Wolfgang Hoor

Unsichtbar

Unsichtbar

Gestern war Max von seiner großen Australienreise nach Hause gekommen. Er hatte sich auf die Kinder gefreut. Aber die Kinder durfte er nicht sehen. Sie schliefen und sollten weiter schlafen. In seinem Arbeitszimmer hatte sich der Referendar Dr. Eckert ausgebreitet. Den hatte Iris zu dem großen Konzert der Thomaner im Mariendom eingeladen. Max hatte ein Notbett im Hobbyraum benutzen müssen.

Als Max am nächsten Morgen ins Wohnzimmer kam, saß Dr. Eckert, den Iris Otfried nannte, schon im Sofa und Iris tauschte sich mit ihm über theologische Fragen aus. Endlich waren auch die Kinder wach. Sie hingen lange an Max‘ Hals und dann saß er mit ihnen auf dem Boden und sie bauten mit Klötzchen einen Weg nach Australien. Es dauerte nicht lange, da schellte es und die Kinderfrau kam und überschüttete die Kinder mit Küssen und Süßigkeiten und nahm sie mit in die Küche.

Max war da, ohne da zu sein.

Vor dem Eingang in die Kirche drängten sich die Leute. Durch die geöffneten Türen drang Orgelmusik. Iris hatte Otfried unter den Arm genommen. Sie wollten sich nicht verlieren. Max hatte sie aus dem Blick verloren. Er wurde zur Seite gedrängt, und da saß der Bettler, der immer da saß. Man hörte ärgerliche Rufe, er solle hier weggehen, er versperre den Leuten den Weg, und dann kam auch ein Kirchendiener und forderte ihn auf zu gehen. Max stellte sich vor den Bettler und zückte seinen Geldbeutel. „Bin froh, dass ich dich wieder sehe“, sagte Max, und der Bettler sagte: „Da bist du ja wieder. Habe dich lange nicht gesehen.“

Max war angekommen.

Endlich drängten die letzten in die Kirche. Der Kirchendiener schloss die Tür und ließ niemand mehr hinein. „Konzert!“, sagte er zu Touristen. „Nach dem Konzert können Sie hinein.“ Max sah dem Kirchendiener zu, der übersah ihn, und so setzte sich Max zu dem Bettler. Der Stein der Stufe, auf der sie saßen, war kalt. Max war jetzt so unsichtbar wieder Bettler.

Merkwürdig, dachte Max, das fiel ihm erst jetzt auf, wo er den Bettler genauer betrachtete. Der sah gepflegt aus, hatte helle schöne Zähne und viel weniger Falten im Gesicht, als er es in Erinnerung hatte. War das wirklich der Bettler, dem er immer ein paar Geldstücke gegeben hatte?

„Ich heiße übrigens Odysseus“, sagte der Bettler.

Max erinnerte sich an die Lektüre der Odyssee in der Schule, damals, im Griechischunterricht. Ja, in der Tat, Odysseus war, als Bettler verkleidet, in sein Haus zurückgekommen, war nicht erkannte worden und hatte alle, die sich bei ihm in seinem Haus hatten einnisten wollen, erschossen oder totgeschlagen.

„Odysseus lässt sich nichts gefallen!“, sagte der Bettler.

Und dann sagte er: „Wenn du möchtest, schlagen wir den Dr. Eckbert tot. Er macht sich bei dir breit wie seinerzeit die Freier bei Penelope. “ Max war eigentlich ein geduldiger Mensch, der nie einer Fliege hätte was zu Leide tun können, aber was der Bettler sagte, putschte ihn auf. Plötzlich sah er es ganz klar vor Augen: Es war gut, dass er so unsichtbar wie der Bettler war. Nur so konnte er reinen Tisch machen.

Der Gesang der Thomaner drang wie ein leichtes Säuseln nach draußen. Die Sirenen, dachte Max. Sie hören und doch nicht sterben! Er war in Gedanken auf seine zweite Weltreise gegangen. „Ich sorge dafür, dass er am Abend hier vorbeikommt“, sagte er zu dem Bettler. „Und ich bin, wie du weißt, 3000 Jahre alt. Ich kehre so in meine alte Heimat zurück, wie du aus Australien zurückgekehrt bist.“

Am nächsten Abend wurde Dr. Eckbert auf den Stufen vor dem Mariendom tot aufgefunden. Er war allein mit Fäusten erschlagen worden, ermittelte die Polizei. Der Mörder musste übermenschliche Kräfte gehabt haben. Man verdächtigte Max, weil sich herumgesprochen hatte, dass seine Frau ihn betrog. Aber er hatte ein Alibi. Zur Tatzeit war er zu Hause und baute mit seinen Kindern einen Weg nach Australien und war wie immer friedlich und körperlich eher unterdurchschnittlich entwickelt. Er kam als Mörder nicht in Frage.

Der Bettler hätte es gewesen sein können, sagte die Polizei, warum wäre er sonst so plötzlich verschwunden gewesen? Aber die gewaltigen mörderischen Kräften passten nicht zu ihm. Man suchte nicht sehr intensiv nach ihm. Keiner hat nach der Ermordung von Otfried den Bettler je wiedergesehen.

Iris trauerte lange um ihren Otfried. Sie baute zu allen Menschen, die Otfried gekannt hatten, Beziehungen auf, und allmählich kam er bei ihr in den Ruf eines Sehers und Heiligen und vielleicht sogar eines Märtyrers. Dass er für seinen Glauben hatte sterben müssen, das war die einzig mögliche Erklärung für die mörderische Tat. Sie, Iris, hatte sich nichts vorzuwerfen.

Max blieb geduldig, spielte aber seit einiger Zeit mit den Kindern Griechenlandreise. Und die Kinder ließen sich gerne von Odysseus erzählen, dem tapferen Helden, den nicht seine Fäuste, sondern seine Klugheit unsterblich gemacht hatte und der ganz allein der Welt getrotzt hatte.

Max war inzwischen ganz froh darüber, dass er manchmal unsichtbar war. Das war nicht nur ein Mangel, hatte ihm der Bettler beigebracht.

Übersehen zu werden heißt ja keineswegs, nicht da zu sein und nicht mehr mitzuspielen.

 

Australien

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.07.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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