Klaus Mattes

Der unverbesserliche Verbesserer / 7477

 

 

Im Sommer, es war heiß, wanderte Gerd, der hier in Reuenthal sogar in derselben Straße wie ich wohnt, aber meistens ist er in Bietigheim, weil er dort seinen Freund hat und in Ludwigsburg den Arbeitsplatz, mit unserer Wandergruppe im badischen Bauland. Er stammt aus dieser Gegend, Eberstadt, dessen bekannte Höhle wir besuchten. Sie liegt allerdings außerhalb der Sichtweite des Ortes. Eberstadt wiederum ist das Dorf neben dem Heimatort von Gerd. Zusammen mit seinem Freund war er die Strecke vorher schon mal abgegangen, während ich die Gegend dort noch nicht kannte. Ich kann Wanderkarten lesen und merkte, dass Gerd das nicht kann, sondern sich an verschiedenen Wegmarkierungen und wackeligen Erinnerungen ans Vorwandern entlanghangelte.

 

Ins Gespräch vertieft läuft er irgendwann an einer ausgeschilderten Abzweigung vorbei. Ich merke das, bevor es ihm klar ist und halte ihm meine Wanderkarte vor die Nase. Ich gehöre in der Wandergruppe zu den wenigen außer dem jeweiligen Wanderführer, die immer die richtige Wanderkarte dabei haben. Aber mit dieser Karte kommt Gerd nicht zurecht und das soll keiner merken, also wimmelt er mich ab. Schließlich machen wir doch noch alle Kehrt, als der Fehler offenkundig geworden ist.

 

Wir besichtigten die Eberstadter Tropfsteinhöhle, die nicht uninteressant ist, allerdings äußerlich unvorteilhaft, weil sie sich hinter der Wand eines aufgelassenen Steinbruchs befindet. Im Zusammenhang mit den Abbauarbeiten war das vor Jahrzehnten entdeckt worden. Irgendwo steht auch eine große Tafel, wo was vom Geopark zu lesen ist. Gerd meint, eigentlich hätten wir den Geopark auch besichtigen können. Er weiß aber nicht, was dort gezeigt wird und was es kostet. Das kommt mir gleich etwas komisch vor, aber erst zu Hause merke ich, dass der Geopark natürlich die gesamte Landschaft dort oben ist, also der Odenwald, Teile der Rheinebene und das Bauland. Überall gibt es geologisch Interessantes. Wo wir gerade waren, bildete die Tropfsteinhöhle das Ausstellungsstück vom Geopark.

 

Auf dem Rückweg verkneife ich mir erst einmal, den Wanderführer mit meiner Landkarte zu überwachen. Als ich dann doch mal ins Blatt schaue, kann ich der Umgebung erst nach längerem Suchen einen Punkt auf der Karte zuordnen. Gerd hatte vorhin erwähnt, welchem südlich an der S-Bahn-Strecke gelegenen Ort wir zulaufen und in welcher Gaststätte er für die Schlusseinkehr reserviert hat. Seltsam, dass wir in der vergangenen Stunde so komische Kurven gegangen sind.

 

Ich behalte meine Verwunderung für mich, doch wenig später bleiben Gerd und sein Freund stehen und wirken überfordert. Ich schiebe mich näher ran. Gerd sagt, über diese Hochebene mit der Scheune in der Ferne und den Strommasten sind sie höchst wahrscheinlich nie gekommen, als sie das vorgewandert haben. Da stimmt jetzt wohl was nicht. Jedenfalls sei in etwa dort aber Süden und wenn man sich in die Richtung halte, werde man früher oder später den Segler-Flugplatz sehen, den wir in der Mittagszeit passiert haben. Von dort wäre alles wieder klar.

 

Zum zweiten Mal wittere ich meine Chance, die irre gegangene Gruppe zurück zum Weg zu leiten, obwohl ich gesehen habe, dass Gerd jeden genaueren Blick auf meine Wanderkarte strikt verweigert. Er hat seine eigene dabei, kein Messtischblatt vom Landestopografischen Institut, obwohl das die besten sind und alle anderen nur vereinfachte Variationen von dieser einen Grundlage. Ich habe gesehen, dass Gerd und sein Freund nur an die Karte glauben, die sie beim Vorwandern dabei hatten, offensichtlich aber beide nicht richtig interpretieren können. „Wir müssen“, sage ich, ihnen meine Karte vorhaltend, „gar nicht in Richtung Flugplatz, das führt uns schräg von unserem Ziel fort, wir brauchen nur dort rüber, zweihundert, dreihundert Meter querfeldein, dann ist da wieder ein Weg, seht hier, auf der Karte!“

 

Barsch weist Gerd mich zurück. „Bitte, Klaus, jetzt sei mal still! Wir haben uns verirrt, ich bin momentan im Stress. Ich muss mich konzentrieren können, damit ich zum Weg zurückfinde.“

 

Das Land ist nur leicht wellig, baumlos und ganz trocken wegen dem Regenmangel der letzten Wochen. Mangels Alternativen geht Gerd den geteerten Weg erst einmal weiter. Prinzipiell hat er recht, letztendlich führt uns das zum Segelfluggelände. Prinzipiell habe ich recht, bis wir dort ankommen, wird jeder Schritt uns vom Ziel entfernen. Ich werde immer langsamer. Als ich der Letzte bin, schere ich rechts aus, gehe quer über den abgeernteten Acker und bin nach zweihundert Metern auf dem vorhergesagten Weg zum Dorf. „Hallo“, rufe ich zu ihnen hinüber. Sie scheinen mich nicht zu hören und gehen weiter.

 

Da laufe auch ich los, aber die beiden Wege streben auseinander und schon bald werden wir uns aus den Augen verlieren. Ich bleibe stehen und sehe zu ihnen rüber. Gerade eben ist Gerd abgebogen, was ich einfach nicht mehr verstehe. Auch ihm kommt das dann komisch vor und schon geht die Gruppe wieder zurück und kommt mir jetzt also entgegen.

 

Wieder stehen sie still. Wieder sind sie unschlüssig. Ich stehe hier und warte auf sie und sie müssen mich sehen. Es gehört zu den Pflichten der Wanderführer, immer wieder zu kontrollieren, ob auch hinten noch alle dabei sind. Wenn einer fehlt, kann nicht weitergegangen werden, bis man weiß, was aus ihm geworden ist. Später wird man mir berichten, mehrere Leute hätten Gerd darauf hingewiesen, dass ich da drüben stehe. Man habe mir gewunken und gerufen, es gehe hier weiter. Ich sollte doch kommen. Aus der Ferne waren sie für mich ein zusammenhängender Pulk und ich hörte nichts.

 

Natürlich weiß ich, dass sie mich zurück bei der Gruppe haben wollen. Aber ich weiß auch, dass es der falsche Weg ist. Schließlich geht der Zug weiter. Sie bewegen sich von mir weg und als ich das sehe, mache auch ich mich auf meinen Weg. Während ich gehe, reime ich mir zusammen, was Gerd da gerade tut. Er will so lange in etwa in die halbwegs stimmende Richtung marschieren, bis er zu einem Wegstück gelangt, das er als ihm persönlich bekannt wiedererkennt. Würde er mir folgen, müssten wir den Rest der Wanderung auf einem Weg gehen, den keiner von uns vorher mal gegangen ist, bloß weil jemand eine Wanderkarte hält und behauptet, die zeigt das so.

 

Um der Wahrheit Tribut zu zollen, muss ich gestehen, dass mein kurzer Weg als Pfad eingezeichnet war, kein Fahrweg also, und sich, wie das öfter der Fall zu sein pflegt, in der Wirklichkeit als ein seit Jahren von der Landwirtschaft gemiedener Feldweg neben einem dichten Heckenrain entpuppt hat. Lange Gräser und auch einige Dornenranken hatten ihn fast verschluckt.

 

In der Wirtschaft bin ich gut über eine halbe Stunde vor allen anderen. Ich setze mich an einen Tisch und trinke eine Halbe. Als sie nach und nach im Lokal eintreffen, gehen sie alle mit verkniffenen Gesichtern und wortlos an mir vorüber. Den Rest vom Tag sehen Gerd und ich stets schnell voneinander weg, sobald sich unsere Blicke mal kreuzen. Zwei von denen, die sich zu mir gesetzt haben, scheinen einen Drang zu verspüren, mir ihre Achtung auszudrücken. Doch das macht die Lage eher verfahrener: „Mann Klaus, warum hast du uns das nicht gesagt? Da wären wir mit dir gegangen! Der ist so einen Umweg gelaufen! Wir sind das alles noch mal gelaufen, wo wir am Mittag schon waren und es war doch so heiß, kein Wald irgendwo!“

 

Dass bei meiner Tour die Hecken Schatten spendeten, verschweige ich genauso wie die Dornen, die sich in den Hosenstoff hakten.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.01.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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