Lena Kelm

Es ruckelt nicht mehr

Wir laufen im Park um den Lietzensee, meine Freundin Bärbel und ich. Es ist angenehm warm an diesem einem der ersten Frühlingsnachmittage. Wir widmen uns ungestört unserem, wie Bärbel es bezeichnet, vertrautem Gespräch. Gemeinsamkeiten bestimmen die Themen: ehemalige berufliche Tätigkeit im sozialen Bereich, wo wir uns kennenlernten, mehr noch die Beziehungen zu Familie und Kindern. Bärbel hat drei Töchter, zwei Schwestern. Jede hegt unerfüllbare Erwartungen an Partner. Der eine ist nicht empathisch genug, der andere wiederum zu euphorisch, zu wenig realistisch. „Naja“, resümiert Bärbel, „Einen idealen finden sie nicht. Ratschläge helfen da wenig.“ Ich stimme ihr zu.
„Du weißt ja noch“, sagt Bärbel, „es gab eine Zeit, da wollte ich meinen Mann verlassen.“ – „Oh ja, ich erinnere mich. Du warst der Trennung nahe.“ – „Ja, das war die Zeit, als er alleine einen Monat Urlaub machte und nicht einmal anrief. Es gab keine Handys, aber Telefone, und er hatte Geld für Telefonate.“ – „Glaubtest du, er hatte jemanden kennengelernt?“ – „Nein, das nicht. Aber wie jedes Mal würde er zurückkommen und emotionslos auf meine Empörung reagieren, er verstehe überhaupt nicht, warum ich mich so aufrege. Wir haben das doch nicht vereinbart. Das war es. Seine Lieblosigkeit wollte ich nicht mehr ertragen. Unglaublich aber wahr, vor zwanzig Jahren war ich bereits auf Wohnungssuche. Da hattest du mir von deinem Vater erzählt. Das blieb hängen. Dann ging mein Mann in Rente und wir fuhren zusammen in Urlaub. Bald darauf, an einem Sommertag wie heute, kam die Wende. Wir gingen mit meinem Mann den Parkweg entlang. Plötzlich hielt ich es nicht aus: „Merkst du denn nicht, dass es ruckelt,“ sagte ich zu ihm. „Wo ruckelt es?“, fragte er. „Merkst du denn wirklich nichts? Es ruckelt.“ – „Wie, was ruckelt?“ – „Na zwischen uns. Schau doch auf die Beine. Dein Schritt und meiner. Es harmoniert nicht“, schrie ich fast. „Es ruckelt immer zwischen uns. Mir reicht es jetzt.“ Und dann passte er tatsächlich seinen Schritt an. Von da an änderte er sich.
Dieser Schrei der Seele änderte alles. „Es ruckelte nicht mehr?“, sage ich erstaunt. „Nein, stell dir vor. Es wurde immer harmonischer. Seitdem machen wir alles gemeinsam: Gymnastik, Tanzen, Reisen. Trinken unseren Morgenkaffee und führen Gespräche. Und jetzt, im Alter freue ich mich, ihn zu haben. Ich denke oft an deine Worte über die Ehe deiner Eltern, du meintest, dein Vater war meinem Mann ähnlich gefühlsarm.“ – „Ja, das stimmt. Aber meine Mutter wusste warum, er hatte früh seine Mutter verloren. Sein Vater war schon ein älterer gebrechlicher Mann. Großgezogen wurde mein Vater von seinen drei jungen Geschwistern. Er erfuhr nie große Wärme, schon gar nicht Gefühlsausbrüche. Ich höre meine Mutter sagen: „Dein Vater nahm mich nie in den Arm oder rief überschwänglich: Meta, ich liebe dich! – Aber ich spürte seine Liebe, indem er treu war, für mich und die Kinder sorgte. Genau diese Zeichen der Liebe erkannte ich bei deinem Mann damals. Du sagtest, er sei treu, tue alles für die Kinder.“
„Im Alter waren meine Eltern sehr glücklich. Als sie während der öffentlichen Feier ihrer Diamantenen Hochzeit nach dem Geheimnis ihrer langen glücklichen Ehe gefragt wurden, antwortete meine Mutter prompt: „Diplomatie.“ Meine Mutter, eine gebildete Frau, musste öfter ihre ganze Überzeugungskraft anwenden, um meinen praktisch denkenden Vater zu überstimmen. Beispielsweise, als mein Vater sogar die Kuh verkaufte, den einzigen Reichtum in den Nachkriegsjahren und mir ein Klavier kaufte. Zu Mutter sagte er: „Du machst ja letztendlich doch, was du willst.“ – „Er ließ sich überzeugen, weil er uns liebte“, fügte sie hinzu.
„Bestimmt ruckelte es ab und zu. Aber einer war immer bereit, seinen Schritt an den des Partners anzupassen. Und es ruckelte nicht mehr. Gib das an deine Töchter weiter,“ sage ich.


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.12.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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