Klaus Mattes

Auf der Bullenwiese / 9572


Er ist noch in der Phase des Lebens, wenn beim Sex ein allergrößtes Potenzial von Lebendigsein sich abzeichnet, es sonst aber schon redundanter wird. Mit der Zeit gibt sich das bei jedem. Denke dich einmal als einen 78-jährigen Mann! Jetzt denkst du an die 78-Jährigen, die du schon mal gesehen hast. Das waren doch gar nicht wenige. Nur denkt man sich selber dann nie wirklich als 78-Jährigen. Als einen 78-Jährigen würde man sich aber wohl sexlos denken. Man hätte es unterwegs wohl mal sein lassen.
Ihn mit seinen eben überschrittenen vierzig Jahren sehe ich in stolzer Einsamkeit über die Bullenwiese schreiten und den Billigangeboten entkommen. Das Ding, der schwule Kontakthof, nachts, man spricht möglichst nicht, heißt in Hannover die Bullenwiese. In Ludwigsburg heißt sie die Bärenwiese, doch die Bären sind fast alle zur Strecke gebracht. Ich sehe, wie er das Handy zückt, von unten angestrahlt wird. Wie er weghört, wenn wir Hallo sagten. Wie er sich neben ein wichsendes Dreiergrüppchen stellt und sich nicht rührt, wenn sie rufen: „Hau ab!“ Wie er die wenigen Leute, von denen er sich was verspricht, in ein kurzes Gespräch zieht und vom Grüngelände weg leitet, damit nicht plötzlich einer bei ihm nebendran steht und auf abfallende Krümel wartet. Schön kommt ihm vor, wenn es junge Migranten sind, deren Konsumwünsche von ihren Einkünften bis jetzt noch nicht gerechtfertigt werden. Einen Fünfziger ist es ihm allemal wert. Das stattet einen mit kontrollierender Autorität aus in den wesentlichen Minuten, die dann noch folgen.
Für mich ist er ein Körperfaschist, denn er sondert zuverlässig aus, was schwammiger, dickarschiger, zahnlückiger, mundgeruchiger, verschwitzter, schuppiger, abgerissener, tabakfleckiger, segelohriger, vernarbter, bebrillter, kahler, grauer, tattriger, angesoffener, buckliger, stotternder, hinkender, gesundheitssandaliger, kurz- oder schlappschwänziger, verwarzter, runzliger, fleckiger als er ist. Also eigentlich fast alle. Nur bei kürzlich angekommenen Migranten hat man manchmal noch Glück. Oder wer eine Plastiktüte bei sich trägt. Oder zu laut spricht. Oder immer noch diese Arschgeweih-Tätowierungen. Elite ist immerdar selten. Eigentlich wäre der schwule Körperfaschist sowieso der Normalfall, wenn sie sich das noch erlauben könnten - bei dem, was sie selber einzubringen haben. Er eben kann noch!
Vom Prinzip her mag ich den Park oder diese Wiesen immer noch. Man muss aber nie hingehen. Man könnte übrigens auch das ganze Jahr über hingehen, nicht gerade vor Sonnenuntergang, solange Frauen ihn als Freizeitareal für ihre Kinder mit Beschlag belegen. Man braucht keine spezifische Laune, keinerlei Motivation. Man schaut nur mal rein. Es muss gar nicht sein, dass man heute jemanden nett findet. Kennen muss man auch nie einen. Man muss sich um keinen mühen, muss bei niemandem Punkte sammeln. Nette Reden und kleine Aufmerksamkeiten bringen selten etwas. Man muss nicht überlegen, was man eigentlich angezogen hat. Nicht mal waschen muss man sich. Dreck sieht man in der Nacht nicht und die Körpergerüche akzeptieren sie entweder als erotisierend oder sie lassen es, egal, man muss hier keinen haben. Seine Kippen darf man vor aller Augen glühend auf den Teer schmeißen und sie mit der eigenen Pisse ablöschen.
Alles, was einen interessieren könnte, darf man ruhig schon mal anfassen, bevor man sich weiter reinsteigert. Ein geheime Tragik dieses Systems liegt darin, das man am Ende meistens genau das nehmen muss, was man vorher nur kurz anfassen wollte. In der Zwischenzeit sind die anderen wieder einmal sehr clever gewesen und haben sich alle schon gefunden, sind mit einem Mal weg, sodass sie von mir nicht mehr gefunden werden können. Der Körperfaschist ist zwar noch hier. Aber dem bin ich zu Popel.
Und schon ist es wieder Winter. Alle haben ein Internet in ihrem Handy und scheinen zu glauben, dort kann man sich auch verabreden. Bei mir auf der Wiese sind nur noch zehn Personen. Einige starren immer aufs Internet in ihrer Hand, während sie von mir weg laufen. Manchmal ist gar keiner da außer mir. Es stimmt zum Glück nicht, dass man jedes Mal verprügelt wird, wenn man der Einzige hier ist. So herum stimmt es: Immer wenn man verprügelt wird, stellt man hinterher fest, dass man ahnungslos gelaufen ist, obwohl man der Einzige war.
Für diese Geschichte sind mal neun Männer hier, außer mir. Ich erkenne sie ausnahmslos wieder. Die gemeinsamen Geschichten, meist solche der Anödung und des Überdrusses, reichen Jahre zurück. Ich werde nachdenklich. Bin ich etwa auch ein Körperfaschist? Ihn will ich nicht. Will ich nicht. Will ich auch nicht. Und den da erst recht nicht. Und er, der Idiot, hasst mich seit Jahren. Nie habe ich ihm das Geringste getan. Vor Jahren muss er mich mit einem verwechselt haben, der mir ähnelte. Heute weiß er nicht mehr, warum ich ihm so unsympathisch wurde. Nur genau dieser Idiot hat den Körper, der mich anmacht. Seine langen, dürren Schlenkerglieder, diese eckige Brust, das rattige Gesicht. Das ist nicht schön und gefällt sowieso keinem von den übrigen acht, aber genau mich, dem es gefällt, hasst er seit Jahren.
Zehn Uhr nachts, kalt und zugig und unbelaubt. Leider kann man es von zu Hause aus nie beurteilen, wie der Auftrieb auf der Wiese sein wird. Google Earth zeigt es noch nicht an. Man muss immer zuerst hin, dann sieht man schnell, wie es heute so läuft. Bei mir, kaum habe ich es dann original gesehen, steht gleich fest, dass ich heute gar nichts will. Jetzt aber gleich gehen, nach dem gewissen Aufwand, das man mit Ankleiden und Hinlaufen auf sich genommen hat? Der Körperfaschist ist auch schon wieder da, geht stramm auf und ab und wischt Lover vom Display.
Wie wäre es mit Reden, Klönen, Palavern? Das geht nicht. Das geht nur mit denen, mit denen man es schon immer macht. Zum Glück ist von denen nicht einer heute da. Es gibt ja diese unausgesprochene Gesetzmäßigkeit, dass man den sogenannten anonymen Sex nur mit Menschen hat, mit denen man nicht redet. Was aber heißt, dass man nie Sex hat mit denen, mit denen man sich schon ganz groß unterhalten hat. Brutal gesagt, heißt es, im Park kann man sich unterhalten oder man kann Sex haben. Nicht beides.
Da kommt einer an und fängt an, mit mir zu sprechen. Mir ist schon klar, was er will, mir ist schon klar, nie mehr in diesem Leben werde ich was machen mit ihm. Ich könnte ihn klar abblitzen lassen, halte den Ton aber höflich: „Heute mache ich hier nichts.“ Er versteht mich sofort. Er tut aber so, als hätte er nicht zugehört und redet immer weiter auf mich ein. Leider weiß ich schon sehr genau, wie das enden wird. Entweder wird er mir demnächst seine klebrigsten Fickgeschichten mit 18-jährigen Knaben oder sogar Mädchen, die neulich angeblich hier waren und sich um ihn balgten, auftischen, oder er wird wie unbewusst die Hand auf meinen Oberschenkel ablegen und gegen den Hosenschlitz hin verschieben, um dort irgendwie mörderisch zu drücken oder zu reiben. Wahrscheinlich beides, erst die saftigen Histörchen, um mich geil zu machen, dann der Zugriff, um es nachzuweisen und die sofortige Einlösung Versprechens verlangen zu können.
In letzter Zeit, obwohl es ewig Winter bleibt, sitze ich oft ganz allein am Fluss und mache mir in der Kälte der Nacht eine Dose Bier auf. Dann laufen die Frauen mit den Hunden und den Plastikbeuteln durch und manchmal scheißt von oben einer dieser Vögel, die nicht länger durchfliegen bis Afrika. Ich lausche der Musik vom mp3-Player. Alexandre Desplat.
Obwohl im Park noch immer der Körperfaschist zu sehen ist, obwohl der das doch gar nicht nötig hätte, ist es so, was der Körperfaschist offenbar nicht wahrhaben will, dass es sich mit den Jahren grundlegend verändert hat. Längst ist es nicht mehr normal, wenn man irgendwann erkennt, dass man Männer für Sex gerne wollte und zwar schnell und möglichst heute noch, dass man als Bulle auf dieser Bullenwiese spazieren geht. Längst kann man den Park als Sieb sozialer Differenzierung auffassen. Und dann sind mehr oder weniger nur die noch dort, die es sonst überall verschissen haben, die gesellschaftlich Durchgefallenen. Die Under-Achiever.
Fast wäre man geneigt, dem Körperfaschisten, der seinerseits aber tatsächlich noch immer hier ist, Recht zu geben. Die Alten, die Behinderten, die Hilfsschüler, die Alkoholiker und durch die MPU Gerauschten, die Exhibitionisten, die verheirateten ausländischen Hilfsarbeiter, die ihre Schichtzeiten haben und nie in was reingehen würden, was als schwul bekannt ist – und Beate Uhse hat auch zugemacht. Aber was ich eigentlich sagen wollte, von wegen mp3: Einer von diesen ist mir mal drei geschlagene Parkvollrunden hinterher gelaufen, um mich schließlich zornig anzumachen, ich hätte da Stöpsel im Ohr, da sei alles klar. Ich: „Hä?“ Er knallt mir sein dürres Fäustchen ins Gesicht, springt drei Meter rückwärts und plärrt im Abgang: „Mir könnt ihr nichts vormachen. Bullen. Euch schmecke ich sofort.“ Wobei das klar sein muss, das war der besondere Humor vom seelisch Zerrütteten. Jeder weiß, dass Polizisten hierzulande höchst selten aus ihren bequemen Fahrzeugen aussteigen und dass sie, wenn sie je streifen, immer paarweise auftreten. Und ich weiß, dass besagtes Männchen niemals einem Polizisten aus dem Stand eine in Gesicht gehaut hätte, wenn es ihn wirklich für Polizei gehalten hätte. Dafür war der Typ immer zu feige. So die Sorte Alkoholiker, die nur die eigenen Kinder und Frauen schlagen, wenn es mal wieder nicht so will bei ihnen.
„In Ruhe diese Dose Bier und den Wellen nachschauen. Das reicht.“ Locker schließt sich die Anekdote von der Bierdose im Park an. Die war mit diesem kleinen, arg haarigen Serben, Mazedonier oder Bosnier von der O&G-Abteilung von meinem Lebensmittelmarkt. Nebenbei gesagt auch einer von den Verheirateten, die auch noch Kinder haben. Das kannte ich alles schon, wie auch seinen Bedarf nach analen Zärtlichkeiten, dem ein bemerkenswerter Haarwuchs entgegensteht, weil es in Jahren schon paar kleine Erlebnisse gegeben hatte. Kurz, ich war nicht mehr nennenswert scharf auf ihn, er aber wusste, dass bei mir theoretisch was zu holen war. Jetzt sah er mich Bier aus der Dose trinken. Er stellte mich zur Rede: „Das kannst du mir glauben, wenn sie Bier getrunken haben, steht er nachher nicht mehr. Vom Bier ist noch nie einer potent geworden.“
Unser Park-System ist heute so ausgehöhlt und verrottet. Ob ich heute oder morgen oder wenigstens übermorgen noch mal Sex habe, sagt nicht, ob mein Leben noch glückt. Und dann war noch der eine Sommer mit seinen Pokémons. Als es losging, war es gleich so mächtig, als würde es nie wieder enden, wie diese Klimakatastrophensommer. Aber dann ging er nur einen Sommer und kam nie wieder. Japanische Spielfiguren auf den Handy-Displays, die nicht länger ganz halbwüchsige Heterosexuelle in kleineren Gruppen und paarweise überall hin lotsten im städtischen Bereich. Man musste was fangen, was nur im Handy, nicht von der Bank aus mit eigenen Augen zu erkennen war. Dafür ließ man sie Serpentinen gehen und Kreise drehen, scharf abbiegen, U-Kurven und sie mussten das gleiche Stück noch mal zurück laufen. Besonders, wo kein Straßenverkehr war, am Flussufer, durch die städtischen Grünanlagen ließ man sie suchen. Eine gewisse Unruhe kam bei allen Schwulen auf, die keine Pokémons hatten. Es waren doch viele ältere Herren und sozial Aussortierte dabei. Erst hofften sie, es könnten Herden junger Männer werden, dann erschraken sie, weil ständig Frauen dabei mitmischten. Folglich konnte es sich eigentlich nur um die feindliche Invasion auf ihrer Wiese handeln.
War es in jenem Jahr, als der Körperfaschist verschwand? Die Pokémons entführten ihn und lochten ihn in einem virtuellen Raum ein.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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