Anneliese Leding

Schleiereule Fiona

Schleiereule Fiona

Marie ging in die zweite Klasse. Sie war ein aufgewecktes Kind und bei ihren Mitschülern sehr beliebt. Malen und Schreiben waren ihre Lieblingsfächer. Oft hing sie ihren Träumen nach und lag in der Wiese und schaute in die Wolken. Sie lebte mit ihren Eltern und der Großmutter in einem Haus auf dem Land. Der Garten war sehr groß. Darin wuchsen Gemüse, Obst, Beeren und bunte Blumen. Es gab zwei Schweine, eine Ziege, Hühner, Enten und Kaninchen. Die Mutter war Schneiderin und viel außer Haus. Der Vater arbeitete in einer Fabrik. Kamen sie abends nach Hause, stand die Feldarbeit an. Am Tag versorgte die Großmutter die Tiere und kochte das Essen. Kam Marie aus der Schule, wurde der Oma alles erzählt, was so in der Klasse passiert war. 
Draußen regnete und stürmte es. Marie, liebte es, an der frischen Luft zu sein. Aber heute schlich sie ganz leise auf den Dachboden. Dort war es trocken und es gab viele Dinge, mit denen man auch spielen konnte. Zuerst ging sie zu der Truhe mit den alten Kleidern und Hüten. Sie zog ein Kleid heraus, das mit bunten Perlen bestickt war. Sie zog es über und vor dem Spiegel betrachtete sie sich und rief laut: „Du bist schön“. Dann sah sie einen großen Hut mit Federn, denn setzte sie sich auf. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin. Draußen wurde es immer dunkler. Ein Gewitter zog auf. Marie hörte, wie der Regen aufs Dach prasselte. Langsam wurde es ihr unheimlich. Ängstlich kauerte sie sich in den abgewetzten Ohrensessel. Auf einmal kam eine Eule angeflogen, direkt durchs Eulenloch. Sie landete auf der alten Standuhr. Dort putzte sie ihr nasses Gefieder. Marie erschrak und bekam es mit der Angst. „Du musst dich nicht fürchten Marie“, sagte eine dunkle Stimme. Angstvoll sah sich das Kind um. Niemand war zu sehen. Wer sprach da mit ihr? Das Mädel hob den Kopf in Richtung Standuhr. „Du kannst sprechen?“, kam ungläubig über ihre Lippen. Lachend erwiderte die Eule: „Ja, aber es können mich nur ganz wenige Menschen verstehen.“ Voller Neugier fragte Marie: „Wer denn?“ „Nun, mein Kind, es sind ganz besondere Menschen, so wie du.“ Das Mädchen war beeindruckt. “Das muss ich gleich Mama, Papa und Oma erzählen.” Sie sprang auf und hüpfte auf die Bodenklappe zu. „Halt Marie! Wenn du das machst, wirst du mich nicht mehr verstehen. Du musst mir versprechen, dass das unser Geheimnis bleibt.“ Marie hielt inne und kam zurück und setzte sich wieder in den Ohrensessel. „Wie heißt du?“ „Ich heiße Fiona und dieser Dachboden ist mein Zuhause.“ Maria sah hinauf und seufzte: „Ach, liebe Eule, ich bin so traurig. Am liebsten würde ich nicht mehr in die Schule gehen.“ „Das wäre aber sehr dumm von dir. Dort lernst du doch sehr viel.“ „Ja, das schon, aber weißt du, ich war gestern bei einer Schulfreundin. Stell dir mal vor, da gab es ein Zimmer nur mit Büchern. Bei uns gibt es kein einziges, bis auf meine Schulbücher.“ Die Eule hörte aufmerksam zu. „Liebe Marie, Bücher sind teuer. Deine Eltern haben nicht die Zeit zum Lesen.“ Sie schüttelte die letzten Tropfen aus ihrem Gefieder und sprach weiter: „Aber was hindert dich daran? Es gibt doch die Schulbücherei. Dort kannst du dir Bücher ausleihen, die du gern lesen möchtest.“ Hell erfreut sprang Marie auf und rief: „Ja, Fiona! Gleich morgen nach der Schule werde ich dort hingehen!“
Schon am nächsten Tag schlich Marie wieder auf den Dachboden, um ihre neue Freundin Fiona zu treffen. Es dauerte nicht lange und die Eule kam durch das Loch geflogen und landete auf der Standuhr. Das Mädchen hatte es sich wieder im Ohrensessel behaglich gemacht. „Guten Tag Marie! Wie geht es dir?” Das Mädel plapperte drauf los: „Mir geht es gut. Heute war ich in der Bücherei. Puh ... da gibt es so viele Bücher. Ich habe mir gleich drei  ausgeliehen. Eins habe ich  fast schon durch gelesen.“ Fiona putzte ihr Gefieder und erwiderte: „Wie schön, mein Kind. Das freut mich. Ein kluger Mann hat einmal gesagt: ‚Bücher lesen heißt, wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne.‘„Weißt du was Fiona? Wenn ich groß bin will ich auch Bücher schreiben.“ „Ah, die kleine Marie will Schriftstellerin werden?“ Das Mädchen war ganz aufgedreht und erzählte weiter: „Ja, dann werde ich ganz viel Geld verdienen und in einem Schloss wohnen.“ Die Eule lachte. „Oha, dann musst du aber eine Menge Bücher verkaufen. Nein, Marie, so einfach geht das nicht.“ Das Kind dachte nach. „Hm ... dann werde ich eben Malerin.“ „Auch das ist nicht leicht.“ Marie wurde nachdenklich: „Aber was ist denn leicht?“ Falls du wirklich vorhast Autorin zu werden, musst du erst einmal ganz viel lesen. Damit bist du jetzt angefangen. Wenn du fest an dich glaubst, wirst du es vielleicht eines Tages schaffen, ein Buch zu veröffentlichen. Das ist aber ein weiter Weg.“ „Na gut, ich werde es mir überlegen.“ Sie hüpfte auf die Treppe zu und rief: „Tschüss, Fiona. Bis morgen.“

Unten in der Küche saß die Großmutter am Tisch und schälte Kartoffel. Die alte Frau drehte sich um und sagte: „Was ist Marie, du bist so still? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen? Das kennt man ja gar nicht an dir.“ Das Mädchen wollte gerade loslegen und der Oma von der Eule erzählen, als ihr mit einem Schlag einfiel, dass sie Fiona versprochen hatte, mit niemanden darüber zu reden. „Setz dich zu mir Marie. Na warst du wieder auf dem Dachboden?“ Das Mädchen setzte sich zu der Großmutter an den Tisch und druckste herum. „Ach Oma, da oben kann man so schön spielen.“ Die alte Frau lachte. „Ich weiß. Auch ich war als Kind oft da oben“, sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach: „Dort lernte ich eine Eule kennen.“ Jetzt spitzte Marie die Ohren. „Weißt du, jetzt kann ich es dir ja erzählen. Dort wohnte eine Eule, die sprechen konnte. Immer wenn ich Kummer hatte, schlich ich mich auf den Dachboden.“ Liebevoll legte sie ihre Hand auf die kleine Hand ihrer Enkeltochter. Marie wollte etwas dazu sagen, aber die Großmutter fuhr fort: „ Eines Tages, ich glaube, ich war damals so alt wie du, war ich wieder auf dem Dachboden.“ Aufgeregt fragte Marie: „Erzähl Oma. Wie ging es weiter.“ „Nun mein Kind, da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Ich bin  zu meiner Mutter geflitzt und habe ihr von der sprechenden Eule erzählt.“ Traurig sah sie ihre Enkelin an: „Am nächsten Tag bin ich wieder rauf auf den Dachboden. Die Eule saß wie immer auf dem Schrank, aber ich konnte sie nicht mehr verstehen. Sie putzte ihr Gefieder und sah mich nicht mehr an. Ich habe damals bitterlich geweint und sie angefleht, wieder mit mir zu sprechen. Es war zwecklos. Nun ja, ich hatte mein Versprechen gebrochen.“ Stille trat ein. Die Großmutter legte den Arm um Marie. Nur sie ahnte, was in ihrer Enkelin vorging.



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