Saskia Egli

Stärke

Schreibübung für "Fluff" in maximal 1000 Wörtern

Kajetan sah zum dunklen Nachtforst und wartete darauf, zwischen den Bäumen eine Bewegung zu sehen. Er zweifelte nicht daran, dass Levana ihre Prüfung gemeistert hatte – dafür kannte er seine Schülerin zu gut.

Sein Atem bildete eine kleine Wolke, denn die Morgendämmerung hatte erst kürzlich begonnen. Die wärmenden Strahlen der Sonne waren noch fern, weshalb er bislang auch der Einzige vor Ort war. Doch das kümmerte ihn nicht, so musste er wenigstens niemand von der mit Fell ausgekleideten Bank und dem Tischchen mit Essen neben ihm vertreiben.

Schritte erklangen hinter ihm. „Meister Kajetan, welch eine Überraschung. Macht Ihr Euch solche Sorgen um meine Schwester, dass Ihr die Nacht hier verbracht habt?“

„Sorgen nicht, junger Lord. Aber Levana verdient es, dass ihr Moment des Triumphs gewürdigt und bezeugt wird. Ist das nicht der Grund, weshalb auch Ihr um diese Zeit schon hier seid?“

„Touché. Ich konnte nicht zulassen, dass niemand aus unserer Familie hier ist, und habe mich aus dem Haus geschlichen.“

Ein Knacken durchbrach die kühle Ruhe, beide Männer drehten sich dem Wald zu. Eine Gestalt in einem langen grünen Mantel trat auf die Wiese hinaus, auf einen langen Ast gestützt.

Kajetan eilte auf seine Schülerin zu, die erschöpft den Kopf hob. Das Zeichen aller anerkannten Magier, die Sonne von Streia, prangte auf ihrer Stirn und verkündete der ganzen Welt, dass sie ihre Prüfung bestanden hatte.

„Meister, was...“ Levana stolperte.
Rasch fing Kajetan sie auf und schlang einen Arm um ihre Hüfte. Gemeinsam überquerten sie langsam die Wiese. „Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass niemand auf dich wartet, oder? Schau, dein Bruder ist auch da.“ Levana zitterte vor Anstrengung, und würde sie ihm nicht dafür den Kopf abreissen hätte Kajetan sie längst getragen. Doch er wusste, wie hart sie für diesen Moment gekämpft hatte, er wollte ihren Sieg nicht mindern.

„Ferian“, murmelte sie erstaunt. Der junge Mann kam näher und schlang ein warmes Fell um seine Schwester. Seine Hände verharrten kurz auf ihren Schultern, seufzend lehnte sie den Kopf an seine Brust. „Danke, dass du da bist.“
„Natürlich, Schwester mein, wie könnte ich nicht? Hast du eine Ahnung, wie stolz ich auf dich bin?“
„Da du mitten in der Nacht hierher gekommen bist, wenigstens ein bisschen?“
„Huhn.“

Kajetan platzierte Levana sorgsam auf der Bank, die er mitgebracht hatte. Seine Schülerin, die sich stets so aufrecht hielt und mit ihrer blossen Präsenz einen Raum beherrschte, sackte in sich zusammen und vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Mit grossen Augen sah der junge Lord den Magier an. „Was ist mit ihr?“
„Levana muss Einklang damit finden, was die Prüfung von ihr verlangt hat. Setzt Euch neben sie, das wird helfen.“
Kajetan befolgte seine eigenen Worte und nahm neben seiner Schülerin Platz. Ein Blick aus tränennassen Augen fiel auf ihn, dann warf Levana sich schluchzend gegen ihn. Ohne zu zögern umarmte er sie, legte den Kopf an ihren und murmelte beruhigende Worte.

Der Magier hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Die Prüfung im Nachtforst war die letzte Hürde, die ein Schüler der magischen Künste zu bewältigen hatte, ehe er den Rang eines Meisters erwarb. Dabei musste er sich seinen schlimmsten Fehlern stellen und seinen grössten Ängsten. Kajetan, der die letzten sechs Jahre lang Levana unterrichtet hatte, ahnte, womit sie konfrontiert worden war.

„Komme was wolle, mein Mädchen, ich werde da sein wenn es mir irgendwie möglich ist.“
„Ihr seid nicht länger mein Meister, ich brauche Euch nicht länger zu kümmern“, sagte sie mit schniefender Nase.
„Du hast sechs Jahre unter meinem Dach gelebt, von mir gelernt und meine Erlebnisse geteilt. Selbst wenn du die grösste Magierin des Reiches bist hast du noch einen Platz an meinem Herd, einen Teller an meinem Tisch.“

„Und wenn ich nie...?“
„Dann erst recht. Levana, du hast dich vor langem in mein Herz geschlichen, du musst dir meine Zuneigung weder verdienen noch erkaufen.“
Der junge Lord schluckte schwer, denn seine Eltern hatten ihre Meinung zu Levanas Ausbildung mehr als deutlich gemacht. Er selbst tat, was er konnte, um sie zu bestärken und ihr zu helfen, doch er war noch zu jung, um viel ausrichten zu können.

„Dann, kann ich...nach Hause kommen?“
„Jederzeit.“
„Danke, Meister.“
„Es ist mir eine Ehre, Meisterin.“
Ruckartig hob sie den Kopf und starrte ihn an. Kajetan lächelte sie an und sah ihr Grinsen wachsen. „Ich hab's wirklich geschafft.“
„Du hast es allen gezeigt und sämtliche Zweifler zum Schweigen gebracht. Der Nachtforst ist unbestechlich und neutral – du hast dir die Sonne von Steria redlich verdient. Meinen herzlichsten Glückwunsch.“

Langsam wichen die Schatten und die Sonne stieg über den Horizont. Zufrieden sah Kajetan zu, wie Levanas Frohnatur die Gedanken an die schwere Prüfung zurückdrängten. Sie trocknete ihr Gesicht und begann mit ihrem Bruder herumzualbern, während sie eine heisse Tasse Tee trank und von den süssen Nüssen naschte, die auf dem Tischchen vor ihr standen.

Es würde Zeit brauchen, die Dunkelheit ganz zu überwinden, doch er würde Levana beistehen und ihr seine Stärke leihen, wenn sie einen schwachen Moment hatte. Die meisten Magier traten ihre Prüfung nach neun oder mehr Jahren der Ausbildung an. Levana war es nach nur sechs Jahren gelungen, was sie zur jüngsten Magierin aller Zeiten machte. Kajetan hätte nicht stolzer sein können, wäre sie seine eigene Tochter gewesen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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