Lena Kelm

Abgeschlossenes Kapitel 4

Ich fahre mit Anna gemeinsam zu Fortbildungen, wir schlafen in einem Zimmer. Ich besuche sie in ihrer neuen Wohnung, sogar an ihrem Geburtstag. Und Anna gibt mir eine Honigmassage, als sie mich mit Ischias-Schmerzen antrifft.
Mein Gedächtnis hält schöne Momente, Gefühle meiner Dankbarkeit fest, aber auch die beginnenden, tiefergreifenden Risse in unserer Beziehung. Enttäuschungen, Verletzungen mehren sich wie dunkle Wolken. Es donnert, blitzt, dann ein Wolkenbruch, Regenfälle, Überschwemmungen und Katastrophen. Kein Mensch kann sie stoppen. Man kann nur versuchen, sich zu schützen, dem Unheil zu entfliehen.
So überrumpelt und wehrlos fühle ich mich, als Anna plötzlich von mir fordert: „Glaubst du nicht, es wäre an der Zeit, mir wieder eine wohlriechende Seife zu schenken?“ Ich gebe ihr das letzte Stückchen. Aus dem Ausland konnte man nicht unbegrenzt einführen oder schicken. Die Selbstverständlichkeit ihrer Forderung ist mir fremd, ja unvorstellbar. Ich bin sprachlos. Ich kann nicht ablehnen. Das würde ich nie tun!
Große Reisetaschen waren teuer, eine Rarität, und wie deutsche Seife in unserer Stadt nicht erhältlich. Ich besorgte mir eine während des Urlaubs 1985 in meiner Studienstadt Omsk. Selbstverständlich lieh ich sie Anna, als sie in einem Ton, der keine Widerrede duldete, meine Tasche forderte. Vier Sommer lang reiste Anna mit meiner Tasche, als wäre sie ihr Besitz. Als ich sie für meinen Urlaub benötigte, musste ich sie mehrmals darum bitten. Betteln möchte ich es ungern nennen. Anna erschien mit der Tasche auf meine Einladung zu einem kulinarischen Abend bei mir, das ist slawische Gastfreundschaft.
Im fünften Sommer lief es nicht nach dem gewohnten Szenario. Wochenlang bat ich Anna. „Mein Urlaub naht, ich muss die Tasche haben. Soll ich sie mir holen?“ – „Brauchst du nicht“, war ihre kurze Antwort.
Ich hatte kein gutes Gefühl und erinnerte mich an ihre Worte vom letzten Sommerurlaub, als sie scherzhaft lächelnd sagte: „Ich habe deine Tasche aber so was von prall gefüllt.“ Worauf ich mich traute, sie scherzhaft zu mahnen: „Pass auf, dass die Henkel nicht reißen!“
Anna ignorierte meine Besorgnis. Wochenlang wartete ich auf meine Tasche, mich beschlich eine böse Vorahnung. Anna hatte plötzlich keine Zeit, mich zu besuchen. Und als ich wirklich ernst machte, brachte sie die Tasche und drückte sie mir im Vorbeigehen in die Hand mit den Worten: „Ich musste sie an einer Stelle nähen.“ Und weg war Anna.
Die Tasche war nicht mehr zu gebrauchen. Der blaue Henkel war mit weißem Faden am Seitenring der Tasche befestigt, sie hing buchstäblich am Faden. Es gab weder eine Entschuldigung noch eine kleine Entschädigung. Ich ging wie immer von mir aus. So würde ich nicht handeln. Mein Respekt für Anna schwand nach dem Vorfall.

- Fortsetzung folgt -


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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