Wolfgang Hoor

Konsequent sein

Konsequent sein

Herr Hanke liest eine Zeitschrift

Es ist neun Uhr am Abend. Herr Hanke sitzt vor dem Fernseher, der ausgeschaltet ist, und liest einen Artikel in einer Illustrierten. In dem Artikel beschreibt eine Mutter, wie ihr Sohn ihr aus dem Ruder gelaufen ist, weil sie ihn nicht konsequent erzogen hat.

„Es ist ein Armutszeugnis unserer Zeit“, steht da, „dass wir unsere Kinder nicht mehr erziehen. Ohne Strafen, ohne Konsequenzen verliert man die Kinder an den Alkohol oder vielleicht sogar an Drogen, und dann wird man sich ein Leben lang Vorwürfe machen müssen. Und mancher Vater oder manche Mutter, die heute noch immer wie früher ihren Sohn rechtzeitig übers Knie legt, tut etwas, was er oder sie eigentlich nicht darf, was aber besser ist als wegzusehen. Das Wegschauen ist die große Sünde der heutigen Erziehergeneration.“

Herr Hanke nickt. Endlich sagt mal jemand die Wahrheit. Er hat von seinem Vater gelernt, wie konsequent sein geht. Wie oft hat er mit glühendem Hintern im Bett gelegen, und es hat ihm nicht geschadet, und seinem Wolf wird es auch nicht schaden. Aber manchmal geht es auch ohne Strafen. Er hat einen guten Sohn, er ist ein guter alleinerziehender Vater, er liebt seinen Wolf auf seine alte altmodische Weise. Der Artikel hat ihn bestätigt. Jetzt schaltet er den Fernseher an.

Wolf hofft, dass sein Papa heute vergesslich ist

Wolf, 12 Jahre, ist im Schlafanzug, hat sich die Zähne geputzt und steht vor der Treppe, die nach unten und dann ins Wohnzimmer führt. Er lauscht. Unten läuft der Fernseher. Er weiß nicht, ob er dem Papa noch einmal extra gute Nacht sagen soll. Vielleicht besser nicht. Papa hat ihm eine Tracht Prügel wegen eines schlechten Geschichtstest angekündigt, ist aber dann nicht mehr darauf zurückgekommen. Und dabei sollte es bleiben.

Vielleicht erinnert sich sein Papa, wenn er ihn nochmal im Wohnzimmer besucht, und dann gibt es ordentlich was hinten drauf. Pu, lieber nicht. Die Hand von Papa ist schrecklich und sehr ausdauernd. Er reibt seinen Po und verzieht in Erinnerung an früher sein Gesicht. Aber wenn Papa sich später doch wieder erinnern sollte und hochkommt, um seine Ankündigung wahr zu machen? Aber es kann auch gut ausgehen. Papa war heute freundlich und hat im Laufe des Tages auch nicht mehr nach dem Geschichtstest gefragt. Wolf legt sich auf sein Bett, bäuchlings, über die Bettdecke. Dann kann Papa nicht sagen, dass er seinen Po vor ihm versteckt hat.

Herr Hanke erinnert sich an etwas

Es ist jetzt zehn. Um neun soll das Licht aus sein und Wolf soll schlafen. Das Licht ist auch aus, als der Vater nach oben kommt, und Wolf schläft. Aber warum liegt er auf der Bettdecke und dazu noch auf dem Bauch? So liegt er doch nur da, wenn er ein schlechtes Gewissen hat und mit einer Tracht Prügel rechnet. War heute was Besonderes mit ihm und dem Jungen? Er erinnert sich nicht, der Junge war sehr folgsam – folgsamer als sonst.

Ja, sein Wolf! Er schaut auf den friedlich schlafenden Jungen und ihm kommt plötzlich ein Gedanke, der in dem Artikel, den er gelesen hat, fehlte. Für so einen Tag wie heute hätte der Wolf vielleicht einmal eine Belohnung verdient, jedenfalls ein Lob! Irgendwie denkt er immer ganz schnell an eine Bestrafung, aber nicht an eine Belohnung! Man sollte einen Leserbrief schreiben, dass Kinder auch öfter mal ein Lob verdient haben. Er wird seinen Jungen morgen ein bisschen freundlicher behandeln als sonst.

Komisch! Aber ja, wo er eben an Belohnung denkt, da war doch was ganz anderes! Jetzt erinnert er sich. Wolf ist mit einer Fünf in einem Geschichtstest aus der Schule nach Hause gekommen, und er hat ihm gesagt: So geht das nicht weiter. Dafür kriegst du den Hintern versohlt. Dann hat er aber nicht mehr daran gedacht, in Geschichte war er, der Vater, auch immer ziemlich schlecht, innerlich hat er ihm die schlechte Note längst verziehen. Aber eine Tracht Prügel hätte er doch verdient. Wie hieß es in der Zeitung? Erziehung besteht zu 80% aus Konsequenz.

Wolf schläft nicht, sondern denkt über den Papa nach

Jetzt hat sein Papa aber lange genug an seinem Bett gestanden. Jetzt könnte er endlich gehen. Bloß keine dummen Bewegungen! Immer schön gleichmäßig atmen. Wenn der Papa sich an sein Versprechen erinnert, dann stehen ihm schreckliche Minuten bevor.

Und überhaupt, was ist das für eine Erziehung? Der Papa hätte sich doch mal erklären lassen können, warum es zu dieser schlechten Note in Geschichte gekommen ist. Er hat dem Vater am Vortag geholfen, den Keller aufzuräumen, das hat fast zwei Stunden gedauert, und danach musste er noch zum Turnen und danach war er so müde, dass er unmöglich noch pauken konnte.

Und heute Mittag, als er ihm von der schlechten Note in dem Test erzählt hat, da hat er kaum zugehört. Er hätte ihm gerne gezeigt, was der Lehrer für komische Fragen gestellt hat, und er hätte gerne gewusst, ob sein Papa von Karl dem Großen noch eine Ahnung hat. Aber man sah gleich, den Papa interessierte nur die Note, sonst gar nichts. Und vielleicht hat ihn nicht einmal die Note interessiert, sondern nur die Strafe, die es für eine schlechte Note gibt. Eigentlich ist mein Papa in Ordnung, aber er ist auch halt ein typischer Erwachsener, der nicht versteht, was Kinder empfinden.

Herr Hanke möchte konsequent sein

Der Vater steht an dem Bett und schaut zärtlich auf seinen zwölfjährigen Jungen hinunter. Er liegt wahrscheinlich auf der Decke und auf dem Bauch, weil er denkt, dass er noch was hinten drauf kriegt. Überm Warten ist er eingeschlafen.

Armer Junge, es ist sicher nicht lustig, wenn man immer denken muss: gleich kommt der Papa und der straft einen. Aber er hat eindeutig gesagt, dass es wegen dem Test Prügel gibt, also muss er auch dabei bleiben. Wenn er nicht konsequent dabei bleibt, denkt Wolf vielleicht, er kann ihm auf der Nase herumtanzen. Und so ähnlich hat es ja auch in dem Artikel gestanden, den er gelesen hat.

Und überhaupt: Vielleicht schläft der Wolf ja gar nicht. Vielleicht ist das sein Trick, sich schlafend zu stellen, um der Tracht Prügel zu entgehen. O ja, alle Kinder sind irgendwie durchtrieben, so süß sie aussehen mögen, der Wolf will ihn bestimmt bescheißen. Aber das machst du mit deinem Vater nicht, mein Lieber, das nicht, das nicht. „Schläfst du?“, fragt er. – Keine Antwort. Er legt seine Linke auf seinen Po. – „Du weißt, was wir abgemacht haben?“ – Keine Antwort. Vielleicht schläft er wirklich. – Der Vater gibt ihm einen kleinen Klaps. – „Aufwachen!“ Er rührt sich nicht. Dann ziehe ich eben andere Seiten auf, denkt der Vater und hebt seinen Sohn aus dem Bett und setzt sich auf einen Stuhl und legt ihn sich übers Knie.

Ein Streitgespräch und eine Ausnahme

Warum willst du mich strafen? Du warst mir doch gar nicht böse Und über Tag warst du gut gelaunt. Da muss man doch nicht denken, dass man trotzdem noch gestraft wird. Ja, ja, das stimmt schon. Aber wenn ich dir ankündige, dass ich dir den Hintern versohle, kann ich das nicht rückgängig machen. – Warum nicht? – Weil ich dann nicht konsequent wäre. – Aber du warst ja den ganzen Tag nicht konsequent. Warum musst du ausgerechnet jetzt, wenn ich schlafen will, konsequent sein? – Du bist ein kleiner Junge und verstehst noch nichts von Erziehung. – Aber überall gibt es Ausnahmen. Gibt es in der Erziehung keine Ausnahmen?

Es dauert lange, bis dem Vater etwas einfällt. Dann setzt er seinen Wolf plötzlich auf seinen Schoß. „Einmal“, sagt er, „war mein Vater auch nicht konsequent. Das war an Weihnachten. Da hab ich richtig was angestellt und da hat er gesagt: „Es gibt Ausnahmen. Heute feiern wir und denken nicht mehr daran.“ – „Können wir heute Abend nicht einfach so tun, als wäre Weihnachten?“ – Wolf kriegt keine Antwort, aber einen Kuss.

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Wolfgang Hoor).
Der Beitrag wurde von Wolfgang Hoor auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.11.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Wolfgang Hoor als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Infinity: Zeitgenössische, zärtliche Lyrik aus Wien - Hietzing von Heinrich Soucha



Mit dem Schreiben und Dichten, ist das so eine Sache.So war ich oft der Meinung, nur lyrisch Schreiben zu können, falls ich mich in einem annähernd, seelischen Gleichgewicht befände, erkannte aber bald die Unrichtigkeit dieser Hypothese.Wichtig allein, war der Mut des Eintauchens.Das Eins werden mit dem kollektiven Fluss des Ganzen. Meine Gedanken, zärtlich zu Papier gebrachten Gefühle,schöpfte ich stets aus diesem Fluss.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kindheit" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Wolfgang Hoor

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Es geht doch weiter von Wolfgang Hoor (Liebesgeschichten)
eine Milch(bubi)rechnung von Egbert Schmitt (Kindheit)
Als meine Katze mir das Leben rettete von Katja Ruhland (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen