersorgloszeit danken, die sie uns als Kinder ermöglicht haben.

Das Spektrum meiner Rückbesinnung und Wünsche wechselt unaufhörlich, hängt oft von der augenblicklichen Gemütsstimmung ab und ist weit mehr als vorher beschrieben. Aber ich denke, es sind eben nicht die fulminanten Abläufe, die großen Begebenheiten des Lebens, eher sind es mehr oder weniger die kleinen, fast unscheinbaren Momente und Augenblicke, die mich dann befallen und an die ich mich von Zeit zu Zeit gern zurückerinnere.

Wenn ich sehe, was heute so jeden Tag auf unserem Planeten vonstattengeht, bin ich beunruhigt, komme ins grübeln und habe Sorge über das, was alles noch passieren kann/ - wird. Ich stelle mir oft die Frage, ob man die Dinge, die einen belasten, Sorgen machen, einfach abstreifen oder ausblenden kann?

Ich vermisse die alte Zeit. Das wird man doch einmal sagen dürfen in unserer modernen, hektisch erregten Zeit.

Sicher gehöre ich nicht zu der Gruppe Menschen, die glauben, dass das Beste hinter uns liegt und dass die Zukunft nichts Gutes in petto hätte.

Sperren wir den Idealismus, der uns über Jahre begleitete, nicht ein, sondern geben ihm weiterhin die Möglichkeit einer Weiterentwicklung.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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