Lena Kelm

Christkind im Schneesturm

In den ersten Jahren der Nachkriegszeit fehlte es mir an nichts. Ich bekam ausreichend zu essen, schöne Kleider, auch Bücher, Spielsachen und ab und zu Geschenke von den Eltern. Einmal im Jahr, am Silvesterabend, kam Väterchen Frost und beschenkte die Kinder im Ort. Viele Kinder bekamen auch von ihren Großeltern Geschenke. Meine Großeltern starben, bevor ich sie kennenlernte. Ich wünschte mir so sehr Großeltern, dass ich unsere Nachbarn, das ältere Ehepaar Jauck, für Oma und Opa hielt. Sie hießen Maria und Gottfried, wie alle anderen nannte auch ich sie Jaucke-Wess und Jaucke-Vetter. Ich verbrachte viel Zeit bei ihnen, besonders im Winter, wenn Mutter nicht da sein konnte.
An jenem Tag, in der Woche vor Silvester, tobte ein gewaltiger Schneesturm, der Wind pfiff wie ein Orkan und heulte gruselig. Alles, was die Böen durch die Luft schleuderten, begrub der Schnee. Mit einem Schneesturm in der kasachischen Steppe war nicht zu spaßen. Obwohl man die Orientierung verlieren konnte, wagten sich einige Menschen hinaus, manchen kostete es das Leben.
Ich saß in der Ofenecke, neben der vom Vater gezimmerten Holzkiste, und spielte mit meiner einzigen Puppe Anja. Sie war wunderschön, hatte große blaue Augen, lange Wimpern, seidige blonde Locken, sogar Schuhe trug sie. Ich brachte Anja zu Bett, das mein Vater für meine Puppe gebaut hatte. Die Bettsachen hatte Mutter genäht. Ich kuschelte die Puppe in das Deckchen und sang leise das Wiegenlied, das Mutter mir immer vor dem Schlafen sang:
„Schlaf Herzensannchen, hast goldige Zeit. Später und später wird‘s nicht mehr wie heut‘. Stellen sich Sorgen um Lager und Herr. Annchen, dann schläft’s sich so ruhig nicht mehr.“
Der Ofen strömte Wärme und wohlige Geborgenheit aus, das Feuer prasselte, nur der Sturm toste lauter. Jeder stärkere Windstoß drohte unser kleines finnisches Holzhaus umzuwerfen. Mit ungeheurer Wucht klatschten Schneemassen gegen die Wände. Die Eisblumen am Fenster waren von einer dicken Schneeschicht überzogen.
An Schneestürme war ich gewöhnt. Meistens stürmte es vor Silvester und in der Silvesternacht rieselte leise der Schnee, eine echte
stille Nacht. In meiner Erinnerung höre ich noch, wie meine Mutter laut überlegte: „Morgen müssen Papa und die Nachbarn einen Tunnel graben, damit wir aus der Tür ins Freie kommen. Heute traut sich bestimmt kein Mensch aus dem Haus. Keine Bange, bis Väterchen Frost nächste Woche kommt, ist es wieder schön.“

In dem Augenblick klopfte es an der Haustür. Wer konnte das sein? Hatte sich jemand in den Sturm gewagt? Mutter fiel das Buch aus der Hand, aus dem sie mir gerade eine Geschichte vorlesen wollte. „Ein Glücklicher hat unsere Tür gefunden!“, rief sie. Dann sah ich es selbst...

Fortsetzung folgt



 

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