Ich reiste einige Zeit durch die DDR und besuchte auch andere Orte. Meine Verwandten, die ihr Leben größtenteils in ihrem Dorf nahe Neustrelitz verbrachten, konnten nicht verstehen, wieso ich nach Dresden, Leipzig oder Potsdam reisen musste. Ich musste, denn ich kannte die Städte ausschließlich aus Büchern.
In Berlin lebte Tante Lotte, die ich persönlich nicht kannte. Ich schrieb ihr. Sie ließ mit der Antwort nicht lange auf sich warten. Auf ihrer Karte stand, ich könnte an jedem Wochentag kommen, außer dienstags. Also fuhr ich völlig aufgeregt zur Tante nach Berlin.
Der erste Eindruck von Berlin überwältigte mich, war einfach unbeschreiblich. Die Architektur, die Sehenswürdigkeiten, die Geschichte – ich kaufte Souvenirs, saugte alles mit meinem fotografischen Gedächtnis auf, um die Eindrücke an meine Schüler, Kollegen und Freunde weiterzugeben. Von Berlin aus unternahm ich Tagesausflüge nach Dresden, Potsdam und Leipzig.
Mit Tante Lotte traf ich mich in diesen Tagen am späten Abend, ab und zu beim Morgenkaffee. Das Wochenende vor meiner Abfahrt verbrachten wir zusammen. Wir besuchten den neueröffneten Palast der Republik. Ich sehe noch immer die verschiedenfarbigen Etagen vor mir, alles erschien mir prächtig. Unser Palast der Pioniere war dagegen ein schlichter Betonklotz, würdevoll war ausschließlich der Name.
Meine Abreise rückte näher. Nach dem Morgenkaffee und Tante Lottes üblichen Dankgebet, wagte ich endlich ihr die Frage zu stellen, die mir vom ersten Tag an auf der Zunge brannte. „Tante Lotte, du hast mir verraten, dass du jeden Dienstag deinen Klub besuchst und mit deinen Freundinnen fernsiehst, singst, tanzt, strickst und vieles mehr, sogar Karten spielst. Mein Vater, auch die älteren Verwandten in Mecklenburg halten Kartenspiele für Sünde. Wie vereinbarst du den Klubbesuch mit deinem Glauben?“ Tante Lotte erklärte, sie sei keine Baptistin wie meine Verwandten, die sich an strengere Regeln als die Protestanten halten, sprich Lutherischen wie sie. „Alles kommt von Gott.“, erklärte Tante Lotte. „Man kann Karten spielen, tanzen, fernsehen, wichtig ist, wie man damit umgeht. Wenn man seinem Geist und Körper, und niemandem Schaden zufügt, sondern Freude empfindet, warum sollte Gott das nicht gutheißen? Schau, wenn es dir schlecht geht, rufst du nicht Gott? Sagst du nicht ohne Bedenken beim Stoßen, Fallen, bei Schmerz: Oh, Gott! Warum denkst du an ihn nur in schwierigsten Situationen? Warum dankst du ihm nicht, wenn es dir gut geht? Einfach jeden Morgen Gott für die Nacht, für das Essen, die Gesundheit und den gut überstandenen Tag am Abend danken, das ist so einfach. Mehr erwartet Gott von dir nicht.“
Ihre Worte verfehlten nicht ihre Wirkung bei mir. In der Sowjetunion riefen selbst Atheisten bei jedem kleinen Missgeschick: „Boshe moi!“ – „mein Gott!“ Das Tischgespräch mit Tante Lotte prägte mein Leben. Jeden Morgen danke ich für die Nacht, die Gesundheit, den Menschen, den Händen, die das ermöglichen. Und nach dem Morgenkaffee denke ich an Tante Lotte.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.01.2023.
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