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Der nächste Morgen begrüßte uns mit einem diesigen Frühnebel. Ich streckte meine von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit mitgenommenen Glieder, dankte im Stillen der Göttin der in finsterer Nacht vom Weg Abgekommenen dafür, dass wir keinen Besuch bekommen hatten und sah mich nach meinen Gefährten um. Gorgos saß mit baumelnden Füßen am Brückenrand und spähte den unbekannten Fluss hinauf. In der Hand hielt er ein Stück Dörrfleisch. Mikesch konnte ich nicht entdecken.
„Wo ist denn das Fellbündel?“, fragte ich den stoisch kauenden Troll. Statt einer Antwort wies Gorgus nur mit dem Dörrfleisch nach oben. Tatsächlich balancierte Mikesch hoch über unseren Köpfen auf einem schmalen Verbindungssteg. Die Art und Weise, wie der Kater dabei immer wieder nach Norden spähte ließ den Schluss zu, dass er dort etwas Interessantes entdeckt hatte. Vermutlich etwas, das mich wieder in Schwierigkeiten bringen würde.
„Kater Schild entschlüsselt“, klärte Gorgus mich auf, was mich allerdings nicht weiter brachte.
„Schön“, erwiderte ich mit einer Gelassenheit, die ich bei weitem nicht empfand. "Dann können wir ja aufbrechen. Hat jemand eine Ahnung wohin?“
„Jau!“, ertönte es neben mir, als der Kater mit einem eleganten Satz neben mir landete. Ich zuckte erschrocken zusammen und wunderte mich jedesmal auf's neue, wie Mikesch Sprünge aus so großer Höhe unbeschadet überstehen konnte. Sollte ich das probieren, würde ich vermutlich eine sehr ruhige, zweimeterfünfzig tiefe Bleibe beziehen müssen.
„Staudamm steht für Staudamm“, miaute der Kater vergnügt, wobei er meine Verärgerung völlig überging.
„Aha“, brachte ich weise hervor, keine Ahnung habend, was der Kater meinte.
Der Troll schien meine Unwissenheit zu erahnen.
„Das wie Burgwand für Wasser sagt Kater“, erläuterte er mir mit mangels zur Verfügung stehendem Zeigefinger mit erhobenem Dörrfleisch, womit ich mir endgültig wie Kudu der Bekloppte vorkam. Jeder in dieser Gruppe schien mehr zu wissen als ich.
„Und liegt direkt im Norden“, ergänzte der Kater, womit das nächste Ziel unserer Etappe festzustehen schien. „Brauchst bloß das Schild anzusehen.“
„Klasse, und was sollen wir an diesem Staudamm machen?“
„Hast du schon mal einen gesehen?“, fragte der Kater mit einer Gegenfrage.
Ich verneinte.
„Oder hat irgend jemand in diesem Land schon mal etwas von einem Staudamm gehört?“
Erneutes Verneinen.
Allmählich begann mich mein informatives Defizit zu ärgern.
„Fragst du dich dann gar nicht, was so ein Teil hier macht?“
Das war, wie ich zugeben mußte, eine gute Frage.
„Wir sind im hohen Norden. Das ist finsteres Niemandsland wo alles möglich ist. Hier verschwinden die Bewohner ganzer Dörfer über Nacht. Deswegen sind wir hier. Da kann man doch auch mal auf einen Staudamm stoßen“, erklärte ich düster im Brustton der Überzeugung. „Woher weißt du überhaupt, dass die Buchstaben nicht für etwas anderes stehen, etwa für Stammkneipe?“
Mikesch sprang lässig auf das rostige Geländer und angelte mit der Pfote erfolglos nach dem Dörrfleisch des Trolls.
„Von da oben hat man einen guten Ausblick“, maunzte er herablassend. „Etwas Gewaltiges kann man flussaufwärts im Dunst gerade noch so erkennen. Wäre ne ziemlich große Stammkneipe. Ich wette ne Dose drauf, dass ich Recht habe. Kannst ja hochklettern und dir selber ne Meinung bilden.“
„Ich denke, wir sollten keine weitere Zeit verschwenden“, bog ich das Selbstmordansinnen ab und ignorierte das feixende Grinsen des Katers. Ich mußte zugeben, dass ich selber neugierig war, auf das, was wir hier gestoßen waren. Zwar konnte ich mich mit der Zeitreisetheorie des Katers nicht so recht anfreunden, auf der anderen Seite waren die Brücke und das Schild mehr als befremdlich.
Da weitere Spekualtionen müßig waren, packten wir unsere sieben Sachen und machten uns auf den Weg ins Ungewisse, der Kater vorneweg.
„Nun denn, Ponce de Leon, mein wackerer Konquistador, lasst uns die Quelle der ewigen Jugend suchen“, maunzte Mikesch unternehmenslustig und völlig unverständlich. Dann tauchte der Kater in den Wald ein.
„Manchmal Kater seltsam“, stellte Gorgus trocken fest und bewies damit ein gesundes Maß an Einschätzungsvermögen.
„Du hast keine Vorstellung“, seufzte ich.
Der gut erhaltende Brückenbelag löste sich nach wenigen Schritten im dichten Wald in Wohlgefallen auf. Was möglicherweise vor hunderten von Jahren eine gut ausgebaute Straße war, bildete nunmehr noch nicht mal mehr einen schmalen Wildpfad. Immer wieder mussten wir absteigen und die Pferde am Zügel hinter uns her führen. Mitunter endete der Weg vor einer grünen Barriere, als wolle die Natur uns davon abhalten, unser Ziel zu erreichen. Nur dank Gorgus unverwüstlicher Statur durchbrachen wir das dichte Unterholz an diesen Stellen wie ein gut gerüsteter Streitwagen eine Horde mit Holzknüppeln bewaffneter Bauernlümmel. Mikesch konnte es sich bei diesen Gelegenheiten nicht verkneifen zu bemerken, dass der Troll ein echtes Problem für jedes intakte Ökosystem wäre, würde man ihn im Wald aussetzen.
Da war was dran, wie ich einräumen musste. Ein Großteil der Vegetation hatte zwischenzeitlich seinen Standort gewechselt, so dass insbesondere der Troll an die ungepflegten, wild wuchernden Pflanzkübel in Ignaz Gemüsegarten erinnerte. So hatte ich mir unser Abenteuer nicht vorgestellt. Nur der Kater schien Spaß zu haben. Er beglückwünschte mich leutseelig, dass es mir gelungen war, einige Brombeerranken nebst Früchten zum Abendbrot mitzunehmen.
"Obst ist gesund", feixte er fröhlich.
Natürlich war es Mikesch mal wieder gelungen, nahezu unbeschädigt zu bleiben. Aber das kannte ich ja schon von unseren anderen Abenteuern. Ich seufzte und versuchte mich abzulenken, indem ich links und rechts im dichten Wald Hinweise auf eine untergegangene Zivilisation zu erhaschen hoffte, doch alles was ich zu sehen bekam, war sehr viel Grün. Die dicht wachsenden Bäume waren gelegentlich unterbrochen von sehr großen, grün bewachsenen Hügeln, unter denen sich alles mögliche hätte befinden können. Gerne hätte ich das einmal näher untersucht, doch meine innere Stimme riet mir, davon die Finger zu lassen. Wer wußte schon wen oder was ich in einem möglicherweise überwachsenen Gebäude bei so einer Aktion wecken würde?
Also kämpften wir uns weiter voran auf dem Weg zu dem seltsamen Staudamm.
Als Orientierung diente uns das Rauschen des Flusses, das rechts von uns durch den dichten Wald aus der tiefer werdenden Schlucht herauf drang. Wenn wir ihm lange genug folgen würden, kämen wir irgendwann ans Ziel. Wir mußten nur Geduld haben.
Ich war vom steilen Anstieg nass geschwitzt als sich endlich gegen Mittag der allgegenwärtige dichte Wald zu lichten begann. Der Boden unter meine Füßen begann sich wieder fester zu fühlen, so, als ob sich unter dem Moos etwas Hartes verbarg. Und ein neues Geräusch war in er letzten halben Stunde zunehmend angeschwollen und toste jetzt atemberaubend.
Das Geräusch eines gigantischen Wasserfalls.
Die Bäume wichen nach und nach mit Unkraut überwucherten Geröllhaufen, Überresten von Gebäuden vielleicht, die hier einst gestanden hatten. Das Ganze war so aufregend, dass mein Herz zu klopfen begann. Etwas unziemlich für einen würdevollen Magier, aber nicht zu ändern. Noch verdeckte dichtes Buschwerk den Blick auf unser Ziel, doch der Boden unter unseren Füßen ähnelte nun dem der Brücke. Schließlich wich der Wald ganz zurück und wir betraten ein riesiges Areal, auf dem Finsterburg mehrfach Platz gefunden hätte. An vielen Stellen hatte die Natur sich ihr Reich zurück erobert. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass dies eine ehemals gewaltige, künstlich angelegte Fläche war.
Nur welchen Zweck mochte sie gedient haben?
„Parkplatz“, maunzte Mikesch, als hätte er meine Frage geahnt.
„Für einen Park ist hier tatsächlich viel Platz“, mußte ich dem Kater zustimmen, der daraufhin miaute. Das kannte ich schon von ihm.
„An dir ist die Evolution spurlos vorbeigegangen“, klagte er.
Ich war nicht sicher, ob ich darüber glücklich sein sollte oder etwas verpasst hatte. Vorsichtshalber sah ich mich um, doch von der Evolution war nichts zu sehen. Nur Gorgus trabte schweigend hinter uns her.
„An dir ist sie auch nicht vorbeí gekommen?“, fragte ich vorsichtig nach, was umgehend verneint wurde und zu einem weiteren klagenden Miauen führte. Vermutlich würde ich den Kater nie verstehen.
Wir überquerten, befreit von unseren anhänglichen Pflanzenfreunden, die riesige Fläche, pflockten unsere Pferde auf der anderen Seite an ein paar handfesten Wurzeln an und zwängten uns dann zu Fuß unter Mikesch' Führung und mit Gorgus Hilfe erneut durch ein unglaublich dichtes Buschwerk, bis wir plötzlich an einer Abbruchkante im Freien standen und sprachlos unser Ziel anstarrten.
„Staudamm, habe ich doch gesagt!“, maunzte Mikesch zufrieden.
Ich war zu keiner Antwort fähig.
Unter uns erstreckte sich in einem perfekten Rundbogen zwischen den beiden Bergflanken das gewaltigste Bauwerk, das ich mir hätte vorstellen können, geschweige denn gesehen hatte.
Riesen mußten hier am Werk gewesen sein.
Allein beim Hinuntersehen zum Fuß der gigantischen Mauer wurde mir schwindelig. Wahrscheinlich hatte man beim Runterfallen genug Zeit, Gorgus sämtliche Verhaltensmaßregeln für den Wachgang hinunterzubeten bis man unten ankam. Lediglich in der Mitte der gigantischen Mauer hatte der Zahn der Zeit ein gutes Stück rausgebissen, durch das jetzt der größte Wasserfall in die Tiefe stürzte von dem die Menschheit je gehört hatte.
Irgendwie erinnerte mich das geschädigte Bauwerk an den beklagenswerten Zustand meiner Behausung.
„Warum... ich meine wozu ….. was zum Henker ist das?“, war das einzige, was ich bei diesem einschüchternden Anblick herausbringen konnte.
„Staudamm“, erklärte Gorgus treuherzig. „Kater Recht.“
Ich knirschte mit den Zähnen.
„Ich meinte...“
„..wozu er gedient hat“, fiel mir der Kater ins Wort.
Ich nickte und kam mir vor wie Kudu der Bekloppte.
„Energiegewinnung durch Wasserkraftturbinen. Ökologisch 1a, hat aber auch Nachteile, insbesondere in China, die machen da für ihren Damm ne Menge platt“, erklärte der Kater, als sei das das Natürlichste der Welt.
Mir kreiste der Hut.
„Sieh dir den Wasserfall an. Auf der anderen Seite steht das Wasser wie ein See genauso hoch und wird vermutlich von einem Fluss und Schmelzwasser im Frühling gespeist", doziierte Mikesch weiter, worauf mir schlecht wurde. Die Vorstellung, welche gewaltige Wasserwand die Schlucht hinunter rauschen würde, sollte der Damm je brechen, sprengte meine Vorstellungskraft. Warum baute man so etwas Gefährliches?
„Die Hängebrücke über dem Wasserfall gehörte aber bestimmt nicht zu den Bauplänen“, merkte der Kater ergänzend an.
Ich stutzte.
Endlich etwas, mit dem ich etwas anfangen konnte.
„Hängebrücke?“, echote ich und strengte mich an, in dem aufsteigenden Dunst über dem Wasserfall Details zu entdecken. Tatsächlich schien dort etwas Klapperiges zu hängen, das selbst ich als Bauteil fremd erkennen konnte.
„Wir nicht darüber“, wehrte Gorgus ab, dem Schlimmes schwante.
„Die ist stabil, wenn man bedenkt, wieviele seltsame Figuren darüber gerade im Anmarsch sind.“
Der Kater hatte Recht, wie ich feststellen mußte. Aber nicht nur die Hängebrücke auch die gesamte Stauwand war plötzlich voller Leben, als würden sich überall geheime Türen öffnen und finstere Kreaturen ins Freie spucken. Das Ziel dieser Aktivitäten war nicht schwer zu erraten.
„Wir sollten abhauen“, stellte ich mit einem Anflug von Panik fest.
„Besser ist das“, stimmte Gorgus mir zu, allerdings schien es dafür schon zu spät.
Wird fortgesetzt.....
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Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.08.2022.
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