Manfred Gries

Omas Haarspange

Der kleine Träumer schaute gebannt auf den Spiegel, in dem Oma Wilhelmine ihre Morgentoilette verrichtete. Besonders interessant fand er immer wieder das Zusammenbinden der leicht ergrauten Haare, die sie, seit er sie kannte, mit einer besonders schönen Spange zu einem Pferdeschwanz flocht, wie ein junges Mädchen, das ihren Liebsten erwartete. Heute konnte er nicht mehr - er platzte vor Neugier. “Oma, sag einmal, warum trägst du jeden Tag diese Spange im Haar ?“ Wilhelmine lächelte, wie nur sie lächeln konnte. Geheimnisvoll und geschichtsträchtig. So setzte der Kleine sich neben die Puderdose und achtete gespannt auf Wilhelmines Lippen.

“Weißt Du, das alles ist lange her“, begann sie, denn sie wusste - er würde keine Ruhe geben, bis er alles gehört hatte.

“Es war um die Zeit, als die Menschen ohne Arbeit waren und ein kleiner, schnauzbärtiger Mann das Land veränderte. Opa und viele andere brachten plötzlich wieder Geld nach Hause, genug Geld, um die Familie zu ernähren - für große Sprünge reichte das nicht. Deine Mutter war damals 4 Jahre alt, im Jahre 1933 und Weihnachten stand vor der Tür. An einem der Adventsnachmittage - ein Samstag soweit ich mich erinnern kann - gingen wir zusammen in die Stadt, um die wunderschönen Dinge zu betrachten, die das Christkind zu Weihnachten zu bringen pflegt. An diesem Nachmittag sah ich sie zum ersten Mal, diese Haarspange. Eine wunderhübsche Dame mit schwarzem Haar trug sie, ihren Arm in den Arm ihres Mannes gehakt. Und meine Augen konnten nicht davon lassen. Als läge ein Zauber auf der Spange, machte sie die Dame zum hübschesten Menschen auf dieser Erde. Gerade deswegen trug sie wahrscheinlich auch einen Stern auf dem Wintermantel, genauso wie ihr Mann. Opa muss meinen Blick wohl bemerkt haben, denn er schaute bewusst in eine andere Richtung.

Die Tage danach sah ich ihn abends selten. Er schloss sich in seine Kammer ein - seine Werkstatt nannte er sie - und kam erst spät in der Nacht zu mir ins Bett. Hin und wieder erschien er auch nicht rechtzeitig zum Abendbrot, machte Überstunden oder so. Ich war gespannt, Misstrauen kannten wir damals nicht. Irgendetwas Gutes würde schon dahinterstecken, dessen war ich gewiss. Nur was. Ich war so neugierig wie du, kleiner Träumer. Aber ich wartete ab.

Am Abend vor Weihnachten besuchten wir zum letzten Mal in diesem Jahr die Stadt, die voller Leben war. Viele Menschen mit Sternen auf der Kleidung drängten sich durch die Gassen Richtung Bahnhof.. Sie schienen noch rechtzeitig zum Weihnachtsfest nach Hause kommen zu wollen. Die hübsche Dame hatte wohl einen früheren Zug genommen, denn ich sah sie nicht mehr und auch ihr Mann, der treu an ihrer Seite ging, hatte den Zug wohl schon bestiegen. Das war natürlich nur eine Vermutung, aber wie gesagt, damals gab es noch kein Misstrauen und die Menschen gingen ihren Weg gemeinsam. Jedenfalls gingen Opa und ich an diesem Abend zur gleichen Zeit zu Bett. Das Geheimnis schien vollendet und natürlich wusste ich, das es irgendetwas mit Weihnachten zu tun haben musste.

Der heilige Abend weckte uns mit Rauschschwaden am Horizont. Es war irgendwie kalt und doch harrte ich voller Vorfreude auf das, was da kommen würde. Gemeinsam schmückten wir den Weihnachtsbaum und legten die Geschenke für deine Mutter darunter. Ich hatte mehrere paar Socken gestrickt, während Opa in seiner Werkstatt arbeitete und an den Sonntagen Plätzchen gebacken. während der Überstunden von Opa strickte ich 2 warme Schals für ihn, denn die Winter waren damals noch kalt. Außerdem hatte ich vom Haushaltsgeld genug gespart, um ihm 5 Zigarren zu kaufen. Opa liebte den Duft von Zigarren. Und so war alles bereit für die Bescherung. Meine Neugier kaum noch zu ertragen. Gemeinsam betraten wir das Wohnzimmer. Die erste Reaktion kam von deiner Mutter. So wunderbare Socken hatte sie sich insgeheim gewünscht, aber nicht erträumt, diese zu bekommen. Wir mussten lachen, denn sie probierte sie alle an, nacheinander. Und immer, wenn sie zu den letzten kam, begann sie von vorn. Ich musste an die schöne Frau mit der Spange denken, die sicherlich gerade jetzt mit ihrem Mann vor einem warmen Kamin saß und Geschenke mit ihm tauschte.

Und dann fiel mein Blick auf eine kleine Schachtel, liebevoll in Zeitungspapier eingehüllt und mit einer Schleife aus Wollresten der Strümpfe deiner Mutter zusammengebunden. Diesmal war es Opas Blick, der neugierig wirkte. Seinen Blick deutend entlarvte ich das Päckchen als Weihnachtsgeschenk, für mich gedacht. Vorsichtig öffnete ich die Wollschleifen, befreite den Inhalt vom Zeitungspapier und starrte auf die Haarspange der hübschen Dame.

Natürlich war es nicht wirklich diese Spange, aber sie sah ihr täuschend ähnlich. Aus Knochen geschnitzt und mit Farbe bemalt - die Metallteile aus dem Abfall der Stanzmaschine auf der Arbeit zu einem Kunstwerk verarbeitet - war jedes Detail dem original nachempfunden. Opa war ein geschickter Mensch, der einen akribisch genauen Blick fürs Detail hatte. An diesem Abend flocht ich meine Haar - es war damals noch schwarz - das erste mal zu einem Pferdeschwanz. So wie Opa und ich mussten die hübsche Dame und ihr Mann sich fühlen an diesem Abend. Und deine Mutter war die erste, die mir bei der Morgentoilette zusah. Seitdem trage ich diese Spange, die mich zur schönsten Frau auf der Welt macht. Leisten konnten wir uns keines der Weihnachtsgeschenke. Aber unsere Hände waren Gold wert und den anderen glücklich zu machen war ihr Bestreben.

Seid dieser Weihnacht hat es sich bei uns eingebürgert, das die Geschenke selbst gemacht werden. Einzelstücke, die man in keinem Geschäft kaufen kann. So wie ein Menschenleben, das einmalig ist oder eine schöne Frau am Samstag auf einem Platz in einer Stadt im Jahre 1933, die mit einem Stern auf dem Mantel, eingehakt im Arm ihres Mannes, den Weg ihres Lebens geht. Später erst verstand ich, dass der kleine Mann mit dem Schnauzbart nie ein Weihnachtsgeschenk mit seinen eigenen Händen gebastelt hat.“

Der kleine Träumer schaute Wilhelmine an. Sie war wirklich hübsch mit dieser Spange und irgendwie glänzte das Metall wie Sternschnuppen, die besonders zu Weihnachten auftreten. War nicht vor zweitausend Jahren dieser Stern über der Krippe gestanden und hatte Könige von weither zu den Menschen mit fleißigen Händen geführt? Diese Menschen waren die Großeltern der Dame auf dem Platz in der Stadt, die, eingehakt in den Arm ihres Mannes, den Stern auf dem Mantel mit Stolz trug. Und die Haarspange war der Schweif dieses Sterns, geformt aus den Resten unserer Wünsche.

An diesem Abend schlief der Träumer friedlich ein. Er hatte seine Antworten bekommen - Antworten, die Kinder verstehen können.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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