Klaus Mattes

Pfingstsamstag im Park / 6608

 

Weil Georgios mich am Pfingstsamstag anrief, er sei in der Stadt, zu Besuch bei der Mutter, kam ich ausnahmsweise auch mal ins schon etliche Monate existente Chuckie's hinein. Georgios war früher der Leiter der Reuenthaler Schwulengruppe gewesen, gewissermaßen in Vertretung einer richtigen Führungspersönlichkeit, mittlerweile wohnte er in Köln; einen Festen hatte er momentan mal wieder nicht.
 

Im Chuckie's waren dann verschiedene Schweigeminuten. Oder sagen wir, die Leute wagten nur zu flüstern; die Musik war so leise. Unsere Unterhaltung schleppte sich spannungslos. Wirklich vertraut waren wir uns nie gewesen. Eher war es ein Verhältnis gegenseitigen Respekts; unsere beiden Lebensstile waren sich immer schon fremd. Georgios machte mich auf ein paar Endzwanziger aufmerksam. Anscheinend lohne sich das Chuckie's mehr als das Blue Bossa und in Reuenthal tue sich also was. Ich guckte mir die Burschen der Reihe nach durch und fragte mich, ob er das ernst gemeint hatte. Mir waren sie so schnuppe wie noch was. Leidlich aussehende Angestellte, bei denen der adrette Provinzschwule und Bürokaufmann aus jedem ihrer unsichtbaren Blick lugte. Klare Sache, beiderseits waren wir uns eben leider zu alt.
 

Weil es am Weg zur Wohnung von Georgios Mutter lag und ich nach seinem Abschied sowieso noch hingegangen wäre, was er sich fast denken konnte, schlug Georgios, der früher nie dort verkehrt hatte, mir vor, wir könnten ein wenig durch den Park laufen. Beim Reingehen kam er mir erstaunlich ängstlich vor. Es sei ja stockdunkel. Aber bald hatte sich die Lage entspannt und als todlangweilig geklärt. Georgios meinte, er würde jetzt gehen und wünsche mir eine gute Zeit. „Meine Zielgruppe ist hier nicht.“ Zu viele Alte, die sich wie verklemmte Prinzessinnen aufführen, dachte ich. Von Köln her wäre er auch etwas verwöhnt meinte er. Ich: „Allerdings! Auf deine Zielgruppe wartest du hier vergeblich. Samstag ist sowieso der Reuenthal-Flucht-Tag, das weißt du genau.“
 

Er selbst hatte jahrelang nahezu jede Samstagnacht in Mannheim verlebt. Und doch hatte ich da was übersehen, wie mir dämmerte. Aufgrund der goldenen Tage unserer gemeinsamen Gruppenvergangenheit, war ich innerlich davon ausgegangen, ich hätte es mit einem 26- bis 28-jährigen Georgios zu tun. Was bedeutet hätte, dass er auf blonde 17- bis 24-Jährige gespitzt hatte. Und für solche befanden sich die Chancen bei Null. Aber tatsächlich befand Georgios' sogenanntes Beuteraster sich zwischen 28 und 36 Lebensjahren, gerne Brillenträger mit einer leicht intellektuellen Ausstrahlung (und „passiv“, was ihr Verhalten im Bett anbelangt, das noch in Klammern). Also kam den hübsch frisierten Kaufmännischen Angestellten im Chuckie's eine gewisse nachträgliche Relevanz doch noch zu.
 

Eben wollte er gehen, da setzte ein, was sich nach seinem Abgang dann sogar noch auswuchs. Das unbegreifliche Auftauchen von Georgios' Zielgruppe. Was für ein spezieller Abend! Eine Reihe von Leuten, die ich noch nie zuvor erblickt hatte! Mehrere Unbekannte! Unter ihnen ein schmächtiger Jungenhafter mit wuscheligem Lockenkopf und sommerlichem T-Shirt, der allerdings den Nachteil hatte, auf seinem Fahrrad festgewachsen zu sein.
 

Fahrradfahrer im Park drin sind ganz allgemein das Hinterletzte. Sie begreifen es selbst nicht, aber sie sind die Sklaven ihrer Mobilität. Wie eine bestimmte Sorte der Autofahrer bei Treffs an der Autobahn nie aus ihrer Blechbüchse aussteigen und lieber erst noch einmal bis zur nächsten Ausfahrt rasen, um dann den Rastplatz von der Gegenrichtung ungerührt von hinter dem Steuer zu begeiern, zwingt das Fahrrad den schwulen Parkjäger, pausenlos durch die Gegend zu gurken, um den vollständigen Überblick über alle Bankgruppen und Mauseldickichte zu behalten. Nur ein Radler kann jeden einzelnen Parkbesucher irgendwann halbwegs im Licht ertappen und weiß darum sicher, wo der Jüngste und wo der Schönste momentan steckt.
 

Dieses Verhalten schlug bei dem Wuschelkopf voll durch. Ganz unverfroren rollte er im Schritttempo bis mitten ins hinterste Fickgebüsch, um die dort Beschäftigten entsprechend seiner eigenen Bedürfnisse zu taxieren. Ganz flott war er dann wieder weg, wenn einer ihm eine verpassen oder sich ihm an den Hals werfen wollte.
 

Aber eine psi-hafte Urteilsschärfe oder ein erstaunlicher Erfahrungsschatz über die am Ort zu gewärtigenden Genossen setzte ihn in Stand, exakt in Georgios die einzige Ausnahmegestalt zu identifizieren, die an diesem Abend Georgios eben auch war. Darum blieb der Radler, über seinen Lenker gebeugt, dann fest an einem Fleck, der sich etwa zwanzig Meter von uns beiden weg befand. Ich zu Georgios: „Na, der wär dann doch noch was!“ Georgios: „Ja vielleicht, aber ich bin müde. Viel Spaß noch beim Wandern!“ Ich hatte ihm von dem schwulen Wandertreff erzählt, zu dem ich immer ging.
 

Kaum war Georgios fort, kommt der magere Wuschel zu mir, steigt tatsächlich vom Sattel herunter und fragt mich, ob der, mit dem ich gerade geredet habe, jetzt weggegangen wäre. Ich: „Nach Hause zu seiner Mutter, den siehst du hier nicht wieder, das war ein Reisender aus Köln.“ Ich meine, er war einfach mager, unter dreißig und noch frisch. Auch wenn er wegen Georgios gekommen war, schwante mir der Hauch meiner Chance. Er meinte, der, mit dem ich geredet hätte, sei doch, wenn er das richtig beobachtet habe, ein Typ so Mitte zwanzig. „Nee, schon etwas älter, nur nicht so alt wie ich“, sagte ich säuerlich. Georgios ist allerdings vierzig, aber wenn er mich schon nicht will, fand ich es halbwegs nett, diesem Flotten für den Rest der Nacht eine unerfüllbare Sehnsucht nach einem Dreißigjährigen einzuflößen.
 

Es wurde nun immer belebter und dann stand auch noch ein echter 24-Jähriger neben uns, den ich oberflächlich kenne, der allerdings recht dick ist. Die Nähe seiner eigenen jugendlichen Altersgruppe, er sagte, er wäre siebenundzwanzig, innerlich dachte ich gleich, holla, wie viel muss ich da draufschlagen, beflügelte den Radfahrer und mit einem Mal kam er ins Schwafeln und hatte vergessen, dass er fahren und den Betrieb verfolgen musste.
 

Wie es gern so ist, diente mehr oder weniger alles, was er sagte, dazu, ihn selbst im schönsten Licht zu zeigen. Ein ganzes Dreivierteljahr, erzählte er uns, sei er fest mit einem Siebzehnjährigen zusammen. Das müsse man fabelhaft nennen, wenn etwas bei so einem Jungen und so einem Altersunterschied so lange halte. Mittlerweile wusste ich, dass ich meine schwachen Hoffnungen mir abschminken konnte. „Heut hab ich aber Knatsch mit meim Jungen.“ (Hier in der Gegend sagen die heterosexuellen Väter fortgeschritteneren Alters über ihre fast oder ganz erwachsenen Söhne oft „mei Jonger“.) Sein Siebzehnjähriger habe an diesem einen Tag sieben Mal, sieben Mal, das muss man sich vorstellen, bei seiner Mutter angerufen, also der des Radbesitzers, und nachgefragt, ob er bei ihr aufgetaucht wäre. Da bringe man so eine Frau doch auf weiß was für Gedanken!
 

Das ging dann noch eine Weile weiter. Aber es wird mir hier momentan zu lang. Nur sei noch bemerkt, dass dieser jungenhafte, siebenundzwanzigjährige Radsportler später in der gleichen Nacht recht lässig seinen Schwanz von sich weghielt, damit er geblasen werden konnte – und zwar weder von einem Jungen noch wenigstens von einem Immer-noch-Jungwirkenden. Und auch nicht von mir.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.01.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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