Rolf Föll

Machopan - Der letzte Abschied

Am Friedhof steht vor der Leichenhalle ein schwarzer Mercedes.
Ein Kombi, hinten mit silbernen Fenstern. Zwei Männer stehen davor und unterhalten sich. Sie unterbrechen ihr Gespräch, als ich aus meinem Wagen steige.
„Hallo“, sage ich, „wir haben gerade telefoniert. Ich möchte meinen Sohn sehen, wo ist er?“
Einer der Männer sagt: „Sie haben mit mir telefoniert.“ Er kommt auf mich zu, nimmt meine Hand und sagt „Mein herzliches Beileid.“ Ich will meine Hand wieder zurückziehen, aber er lässt sie nicht los, sondern zieht mich etwas auf die Seite. „Glauben sie mir, ich kann ihren Wunsch, ihren Sohn noch einmal zu sehen, sehr gut verstehen“, sagt er, „aber sie müssen auch mich verstehen, ich habe Anweisung von ihrer ehemaligen Frau, den Sarg nicht mehr zu öffnen. Ich glaube ihnen ja, dass sie der Vater sind und mir ist der gesamte Vorgang wirklich sehr peinlich, das müssen sie mir wirklich glauben. Ich habe den Toten nach der Obduktion noch nicht gesehen. Manchmal sehen die wirklich furchtbar aus. Durch den Unfall sind teilweise die Gesichter so entstellt und blutunterlaufen, dass sie nicht mehr zu erkennen sind. Auch kommt es vor, dass bei der Obduktion die Augäpfel entfernt werden. Das alles kann ein ziemlicher Schock für die Angehörigen sein. Ich habe da schon die stärksten Männer umfallen sehen. Ich möchte, dass sie mir etwas versprechen.“
„Alles was sie wollen“, sage ich, „ich will nur meinen Sohn sehen.“
„Genau darum geht es. Wenn ich jetzt in die Leichenhalle gehe, den Sarg öffne und dann wieder herauskomme und ihnen sage, dass es besser ist, wenn sie ihren Sohn so wie sie ihn kennen, in Erinnerung behalten. Wenn ich ihnen dann sage, dass sie ihn besser nicht mehr sehen sollten, werden sie sich dann an meinen Wunsch halten?“, fragt er mich.
„Haben sie Kinder?“, frage ich zurück und sehe wie er blass wird.
„Ja“, sagt er, „ich habe Kinder.“
„Dann gehen sie jetzt hinein und machen den Sarg auf. Dann kommen sie zu mir und sagen mir, ob ich meinen Sohn sehen kann oder nicht. Ich verspreche ihnen, mich an ihren Rat zu halten“, murmle ich leise mit versagender Stimme.
Er drückt mir nochmals die Hand, die er die ganze Zeit nicht losgelassen hat, dreht sich um und geht langsam mit schweren Schritten in die Leichenhalle.
In diesem Moment bin ich der einsamste Mensch. In wenigen Minuten wird sich entscheiden, ob ich meinen geliebten Sohn, meinen Tiger, noch ein allerallerletztes Mal sehen darf.
Die Tür zur Leichenhalle geht auf und der Bestattungsunternehmer kommt heraus. Er nickt mir zu, hält die Tür auf und sagt: „Fünf Minuten.“
Ich danke dir Gott. Ich danke dir, dass du mir die Zeit gibst, meinen Abschied von Ingo zu nehmen. Gib mir nach neunzehn Jahren noch einmal fünf Minuten Zeit, dann komm´ ich wieder heraus und dann mach mich tot. Bitte!

Der Bestattungsunternehmer tritt einen Schritt zurück und ich gehe durch die Tür, die hinter mir sanft zuschlägt.
Es ist etwas dämmrig in dem Raum und ganz still.
Auf einem Wagen steht ein offener Sarg.
Einige Blumen stehen am Boden und um den Sarg herum.
Da liegt er. Da liegt er und schläft.
So wie ich ihn kenne.
Nur das Lächeln um seine Lippen fehlt.
Er stellt sich nicht schlafend, er schläft wirklich.
Die Augen sind geschlossen.
Das Gesicht friedlich.
Kein Schrecken, kein Entsetzen, kein Schmerz ist da zu sehen.
Er hat sich in die Lippe gebissen, leicht blutig ist sie.
Am linken Auge zur Schläfe hin ist ein leichter dunkler Fleck, ein Art Bluterguss.
Die Hände hat er gefaltet.
Ich möchte ihn berühren, aber ich traue mich nicht.
Ich habe Angst vor der Berührung. Angst vor etwas, das ich nicht beschreiben kann.

„Hallo Tiger“, sage ich leise, „was machst du denn für einen Scheiß? Du kannst dich doch nicht einfach hinlegen und sterben. Nicht jetzt. Du bringst die Reihenfolge durcheinander. Ich wäre als erster dran gewesen. Nicht du. Das kannst du nicht machen“.
Dann lege ich meine Hand auf seinen Kopf, seine kurzen Haare sind borstig wie immer. Ich fahre ihm durchs Haar und spüre die Kälte wo sonst kuschelige Wärme war. Er dreht seinen Kopf nicht mehr in die kraulende Hand hinein, er drängt nicht mehr nach noch mehr Streicheleinheiten.
Nein, er bleibt einfach so liegen. Verzieht keine Miene. Bewegt sich nicht.
Ich betrachte ihn lange, sauge jede Kleinigkeit in mich auf, kann den Blick nicht von ihm wenden.
Ich weiß, wenn ich mich jetzt umdrehe, werde ich ihn nie mehr sehen.
Nie mehr.
Nie mehr in meinem ganzen Leben.
Solange es auch dauern wird, Ingo werde ich nicht mehr sehen.
Wenn ich jetzt die Augen schließe, muss ich ihn mir vorstellen können.
Ich muss sein Gesicht auswendig kennen, jede Einzelheit lernen. Jetzt, bevor sie die Tür wieder aufmachen und mich herausholen.
Ich starre ihn an und erlebe in Gedanken unsere schöne Zeit miteinander noch einmal.
Sehe ihn Fußball spielen, GoCart fahren, mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich sitzend an den Resten seiner Pizza nagen, Pferdchen schlag mich spielen.
Ich sehe ihn beim Eishockey, mit Bratwurst und Cola in der Hand.
Und ich sehe ihn auf seinem Motorrad, voller Freude und Stolz.
Unmengen von Pizza und Cola, Maultaschen in der Brühe, RitterSport und FisherMans haben in ihn reingepasst.
Du warst mir ein guter Freund, ein echter Kumpel, ein Sohn, wie ich ihn mir hätte besser nicht wünschen können.
Aber du gehörtest nicht mir, du gehörtest nicht uns. Ich hätte dich gerne noch ein bisschen bei mir gehabt.
Du hast mir viel Freude bereitet, du alter Stinker.
Pass auf dich auf.
Ich denke an dich und liebe dich.
Ich dich auch liebe tiger.
Ich dich auch liebe tiger.
Ich werfe noch einen letzten Blick auf ihn und gehe dann mit tränennassen Augen hinaus in die Sonne.


© Rolf R. Föll
Frankfurt 2003
Auszug aus „liebetiger“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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