René Oberholzer

Nordwärts, südwärts

18.23 Uhr

Ein Auto touchiert eine Felswand, kommt auf die Gegenfahrbahn, stürzt von der Strasse. Ein entgegenkommendes Auto kann gerade noch abbremsen. Ein Mann steigt aus, seine Frau und die beiden Töchter bleiben im Auto. Der Mann schaut den Abgrund hinunter, vom Auto fehlt jede Spur.

18.25 Uhr

Über sein iPhone ruft er die Polizei an. Holt sein Pannendreieck hervor, stellt es 100 Meter weiter hinten auf. Mittlerweile sind seine Frau und die beiden Kinder ausgestiegen. Sie sind fassungslos. «Schau mal, wie es da hinuntergeht!», sagt eine der beiden Töchter.

18.27 Uhr

Der Mann lotst die Autos auf einer Spur an seinem Auto vorbei. Seine Frau und die Kinder stehen abseits, die Arme verschränkt. Sie stehen unter Schock.

18.47 Uhr

Die Polizei trifft am Unfallort ein, sperrt den Verkehr in beide Richtungen ab, Umfahrungen werden auf unbestimmte Zeit eingeleitet.

18.55 Uhr

Polizist befragt den Mann und noch 2 weitere Augenzeugen. Ein anderer Polizist findet eine Lackspur am gegenüberliegenden Felsen und Reifenspuren diagonal zur Strasse. Zeichnet gelbe Zeichen ein. Das Geländer ist stark verbogen. «Die hätten hier schon längst eine Leitplanke anbringen sollen», meint der Polizist.

18.15 Uhr, 40 Minuten früher

Der andere Mann hinter dem Steuerrad des Unfallautos ist müde. Er ist am Vortag der Rückreise spät ins Bett gegangen. Packen bis ins letzte Detail und dann noch gefeiert. Und heute Morgen sehr früh abgefahren. Seine Frau fragt, ob er an der nächsten Raststätte hinausfahren könne, sie könnten dort kurz austreten und etwas essen. Der Mann sagt, er wolle zuerst noch am See vorbeifahren und dann bei der nächsten Raststätte eine Pause machen.

18.20 Uhr

Der Mann ist müde. Seine Augen werden schwer. Seit 10 Stunden und 3 Pausen ist er mit seiner Frau und den 2 Söhnen unterwegs. Im Radio läuft «The Final Countdown».

18.21 Uhr

Der Mann fährt den See entlang. Wunderbare Sicht, wunderbares Wetter. Blau-grün gefärbtes Wasser. Sonnenschein, ideales Rückreisewetter. Wären die Ferien doch nur nicht schon vorbei. Die beiden Söhne sind an ihren iPhones am Gamen.

18.22 Uhr

Die Strasse wird auf einer Seite abschüssiger. Hinter dem Mann kommen noch weitere Autos, die wollen alle auch nach Hause. Also das Tempo halten. Heute ist es auch wieder drückend heiss, und die Klimaanlage schwächelt. Der Song wechselt. Im Radio läuft «We Are Family». Die Frau beginnt mitzusingen. Sie denkt an ihre Jugendzeit zurück.

18.23 Uhr

Die Strasse verläuft hoch entlang des Sees. An der Seeseite hat es keine Leitplanken, nur einfache Geländer. Die Augen des Mannes fallen für 2 oder 3 Sekunden zu. Das Auto touchiert die rechte Seite zum Berg hin. «Was ist los?», schreit die Frau auf dem Beifahrersitz. Das Auto kommt auf die Gegenfahrbahn. Fährt auf den See zu, das geht alles sehr schnell, durchbricht das schwache Geländer, das Auto fällt in die Tiefe, die Frau im Wagen denkt im Bruchteil einer Sekunde: «Das war’s dann wohl.» Die Söhne schauen kurz vom Handy auf. Das Auto taucht senkrecht in den See. Sinkt unaufhörlich.

19.30 Uhr, mehr als eine Stunde später

Der Mann, der als Augenzeuge ausgesagt hat, geht zu seiner Frau und seinen Töchtern. Umarmt sie. Länger als sonst. Sie steigen ins Auto, setzen den Weg fort in Richtung Norden, aus der sie gekommen sind. Der Mann schaltet das Radio ein. Es läuft: «Ab in den Süden». Er schaltet das Radio aus. Alle schweigen, schauen aus dem Fenster.

19.45 Uhr

Bei der nächsten Raststätte fährt der Mann hinaus. Alle waschen sich die Hände, gehen auf die Toilette, verpflegen sich, trinken etwas. «Habt ihr erkennen können, wer im abgestürzten Auto sass?», fragt eine der beiden Töchter. Der Mann verneint. Die Frau ebenso. «Alles war so schnell gegangen, sagt der Mann, «ich habe nur gesehen, dass das Auto sofort verschwunden war, der See muss an der Unfallstelle sehr tief sein.» «Wie ist das wohl, wenn man im eingeschlossenen Auto im Wasser immer tiefer sinkt?» fragt eine der beiden Töchter. Der Mann und die Frau schauen sich an. «Esst jetzt noch ein wenig», sagt der Vater, «der nächste Halt wird auf sich warten lassen.»

20.15 Uhr

Nachdem die Frau ihren Mann und die beiden Töchter umarmt hat, steigen die 4 wieder ins Auto und setzen die Reise fort. Der Mann schaltet das Radio ein. Eine Verkehrsmeldung ertönt: «Wieder ein Hitzetag mit viel Urlaubsverkehr auf der Nord-Süd-Achse. Zudem ein Unfall auf der Axenstrasse. Sie bleibt bis auf Weiteres auf beiden Seiten gesperrt. Der Verkehr wird grossräumig umgeleitet. Fahren Sie vorsichtig und kommen Sie sicher ans Ziel.»

6.20 Uhr, folgender Tag

Der Mann, die Frau und die beiden Töchter kommen im Urlaubsparadies an. Strand, Sonne, Swimmingpool, feines Essen und ein Blick aufs Meer erwarten sie. Schon bald werden sie den Unfall verdrängt haben. Bis zur Rückreise in 2 Wochen. Dann wird die Axenstrasse für den Verkehr wieder geöffnet sein.

19 Uhr, 2 Wochen später

Der Mann, die Frau und die beiden Töchter nähern sich dem Vierwaldstättersee. Mehrere Stunden Autofahrt liegen hinter ihnen. Alle sind bereits ein wenig müde. Noch immer sind viele Autos unterwegs. Kurz vor der Unfallstelle schaltet der Mann das Radio aus, verlangsamt das Tempo. «Wir haben noch einmal Glück gehabt», sagt er, «wer weiss, was passiert wäre, wenn wir hier 2-3 Sekunden früher vorbeigefahren wären.»

© René Oberholzer

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.08.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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