Rosalia
»Hör doch auf zu weinen.« Liebevoll tätschelte Mario die
Stirn seiner Tochter und wischte die schweißnasse Strähne zur Seite,
die sich aus der goldgelockten Haarpracht gelöst hatte.
Nur zu
gerne hätte er Rosalias Locken im Spiel frisiert und das wunderbare
Lächeln des Kindes gesehen, das ihn seit dem Tag ihrer Geburt verzaubert
hatte.
Wie einfach war es für sie gewesen, seine Liebe zu
gewinnen. Rosalia war sein Schicksal.
Nach dem Tod der Mutter waren
die feinen Linien ihres Gesichts das Einzige, was ihm als Andenken an die
schönen Stunden mit seiner Frau geblieben waren.
Er hatte sie
alleine großgezogen und er liebte sie abgöttisch. Für nichts auf
der Welt hätte er Rosalia hergegeben.
Doch heute Nacht plagten
ihn große Sorgen. Es war kein Geheimnis, dass eine Plage die Stadt
befallen hatte. Eine heimtückische Krankheit, die Frauen und Männer
gleichermaßen befiel. In kürzester Zeit raffte sie das Leben dahin.
Seit Tagen hörte er das Wehklagen der Trauernden in den Straßen.
Rosalia gab ein keuchendes Geräusch von sich. Das sichere Zeichen
dafür, das sich ein weiterer Hustenanfall ankündigte. Er spürte,
wie die Nässe ihres Auswurfs den Stoff an seiner Schulter tränkte,
doch er störte sich nicht daran.
Rosalias kleiner Körper
brannte förmlich. Die Hitze, die sie ausstrahlte, war so stark, dass er
meinte, eine heiße Kerze in den Armen zu halten. Tapfer hatte sich das
Kind gegen die schmerzende Brust gewehrt, doch die Krankheit war zu weit
fortgeschritten. Rosalia hatte jede Kraft verloren. Ihre anfänglich lauten
Schreie waren zu einem schwachen Stöhnen verkümmert, das sie weinend
nach Luft schnappend zwischen den Zähnen hervorpresste.
Mario
bewunderte, wie tapfer seine Tochter die Krankheit ertrug. Ihre Augen waren im
Halbschlaf geschlossen. Er war sich sicher, sie hätte tief und fest
geschlafen, wenn der Husten sie nicht alle paar Minuten aus ihren fiebrigen
Träumen gerissen hätte.
Was konnte er nur tun?
Tränen der Verzweiflung rannen über seine Wangen. Seit Stunden
hielt er Rosalia auf dem Arm, redete ihr gut zu und versuchte vergeblich das
Fieber zu senken.
Seine Mühen waren nicht belohnt worden.
Im Gegenteil. Das rasselnde Atemgeräusch, das sich seit ein paar
Minuten zeigte, verhieß nichts Gutes.
Er wusste sich nicht zu
helfen. Tatenlos musste er mitansehen, wie sich der Zustand seiner Tochter von
Stunde zu Stunde verschlechterte.
Wenigstens für den Moment
schien Rosalia ein wenig Ruhe zu finden. Friedlich schlummerte sie an seiner
Schulter und doch war das Zittern des kindlichen Körpers
allgegenwärtig. Tränen kullerten über ihre Wangen.
Blasses Mondlicht blitzte durch die Scheiben in die Stube des Wohnhauses.
Mario sah hinaus in die Dunkelheit. Obwohl die Nacht erst angebrochen
war, zeigten sich die Straßen wie leer gefegt. Die Bevölkerung der
Stadt hatte sich zurückgezogen und verließ die Häuser nur noch,
wenn es absolut notwendig war.
Ein Schatten huschte vorbei.
Für einen Moment dachte er, es wären die Bewegungen der Frau, die er
einst geliebt hatte, doch dann wurde ihm bewusst, dass er sie niemals wieder
sehen würde. Tot und begraben ruhte sie seit zwei Jahren auf dem Friedhof.
»Warum nur hast du mich allein gelassen?«
Mario schluchzte.
Rosalias Körper schüttelte sich, als
ein neuer Anfall ihre kranken Lungen befiel.
»Ja, ich
weiß. Es tut weh«, sagte er leise und drückte ihr einen Kuss
auf die heiße Stirn.
Was nutzten all die Versuche, Rosalia zu
beruhigen?
Er war nur ein kleines Licht. Es lag nicht in seiner
Macht, seine Tochter vor der Seuche zu bewahren, die schon Hunderte anderer
dahingerafft hatte.
Was, wenn er sich selbst ansteckte?
Wenn Rosalia überlebte und er am Ende selbst wie ihre Mutter am Friedhof
enden würde?
Rosalia eine Vollwaise? Ein fürchterlicher
Gedanke. Was hatte er nur verbrochen? Warum hatte ihm Gott solche Prüfungen
auferlegt?
»Wo bleibst du nur alte Frau?«
Behutsam legte Mario seine Tochter in das Kinderbett. Es wurde langsam kalt im
Raum. Das Feuer im Kamin war schon weit heruntergebrannt. Ein paar Scheite
würden es erneut entfachen.
»Bald hast du es wieder
wohlig warm Rosalia.« Seine Stimme schien die Kleine zu beruhigen.
Ihre Haut war gerötet und doch zeigte sich eine kränkliche
Blässe. Als sie für einen kurzen Moment die Augen öffnete, sah er
den fiebrigen Glanz, der sich nur dann einstellte, wenn die
Körpertemperatur weit über der normalen Gradzahl lag.
»Wann kommt nur endlich diese verdammte Quacksalberin?«
Schon vor Stunden hatte er nach der Kräuterfrau schicken lassen. Die
Wundermittel und Tinkturen waren seine letzte Hoffnung.
Ein
Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken.
Waren das Schritte?
War die Quacksalberin endlich gekommen?
Das leise
Quietschen der Tür kündigte sie an. Die alte Frau hielt es nicht
für notwendig, zu klopfen oder zu grüßen.
Wortlos
trat sie ein und näherte sich vorsichtig dem Bett seiner Tochter.
Sie war von kleiner Gestalt und in einen weiten Mantel gehüllt. Eine
Kapuze bedeckte ihren Kopf und die Hälfte der vogelartigen Maske, die sie
als Schutz vor der Gefahr auf dem Gesicht trug.
Mario zitterte.
Das mysteriöse Aussehen der Quacksalberin ängstigte ihn und
doch war er froh, sie endlich zu sehen.
»Ich danke dir, dass
du gekommen bist.« Es war nur ein Flüstern, das über seine
Lippen kam. Er wischte sich Tränen aus dem Gesicht. »Ich brauche
dringend Hilfe«, fügte er hinzu.
»Wie lange ist
sie in diesem Zustand?« Die Stimme der Quacksalberin klang dumpf unter
ihrer Maske hervor. Es war eine melodische Stimme. Vielleicht war sie
jünger, als er angenommen hatte. Sie hatte freundlich gesprochen, doch der
traurige Unterton war ihm nicht entgangen.
War es bereits zu
spät?
»Seit etwa einem halben Tag. Ich habe versucht,
das Fieber mit nassen Tüchern zu senken, aber es ist mir nicht gelungen.
Die Krankheit scheint ihre Lungen befallen zu haben, denn es ist ein grausamer
Husten, der sie plagt.«
»Atemnot?«
»Sie röchelt und ich denke, manchmal setzt die Atmung aus. Das
Rasseln hört ihr ja selbst. Bitte helft ihr, ich zahle euch, was ihr
verlangt.«
Die Quacksalberin schüttelte den Kopf.
»Ich wünschte, ich könnte euch etwas anderes sagen, aber
ich habe den Tod zu oft gesehen. Ich fürchte, meine Kräuter sind hier
machtlos. Eure Tochter ist ein hübsches Kind, aber ich würde
lügen, wenn ich euch sagen würde, dass sie diese Nacht überleben
wird.«
Mario fühlte, wie Schwäche in seine Glieder
fuhr.
»Nein. Rosalia. Sie darf nicht sterben. Ich kann das
Leben nicht ertragen ohne sie. Ihr dürft sie mir nicht nehmen.«
»Ich kann nichts für euch tun.«
Mario
beugte sich über das Bettchen und streichelte Rosalias Wangen. Hemmungslos
ließ er seinen Tränen freien Lauf.
»Ich kann es
nicht. Ich kann nicht loslassen. Nicht noch einmal möchte ich jemanden auf
dem Friedhof verscharren. Dein schönes kleines Gesicht. Für immer will
ich es vor mir sehen.«
»Es tut mir leid. Ich muss euch
nun verlassen, doch wenn ihr es wünscht, kann ich eure Rosalia vor dem
kalten Grab bewahren.«
Mario wandte sich der Quacksalberin
zu.
»Wie meint ihr das?«
»Die Asche
nicht aller Toten wird im Meer verstreut und nicht alle, die von uns gegangen
sind, werden in der Erde vergraben. Seit Jahrtausenden gibt es Techniken, den
Leib der Toten zu erhalten.«
»Ihr sprecht von
Einbalsamierung?«
»Es gibt neue Erkenntnisse. Wenn ihr
es wünscht, so werde ich den Körper eurer Rosalia für die
Ewigkeit bewahren.«
»Was würdet ihr mit ihr tun?
«
»Großes Geschick und Wissen ist dafür
notwendig und ich werde einige Tage Zeit benötigen. Bringt den Leichnam
einfach zu mir.«
»Und was genau macht ihr dann mit
meiner Rosalia?«
»Zunächst muss der tote
Körper von allen Giftstoffen gereinigt werden. Die
Körperöffnungen werden mit Wachs verschlossen und die
Flüssigkeiten des Körpers ersetzt. Der Körper muss an einem
gekühlten Ort aufgebahrt werden. Es ist eine anstrengende Arbeit, aber ich
verspreche euch, sie wird euch selbst überdauern.«
»Noch ist sie nicht tot. Ich habe noch Hoffnung.«
Die
Quacksalberin seufzte. »Ihr wisst, wo ihr mich finden könnt.«
So schnell, wie sie gekommen war, war sie verschwunden.
Mario blieb allein zurück. Seine Gefühle überwältigten
ihn.
Was sollte er nur tun.
Mit aller Macht stemmte er
sich gegen die Angst, die ihn befallen hatte.
Es blieb noch
Hoffnung. Es musste einfach so sein.
Rosalia würde leben.
Es war zu früh, um den Kampf aufzugeben.
Sachte nahm
er seine Tochter wieder an die Schulter und streichelte ihr zärtlich
über den fiebrigen Kopf.
Was war das für ein Schatten?
Waren das die Schwingen des Todes, die sich über seiner Tochter
Ausbreiteten?
Er spürte, wie der kleine Körper
erschlaffte.
Wenigstens war nun ihr Leiden beendet. Still und
schnell war Rosalia für immer eingeschlafen. Der Kampf gegen die
heimtückische Krankheit war verloren.
Niemals würde er
sie wieder lachen sehen.
Er drückte das tote Kind fest an
sich und weinte bitterliche Tränen.
Am Morgen traf er eine
Entscheidung.
Unaufhaltsam trugen ihn seine Füße durch
die kalte Einsamkeit der Straßen. Versteckt hinter einem Vorhang aus
grauem Nebel zogen Reihen aus nichtssagenden Häusern an ihm vorbei. Die
Gedanken drehten sich. Nur das Ziel, das vor seinen geröteten Augen
leuchtete, hielt ihn aufrecht. Als würde er einem unsichtbaren Faden
folgen, eilte er durch die Stadt. Ruhelos verfolgte er die vom Nebel feuchten
Pflastersteine, die unter seinen Füßen dahinglitten.
Mario spürte die morgendliche Kälte, die an seiner Stirn zerrte. Das
Bündel aus Decken, in das er den toten Körper gebettet hatte, wog
schwer. Mit hängenden Schultern schlurfte er weiter einen Schritt nach dem
anderen.
Noch immer konnte er den Gedanken nicht ertragen, dass
Rosalia nicht mehr am Leben sein sollte. Er hielt den leblosen Körper eng
an sich gepresst. Verbittert haderte er mit den Stunden und Tagen, die nun, da
er sich dazu durchgerungen hatte, unweigerlich folgen mussten.
Das
heruntergekommene Haus war unbeleuchtet. Zwischen zwei großen
Herrenhäusern duckte sich das schäbige Gebäude in die enge Gasse.
Er hatte keine Erinnerung an den Weg, der ihn zur Wohnstätte der
Quacksalberin geführt hatte.
Bilder des Schreckens formten
sich in seinen Gedanken. Würmer und Maden, die den Leichnam seiner Tochter
bewohnten, sich in Mund und Augen einnisteten und das fahle Fleisch von den
Knochen lösten. Grüner Schimmel, der sich wie das Netz einer Spinne
über dem leblosen Körper ausbreitete.
Die Bilder in
seinem Kopf waren so stark, dass der Geruch von Tod und Verwesung in seine Nase
stieg.
Ein Laut der Verzweiflung entwich seinen Lippen.
»Nein, ich kann es nicht ertragen, dich so leiden zu sehen«,
flüsterte er.
Er konnte der Quacksalberin nicht
gegenübertreten. Er war nicht stark genug. Es kostete ihn Überwindung,
die kleine Rosalia in ihren Decken vor der Tür abzulegen, aber es gelang
ihm.
»Es wird nur für kurze Zeit sein. Bald werde ich
dich wiedersehen.«
Dreimal schlug er mit der flachen Hand an
die Tür. Dann drehte er sich um und rannte, so schnell in seine
Füße tragen konnten.
Hinter sich hörte er, wie die
Tür geöffnet wurde. Ein Stein der Erleichterung fiel von ihm ab, doch
er sah nicht zurück.
Sein Einfluss endete an der Schwelle des
Hauses. Nun lag es an den Künsten der Quacksalberin. Er stellte sich vor,
wie ein langes Messer in die kindliche Haut schnitt, um das Blut aus den Adern
zu lassen.
Eine grauenvolle Vorstellung. Nein, das wollte er nicht
erleben. Schwere Tage warteten auf ihn, aber in einigen Wochen würde er
seine Tochter wiedersehen. Heil und schön, wie er sie in Erinnerung
behalten wollte.
In der Zwischenzeit mussten einige Vorkehrungen
getroffen werden. Die Katakomben der Stadt waren ein guter Ort. Das besondere
Klima des Untergrundes bewahrte die Leichname vor dem Verfall. Nicht nur er
selbst, sondern jeder, der diese unheimliche Seuche überstanden hatte,
konnte Rosalia dort die Ehre erweisen, die sie verdiente.
Vier
Wochen später war es so weit.
Der Umschlag, der unter seiner
Tür durchgeschoben wurde, war unscheinbar und nur mit seinen Initialen
gekennzeichnet. Der Text der Nachricht kurz. Es ist vollbracht, lauteten die
geschriebenen Worte.
Schnell eilte er in die Katakomben. Gleich am
Eingang war eine Nische frei geräumt worden. Dort lag sie, gebettet in
einen steinernen Sarg. Ein schlichtes Kleid aus Leder bedeckte ihren
Körper. Der wächserne Schädel war von ihren blonden Locken
umrahmt. Jemand hatte ihr eine Schleife ins Haar gebunden, die die sanfte
Schönheit unterstrich.
Friedlich lag sie da. Selbst im Tod
hatte sie eine strahlende Schönheit, die sich auf jeden Besucher
übertrug und ein Lächeln in die Gesichter ihrer Betrachter zauberte.
Wie oft war er bei ihrem Bettchen gesessen und hatte die
Schönheit des kindlichen Schlafes bewundert.
Rosalias
Schönheit würde die Jahrhunderte überdauern. Wenn er selbst
längst in Vergessenheit geraten war, würde sie noch immer die Herzen
der Menschen berühren.
Weinend brach er zusammen.
In Erinnerung an Rosalia Lombardo – die schönste
Mumie der Welt.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Derufin Denthor Heller).
Der Beitrag wurde von Derufin Denthor Heller auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2022.
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Derufin Denthor Heller als Lieblingsautor markieren
Sinnenflut
von Gerhild Decker
Eine Flut von Sinneseindrücken wird in den Gedichten von Gerhild Decker heraufbeschworen. Die Themenvielfalt ist so bunt, wie sie nur von einem intensiven Leben vorgegeben werden kann. Die Autorin ist mit der Realität fest verwurzelt, wagt aber immer wieder Ausflüge in die Welt der Träume und Wünsche. Kleinigkeiten, die an ihrem Wegrand auftauchen, schenkt sie genauso Beachtung, wie den grossen Zielen, die jeder Mensch in sich trägt.
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