„Der Keller“ erschien als zweiter Band der sogenannten „autobiografischen Romane“ und ist unter diesen fünf der unspektakulärste, am unbekanntesten gebliebene und wahrscheinlich auch der unbedeutendste.
„Die Ursache“, der nach dem Erscheinungsdatum erste Band dieser Reihe, stellte uns Thomas Bernhard als Schüler in einem katholischen Gymnasium kurz vor Kriegsende vor.
Bis zum „Keller“ ist aus „dem Kind“ (der gleichnamige Band, mit dem die Reihe gemäß der Ereignisabfolge eigentlich hätte beginnen müssen, bildete als fünftes Buch erst ihren Abschluss) ein junger Mann geworden, nämlich ein Sechzehnjähriger, der zu Beginn der Handlung seine Schulausbildung abbricht. Bernhard zählte zu den - eher wenigen - erfolgreichen Schriftstellern, die kein Abitur gemacht haben. Zu Hause vom Großvater früh zum Künstler gedrillt, fand er sich in der Schule stets fehl am Platz, konnte als Begabter schließlich aber doch noch studieren. Am Salzburger Mozarteum erlernte er Musikdramaturgie, ein Regisseur hätte aus ihm werden können. Doch davon ist er im Keller weit weg. Dort fängt er als Auszubildender im Einzelhandel an, in einem kleinen Lebensmittelgeschäft.
Charakteristisch für Bernhards Naturell und vor allem für seine unentwegte Selbststilisierung zum sozial-inadäquaten Eigenbrötler ist das Eingangsmotiv von der Laufrichtungsumkehr. Ich bin, behauptet er, viel zu lange in die eine Richtung gegangen, auf die höhere Schule, in die Domstadt hinein, zum katholischen Bildungsbürgertum hin, dann eines Tages, wie aus einer grantigen Stimmung heraus, in Wahrheit aber als Geste meiner generellen Verweigerung, bin ich in die entgegengesetzte Richtung gegangen, aus der Innenstadt hinaus, als Schulflüchtling in eine Kaufmannslehre hinein, zu den proletarischen Menschen vom Rand der Stadt, in die (damals noch recht neue) Scherzhauserfeldsiedlung. (Beziehungsweise, so genau nimmt er es dann doch noch: zuerst einmal aufs Arbeitsamt, wo sie mir diese Arbeitsmöglichkeit herausgesucht, aber davon abgeraten hatten.)
Nach dem Krieg herrschte überall Wohnungsnot. Zu dem im Norden Salzburgs links der Salzach gelegenen Stadtteil Lehen gehörte das Viertel Scherzhausen und dann wurde, von der übrigen Stadt seinerzeit noch durch offenes Feld getrennt, eine Siedlung mit Einfachwohnungen errichtet, die Scherzhauserfeldsiedlung. In einem dieser großen Blöcke lag die Kolonialwarenhandlung des Karl Podlaha und zwar nicht ebenerdig, sondern im Souterrain, von außen über eine kleine Treppe zu erreichen, wie ein Fahrradkeller. Hier haben wir also den Keller und darin Thomas Bernhards erster Chef und zweiter Mentor (nach seinem Großvater), Karl Podlaha hieß der Mann. Die Straße vorm Haus heißt heute Thomas-Bernhard-Straße. Die Häuser sind längst erneuert worden und den Kellerladen gibt es nicht mehr.
Wie wir es gewohnt sind vom Autor Bernhard ist auch hier alles strikt und dramatisch entweder schwarz oder weiß. Dass es sich bei den Menschen in der Scherzhauserfeldsiedlung großenteils um Asoziale, gestrandete Abenteurer und Hinfällige gehandelt hätte, vergisst er ebenso wenig zu betonen wie die Außerordentlichkeit dieses Karl Podlaha, der unter der Hand zu einem der Bernhard'schen Lebensführungsgenies ernannt wird. Bekanntlich hat er von älteren Männern und vor allem von frauen- und kinderlosen „Philosophen“ stets am meisten gelernt bzw. profitiert.
Karl Podlaha, erzählt Bernhard, sei ein heimatloser Wiener von gewichtigem musikalischen Verstand gewesen. In jüngeren Jahren habe er Projekte verfolgt, wie man sie einem Vorstadtkrämer überhaupt nicht zutraue, wäre allerdings auf ganzer Linie gescheitert, wodurch er allerdings eben seine Reife und geistige Klarheit erreicht hätte, die man solchen Menschen nur nie zugestehen wolle.
Unhaltbar wären hingegen die Zustände bei dem Jungen Thomas daheim gewesen, bei den „Seinigen“. Das Wort Familie wie auch die exakte Benennung der verschiedenen Verwandtschaftsgrade umschifft der Autor hartnäckig. Neun Personen hätten sich drei Zimmer geteilt, wobei eines dem Großvater allein vorbehalten gewesen sei. Bernhards Mutter war zu dieser Zeit mit einem Mann anderen Namens verheiratet. Dass es zwei kleinere Stiefgeschwister gab, einen Bruder, eine Schwester, lässt er aus dem Roman draußen. Des Weiteren lebten ein Onkel und dessen Frau bei ihnen. Verhältnisse, die der dem Großvater freundschaftlich verbundene Schriftsteller Carl Zuckmayer, als er Thomas später als Journalist ans Salzburger Volksblatt vermittelte, als äußerst ärmlich und beengt bezeichnete.
Der Laden und die Männerfreundschaft mit dem Sonderling werden zu Zonen des Aufatmens für den blonden Schlaks. Herr Podlaha habe seinen Kunden wieder und wieder die Möglichkeit, anschreiben zu lassen, eingeräumt, ja, am Ende habe er die Schulden oft sogar verschwinden lassen. Doch gerade damit habe er sich das wirtschaftliche Überleben gesichert. Sein Konkurrent hätte solches Interesse für die Nöte der Kundschaft und so eine Flexibilität nie aufgebracht, darum seien immer mehr Kunden in Podlahas Keller gekommen.
Es ist eine dieser Anekdoten, von denen Bernhards Mein-Leben-Erzählungen übersprudeln. Sie lesen sich süffig weg und man würde gerne glauben, dass die Welt nahe der Alpen wirklich mal so war. Aber man kommt, wenn man mit Bernhard doch ein paar Jahre Umgang hatte, nicht umhin, ihn als fortwährenden Schwindler, Aufschneider und Trickser zu sehen. Egal, wir hätten uns nie einen Roman über eine österreichische Stadtrandsiedlung gekauft. Es ist ein hübsches Buch!
Peter Handke, später wohnte auch er für einige Jahre in Salzburg, allerdings erhabener, Peter Handke hat, nachdem er sich von Bernhards Gefolgsmann in dessen Gegner gewandelt hatte, bemängelt, dass Bernhards Erzählstil alles immer im Bausch und Bogen erfasst, vor den Leser hinklotzt, statt sich je die Mühe aufzuerlegen, die Erscheinungen in ihren Details genau zu beschreiben. Wenn man diese Kritik auf den Keller anwendet, sticht sie auch wieder. Man hätte aufzählen können, wie der Laden im Einzelnen aussah, was es Wunderbares zu kaufen oder leider nicht zu kaufen gab. Man hätte einige Exemplarische von den abenteuerlichen und geplagten Kunden beschreiben können. Wie waren ihre Gesichter, wie ihre Sprache, wie waren sie gekleidet, wie verlebten sie die Stunden ihrer Tage? Aber der dokumentierende Kamerablick ist Thomas Bernhard immer fremd gewesen. Schließlich hatte er als Lyriker in der Stimmlage heroischer Archaik des Alpenraums begonnen. Dann schreibt man also nur: der Gescheiterte – und wir alle wissen, was gemeint ist. Entgegen der eigentlichen Konzeption von „Der Keller“, es sei ein Buch der Weltaufschließung, der Ermächtigung zum autonomen Leben, gibt es recht wenig Welt in dem Buch.
Was es allerdings in Hülle und Fülle gibt, ist Thomas Bernhards unverwechselbare Sprachkunst. Dieses wieder und wieder und immer neu und dabei etwas anders Sagen des einmal Postulierten. Das Musizieren mit Wörtern, deren engerer Sinngehalt letztlich dann aber eine Komödie der Virtuosität bleibt. (Nur oder immerhin.)
Von Johann Sebastian Bach kann man lesen, als Organist habe er mit einem kleinen Vorspiel vor dem Einsatz des Kirchenchors begonnen, sich ins Durchspielen seiner musikalischen Ideen dann aber so verliebt, dass die Leute wütend wurden, wieso spielt der dort oben immer weiter, wieso lässt er nicht den Chor mal singen.
Man halte noch fest, was ich an anderer Stelle schon sagte: Real existiert habende Personen treten in Bernhards Schriften erst dann auf, wenn sie sich gegen Thomas Bernhards Nacherfindungen nicht länger zur Wehr setzen können. So wie hier Podlaha. Jener auf Rosen gebettete Avantgardekomponist mit dem Kultur-Landgut in Kärnten war eher der Sonderfall. Allerdings konnte nach „Holzfällen“, auf das hier angespielt wird, die darin vielfach erwähnte „Joana“ sich auch nicht mehr melden und hatte keine Selbstzeugnisse hinterlassen, die die Welt dann noch mal genauer studiert hätte. Im „Keller“ kommen außer Bernhard und Podlaha überhaupt keine Scherzhauserfeldsiedlung-Menschen mit ihren Personennamen vor. Eine entsprechend individuelle Rolle dürfen sie nicht spielen. So jedenfalls, gleichermaßen pauschalisierend wie ergötzlich zu lesen, war ihre Freizeit:
Und was ist andererseits fürchterlicher als ein Samstagnachmittagsspaziergang, als Verwandten- oder Bekanntenbesuch, auf welchem die Neugierde befriedigt und das verwandtschaftliche oder bekanntschaftliche Verhältnis zerstört wird. Und lesen die Leute, quälen sie sich in Wirklichkeit mit einer selbstauferlegten Strafe ab, und nichts ist lächerlicher als Sport, dies beliebteste Alibi für die vollkommene Sinnlosigkeit des einzelnen Menschen. Das Wochenende ist der Totschlag an jedem einzelnen und der Tod jeder Familie.
Der Keller. Eine Entziehung, (1976), 160 Seiten, diverse Ausgaben, z.B. dtv-Taschenbuch, 10 €; Lesung mit Peter Simonischek, 3 1/2Stunden, Der Audio Verlag, mp3-CD, 15 €
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.07.2022.
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