Michael Dissieux
Der Schwarze Flüsterer
"Die letzte Straße gehst Du nicht alleine:
Dunkelheit ist
Dein Begleiter..."Wie oft bin ich IHM schon begegnet...
Und wie oft ist ER still und grausam an mir vorbei gegangen...
Ich
erinnere mich an jedes einzelne Mal, an jede unselige Begegnung. Sie sind in
mein Gedächtnis gebrannt wie die dunkelsten Alpträume.
ER hat mein Leben
genommen, ohne es jemals wirklich mitzunehmen.
Aber mit jedem Mal, daß
ich IHN sah, hat ER sich mir ein Stückchen mehr genähert.
Schritt für
Schritt; Tag für Tag...
Ich war ein Kind, als ich IHN das erste Mal sah.
Wie sehr erinnere ich mich an diese erste Begegnung; mit all ihren
Schrecken und all den Ängsten, die seit jenem Sommer in mir wuchsen.
Es
war Sommer, ich war acht Jahre alt und ging an der Hand meiner Mutter die
Straße unseres kleinen Dorfes entlang. Ich erinnere mich, daß es an jenem
Tag drückend heiß war, und ich...
...kurze Hosen trage.
Ich
hasse es, kurze Hosen zu tragen, denn ich habe sehr dünne Beine - Stelzen,
wie meine Freunde zu sagen pflegen - wie meine gesamte Erscheinung sehr
schmächtig ausfällt. Aber meine Mutter hat darauf bestanden, daß ich an
diesem heißen Sommertag kurze Hosen trage.
Ich liebe es, mit meiner
Mutter durch die Straßen zu laufen; es gefällt mir, wenn sie sich angeregt
mit anderen Frauen unterhält, auch wenn ich nicht verstehe, worüber sie
reden.
Noch mehr mag ich es, wenn dabei die größte Aufmerksamkeit mir zu
Teil wird.
Es ist später Nachmittag - ich weiß es noch, als sei es erst
wenige Stunden her - und der Himmel sticht tiefblau auf meine Mutter und
mich hernieder.
Sie hat mir ein Eis gekauft, an dem kleinen Eis-,
Waffel- und Zuckerwattestand auf dem Parkplatz vor dem neuen Einkaufsmarkt.
Zitronengeschmack, den ich am liebsten mag. Damit hat sie mir diesen Tag zu
etwas ganz Besonderem gemacht. Das sind die seltenen Momente, an denen es
nur uns Beide gibt, meine Hand fest in der ihren.
Es sind Tage, die man
selbst mit der Naivität eines Kindes ewig halten möchte.
Dann sehe ich
IHN. Zum ersten Mal in meinem Leben.
An der Straßenecke; dort, wo der
alte Mr. Peabody seinen kleinen Laden mit den unzähligen Schrauben und
Nägeln in den verstaubten, dunklen Regalen besitzt, steht ein Junge von
ungefähr 10 Jahren. Ich habe ihn schon ein paar mal in unserem Dorf gesehen;
kenne aber seinen Namen nicht.
Heute weiß ich ihn und werde ihn zeit
meines Lebens nie wieder vergessen...
Er trägt kurze Hosen, so wie ich,
und ein T-Shirt mit dem Abbild von Donald Duck.
Ich kann mich noch an
jede Einzelheit erinnern, als könnte ich ihn greifen. Etwa, daß seine Hosen
rot sind, und sein T-Shirt weiß; Donald trägt natürlich seine übliche
blauschwarze Matrosenmütze. All das hat sich unauslöschlich in mein
Gedächtnis geprägt.
Neben dem Jungen steht ER.
Scheinbar
teilnahmslos. ER hätte der Vater des Jungen sein können. Doch ich weiß
sofort, daß ER es nicht ist. Irgend etwas stimmt nicht mit IHM; irgend etwas
ist anders.
Irgend etwas läßt mich selbst an diesem heißen
Sommernachmittag, mit dem Zitroneneis in der einen und meiner Mutter an der
anderen Hand, frieren.
Ich kann meinen Blick nicht von IHM abwenden; ER
zieht mich mit entsetzlicher Faszination in meinen kindlichen Bann.
ER
steht einfach nur da, ungefähr zwei Schritte neben dem Jungen. Nicht mehr
als ein Schatten.
Was ich an jenem Tag gesehen habe, werde ich noch
viele Jahre später leugnen, vielleicht aus Angst, den Verstand zu verlieren,
sollte ich vor mir selbst die Wahrheit eingestehen.
Vielleicht aber auch
nur aus nackter Furcht vor IHM...
Selbst in meinen Träumen, ein ganzes
Leben nach dieser ersten Begegnung, sehe ich nichts weiter als das, was ich
an diesem Nachmittag gesehen, oder zu sehen geglaubt, habe; ein schwarzer
Schatten, kein Gesicht, keine Augen.
ER steht einfach neben dem Jungen
mit dem Donald Duck - Abbild auf der Brust, unbeteiligt, fast unsichtbar.
Und dann, als ich mit meiner Mutter schon längst an Mr. Peabodys Laden
vorbeigegangen bin, ich aber immer noch über die Schulter zurück zu IHM
schaue, weil ich als kleiner Junge nicht anders kann, sehe ich, wie ER sich
kurz zu dem Jungen herunter beugt, wie es ein Vater tun würde, um mit seinem
Sohn zu reden. ER scheint ihm etwas ins Ohr zu flüstern und dann...
...dann läuft der Junge plötzlich los.
Wie sehr kann ich mich noch
an den leeren Gesichtsausdruck des Jungen erinnern...
Ich bleibe stehen,
spüre ein Ziehen an meinem Arm, höre meine Mutter, wie sie etwas zu mir
sagt; Worte, die ich höre, aber nicht verstehe. Und dann bleiben wir beide
stehen.
Mein Zitroneneis tropft kühl auf meine Hand, als ich den Wagen
auf den Jungen zu rasen sehe. Dann reißt mich meine Mutter schmerzhaft
herum, verbirgt mein Gesicht in ihrem Schoß, das Eis fällt aus meiner Hand,
ich höre das feuchte Klatschen auf den heißen Pflastersteinen - alles, als
wäre es erst gestern gewesen - und dann höre ich den dumpfen Aufprall, den
unterdrückten Aufschrei meiner Mutter und das Geräusch, als etwas Schweres
auf harten Asphalt geschleudert wird.
Meine Mutter hält mich krampfhaft
fest; es tut fast weh, ihre Hände auf meiner Schulter zu spüren. Und immer
wieder stammelt sie leise Worte, die ich nicht verstehen kann.
Es
gelingt mir meinen Kopf zu drehen, so daß ich an meiner Mutter vorbei
schauen kann.
Ich sehe den Wagen, der quer auf der Straße vor Mr.
Peabodys Laden mit Nägeln und Schrauben steht - ein ausländisches Fabrikat,
das ich damals noch nicht kannte - ich sehe ein rotes Hosenbein, das unter
dem Wagen hervor schaut....aber IHN sehe ich nicht.
Unzählige Menschen
kommen aufgewühlt und wild gestikulierend zur Straßenecke gelaufen.
Aber
ER ist verschwunden.
Als hätte es IHN nie gegeben, als wäre da nie ein
Schatten gewesen. Still, teilnahmslos und schrecklich.
An dem Nachmittag
weiß ich nicht, was mit dem Jungen mit den roten, kurzen Hosen und dem
weißen T-Shirt geschehen ist. Aber in der Schule habe ich dann Tage später
erfahren, daß der Junge noch auf der Straße vor Peabodys Laden gestorben
war.
Ich habe meiner Mutter nie verraten, was ich an jenem Nachmittag
gesehen habe. Und auch sonst habe ich niemanden vom IHM erzählt, der neben
dem Jungen stand und ihm etwas zugeflüstert hatte.
Denn ich war mir
sicher, daß IHN niemand, außer mir, sehen konnte...
Heute sitze
ich hier, am Fenster, das auf einen grauen, stillen Hof hinaus führt, und
sehe dabei zu, wie langsam die Nacht hereinbricht.
An jenem Tag hat ER
ein erstes kleines Stückchen meines Lebens genommen. In meiner kindlichen
Phantasie nannte ich IHN damals den Schwarzen Mann, und ER verkörperte all
die schlimmen Alpträume meiner Kindheit, die mich von diesem Tag an plagten.
Ich weiß bis heute nicht, ob ER wirklich der Schwarze Mann ist.
Aber
eines ist ER ganz sicher für mich, und so nenne ich IHN bis heute; den
Flüsterer.
Das zweite Mal, daß ich IHN sah, war neun Jahre später.
Ich war auf dem Midway Junior College eingeschrieben, hatte eine
wundervolle Freundin, die mich zum glücklichsten Menschen unter der Sonne
machte, und meine Zukunft bestand darin, es irgendwann einmal in die
heiligen Räume einer Anwaltskanzlei zu schaffen. Und zwar auf den ledernen
Sessel
hinter dem Schreibtisch.
Es war an einem kalten
Herbstmorgen, kurz nach den Ferien, als ER das zweite Mal in mein Leben
trat.
In diesen Ferien hatte ich meiner Freundin Meg zum ersten Mal
meine Liebe gestanden, und...
...zusammen stehen wir auf dem
weitläufigen Rasen vor dem College inmitten einer Schar Teenager, die
entweder aufgeregt miteinander tuscheln, oder gebannt und mit offenen
Mündern zum Dach der Schule starren.
Ich kann mich noch so klar darin
erinnern; wir stehen direkt neben dem weißen Fahnenmast. Ein weiteres
Mosaiksteinchen meiner Erinnerungen, das mich ein Leben lang begleiten und
foltern wird.
Die Stars and Stripes flattern im Herbstwind, und Meg hält
sich mit der einen Hand an dem kalten Stahlmast fest, während sie die andere
tief in der Tasche meiner Jacke vergraben hält.Der Unterricht hat längst
begonnen, aber eine Vielzahl der Schüler steht um uns herum auf dem
geheiligten Rasen des College, während andere sich an den Fenstern drängen
und den Hals verdrehen, um einen Blick zum Dach des Gebäudes zu erhaschen.
Dort oben, vor dem trostlosen Grau des Himmels, steht Tommy Duncan. Ein
Junge, der im Mathematikkurs eine Reihe vor mir sitzt und alles andere als
einen Vorzeigeschüler verkörpert. Ich weiß von Meg, die ihn von diversen
Kursen näher kennt, daß er mit Drogen zu tun hat. Und den üblichen
Collegegerüchten zufolge soll er von seinem Vater und dessen Bruder schwer
mißhandelt werden. Ich selbst habe ihn schon des öfteren mit bandagierten
Armen und schwarzen Ringen unter den Augen durch die Schulflure laufen
sehen.
Tommy ist ein Junge, der mich im Grunde nicht sonderlich
interessiert. Weder er selbst, noch sein hartes Los, welches das Leben für
ihn ausgesucht hat. Es gibt ihn, ich akzeptiere ihn, und das ist auch schon
alles, was mich mit Tommy Duncan verbindet.
Ihn an diesen tristen
Morgen, in der Kälte, auf dem Dach des College zu sehen, überrascht mich
nicht. Er steht ganz vorn am Rand und starrt zu uns herunter.
Seine
langen, schwarzen Haare wehen im Wind als tanzten unzählige, dunkle
Schlangen, ähnlich denen der Meduse, um seinen Kopf. Und ich könnte heute
noch schwören, daß ich, trotz der Entfernung zwischen Tommy und mir, ein
irres Glitzern in seinen Augen sehen konnte.
Er läuft am Rand des Daches
auf und ab, und des öfteren gewinnt man den Eindruck, daß Tommy ins
Straucheln geraten könnte. Mit Sicherheit gibt es an diesem Morgen, auf dem
Rasen des Midway Junior College, nicht wenige, die genau auf diese Art
makaberer Unterhaltung hoffen. Tommy beginnt dann mit den Armen zu rudern,
was entsetzte Aufschreie der Mädchen um uns herum zur Folge hat.
Wenn er
mit den Armen versucht, sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, dann tanzen
seine Haare noch wilder und ekstatischer im Wind.
Er bleibt am äußersten
Rand des Flachdaches stehen und fährt sich mit der Hand über sein Gesicht,
das blaß und abwesend wirkt; selbst auf die Entfernung hin.
Mir wird
plötzlich klar, daß die Gerüchte um seinen Drogenkonsum keineswegs erfundene
Geschichten sind.
Einige Meter neben uns steht Mr. Peters, der
Geschichtsprofessor und Vertrauenslehrer der Schule. Er hält ein Megaphon in
der Hand und versucht mit verzerrter und kratzender Stimme auf Tommy
einzureden.
Man sieht ihm seine Hilflosigkeit an, doch er will sich
inmitten seiner Schüler keine Blöße geben, und so setzt er seine Bemühungen
mit Worten fort, die man, dank der Lautstärke des Megaphons, kaum verstehen
kann.
Selbst heute noch habe ich die durchdringende Stimme von Mr.
Peters im Ohr; wie oft hat sie mich des nachts unsanft aus dem Schlaf
gerissen.
Die ganze Szenerie dieses Herbstmorgens erscheint mir wie ein
abstruser Alptraum. Die geisterhafte Gestalt von Tommy Duncan, die dunklen,
regenverhangenen Wolken, dazu ein kalter Wind, der an unseren Hosen und
Collegejacken reißt.
Der Morgen ist zu bizarr, als daß man ihn voll und
ganz realisieren könnte. Er scheint zu weit entfernt; ein Tag, der nicht in
das geordnete und schematische Leben an der Schule paßt.Wahrscheinlich hätte
ich die Tragweite der Ereignisse nie ganz verstanden, wenn ER nicht gewesen
wäre.
ER steht plötzlich da; wie ein Schatten neben der untersetzten
Gestalt von Tommy Duncan.Ich weiß sofort, daß ER es ist.
Der Alptraum
meiner Kindheit. ER ist nicht mehr als eine finstere Silhouette vor dem
tristen Grau des Himmels.
Ich starre mit schreckensweiten Augen zu IHM
empor, und das gefräßige Gefühl, daß ER zu mir herunter schaut, daß seine
Augen die meinen suchen, ist so erschreckend real wie es der kalte Wind an
diesem Morgen ist.
Ich fühle mich, als würde ich aus einem tiefen Traum
erwachen. Die Geschehnisse um Tommy Duncan; die interessierte
Teilnahmslosigkeit, die mich bis zu diesem Zeitpunkt begleitet hat,weicht
einer bizarren, grellen Realität, die mich blendet.
IHN wiederzusehen
erscheint mir wie ein Schlag, der mich taumeln läßt, so daß ich mich mit
einer Hand am Fahnenmast festhalten muß.
Tommy Duncan bemerkt die
Gestalt neben sich nicht. Er läuft unablässig an der Kante des Daches
entlang, gerät ins Straucheln, balanciert mit den Armen und fährt sich mit
beiden Händen durch die langen Haare, als versuche er zu realisieren, daß er
den Mittelpunkt der Junior College Showeinlage darstellt.
Der Schatten,
der keine zwei Schritte neben ihm auf dem Dach steht, scheint für Tommy
nicht existent.
Die Jungen und Mädchen um mich herum, Mr. Peters, der
unablässig auf Tommy einredet, selbst Meg; sie reagieren nicht im geringsten
auf die bizarre Erscheinung, die plötzlich neben Duncan aufgetaucht ist.
Die Erinnerungen an jenen Tag vor neun Jahren, an der Hand meiner
Mutter, vor dem kleinen Laden des alten Mr. Peabody, steigt wie brackiges,
stinkendes Wasser in mir auf.Die Gedanken an den Jungen mit den roten Hosen
und dem weißen Donald-Duck - T-Shirt, an sein Bein, daß vor dem Wagen auf
der Straße hervor geschaut hat, überrollen mich wie eine Woge aus purem Eis.
Und dann beugt sich die Gestalt zu Tommy Duncan. Ihre Bewegung erscheint
mir langsam, als würde jemand die Zeit anzuhalten versuchen. Selbst die
Kälte spüre ich nicht mehr. Megs Hand in meiner Jackentasche, der kalte
Stahl des Fahnenmastes; all das verschwindet in einem Strudel aus Farben und
Geräuschen, hervorgerufen durch Mr. Peters verzerrte Metallstimme.
Da
ist nur noch ER. Der Schwarze Mann auf dem Dach unserer Schule. Und Tommy
Duncan, der plötzlich wie versteinert stehen bleibt ... und den Worten des
Flüsterers lauscht.Mit einem Schlag wirkt Tommy ganz ruhig; seine Hände, die
gerade noch mit unbeherrschten Bewegungen durch die Haare fuhren, sinken
langsam an der Seite herab, sein Gesichtsausdruck verliert das irre Glitzern
und wird leer und emotionslos.
Mr. Peters Stimme verklingt, das Tuscheln
der anderen um uns herum verebbt. Zurück bleibt eine fast gespenstische,
greifbare Stille, die nur durch das rhythmische Schlagen der Stahlseile am
Fahnenmast unterbrochen wird.
Dann springt Tommy Duncan.
Ohne ein
Wort, ohne einen letzten, anklagenden Schrei auf den Lippen.
Er stürzt
still und schwer in die Tiefe, und als sein Körper mit einem dumpfen,
fleischigen Klatschen auf dem Kies aufschlägt, der die Schule vom Rasen
trennt, bricht um uns herum das Chaos los.
Mädchen gleichsam wie Jungen
beginnen zu schreien und von Tommys zerschmettertem Körper zurückzuweichen.
Andere drängen in perverser Neugierde zum Kiesweg hin, dessen Steine sich
rot färben.
Mr. Peters starrt mit ungläubigen Augen auf den reglosen
Tommy, das Megaphon entgleitet seiner Hand und fällt mit einem letzten
metallischen Schrei zu Boden.
Er hat versagt; das wird wohl der einzige
Gedanke sein, der ihn in diesem Moment beherrscht.
Ich habe Meg zu mir
hingezogen, versuche sie zu beruhigen, indem ich durch ihr Haar streiche.
Ihr Körper zittert unter meinen Händen.
Das alles berührt mich nur noch
am Rande; die Schreie, Mr. Peters, die Kälte, die mein Gesicht taub werden
läßt, Meg - alles verschwindet in einem Strudel aus Entsetzen und den
Erinnerungen an jenen Tag vor neun Jahren.
Ich blicke zum Dach unseres
Colleges empor, dort, wo Tommy seinen letzten, entscheidenden Schritt getan
hatte.
Tommy Duncan liegt in seinem eigenen Blut, mit gebrochenen
Knochen vor den interessiert erschreckten Augen seiner Freunde.
Der
Flüsterer aber, der Schwarze Mann auf dem Dach, ist
verschwunden...
Tommy Duncan bestimmte das Leben auf dem Midway
Junior College noch viele Monate, bis er schließlich von anderen
Grausamkeiten in den Hintergrund gedrängt wurde.
Wo man in jenen Tagen
auch hinkam, jedes Gespräch, jeder Blick und oftmals auch jedes Lachen
drehte sich um ommy, der vom Dach sprang´.
Doch niemand, nicht einmal
meine Freundin Meg, erwähnte auch nur einmal den dunklen Schatten, der zu
Tommy geflüstert hatte, bevor dieser still in die Tiefe sprang.
Ich habe
Meg nie danach gefragt, was sie an jenem Morgen gesehen hatte.
Bis zu
dem Tag, als wir uns trennten - ungefähr ein Jahr nach der Tat von Tommy
Duncan, habe ich sie nach dem Flüsterer fragen wollen.
Doch ich hatte es
nie getan.
Seit diesem Morgen auf dem Rasen unserer Schule erschien ER
mir noch einmal.Es vergingen viele Jahre, und ich bemerkte in dieser Zeit,
daß in dem Ausspruch ie Zeit heilt alle Wunden´ durchaus etwas Wahres
steckte. So sehr mich die Alpträume der Kindheit gepeinigt hatten, und so
sehr ich unter der Erscheinung des Flüsterers auf dem College auch litt - so
sehr, daß sich Meg zu guter Letzt von mir trennte, da ich einfach nicht mehr
ich selbst gewesen war - so gut konnte ich mit dem Schwarzen Mann umgehen,
als ich älter wurde.Die Alpträume hörten auf, als ich dazu übergegangen war,
den Flüsterer als Teil meines Lebens zu akzeptieren. Mir war klar geworden,
daß ich an meinem Verstand zu Grunde gehen würde, wenn ich ihn nicht öffnete
und die Erscheinung einließ.
Ich freundete mich mit der Tatsache an, daß
ich etwas sehen konnte, was für sonst niemanden präsent war, und ich spürte
tatsächlich eine leichte Besserung meines psychischen Wohlbefindens...
...bis zu einem Nachmittag, achtzehn Jahre nach dem kalten Herbstmorgen
auf dem College.Mein Großvater hatte gerade seinen 85. Geburtstag gefeiert.
Seine Familie, wie auch seine Freunde hatten ein großes Fest für ihn
ausgerichtet; es wurde viel getrunken und gegessen, getanzt und gelacht, und
selbst mein Großvater, der an diesem Tag einen seiner wenigen klaren Tage
hatte, feierte ausgelassen und tanzte mit den Frauen seiner Enkel.
Tags
darauf erlitt er einen Herzanfall; die ganze Aufregung dieses Festes war
zuviel für ihn gewesen. Er wurde ins City Memorial Hospital eingeliefert, wo
ich ihn drei Tage nach seiner Herzattacke....
...besuche.
Er
scheint zu schlafen, seine Hände sind friedlich über der Brust gefaltet, was
mir auf den ersten Blick sehr makaber erscheint. In seinem Handrücken steckt
eine Infussionsschlauch, der zu einer Flasche mit einer klaren Flüssigkeit
führt. An Kopf und Händen sind mehrere Elektroden angebracht, deren Kabel
allesamt an eine Maschine angeschlossen sind, die Herz- und Gehirnströme
aufzeichnet.
Mein Großvater tut mir unendlich leid. Das Bild seiner
Feier vor Augen, als er lachend tanzte, so gut es ihm möglich war, erscheint
mir die Szene in dem sterilen Krankenzimmer wie die Zurschaustellung eines
billigen Dramas.
Ich kenne den Mann als starken und gerechten Menschen,
der zeit seines Lebens für mich da war und der immer eine Antwort auf all
meine Probleme hatte.
Ich habe gehofft, daß ich mit ihm reden kann, doch
er schläft tief und fest, seine Augen zucken hinter seinen geschlossenen
Lidern, als würde ihn ein böser Traum heimsuchen; doch sein Atem geht
langsam und regelmäßig.
Ich verstehe nichts von den medizinischen
Apparaten, an die mein Großvater angeschlossen ist, aber die Kurven, die der
Bildschirm anzeigt, sind gleichbleibend und einheitlich.Als ich von der
Herzattacke erfahren habe, hat mich die Nachricht völlig unvorbereitet
getroffen und ich hatte mir große Sorgen um meinen Großvater gemacht. Mich
überfiel die Angst, ihn nie wieder so zu sehen, wie ich ihn kannte und
liebte. Doch ihn jetzt scheinbar friedlich in seinem Krankenbett liegen zu
sehen, beruhigt mich, und ich spüre, wie der Druck der Angst seine Klauen um
mein Herz lockert. Auf den Fluren des Krankenhauses wird es bereits still,
die Besuchszeiten sind lange beendet, und so verabschiede ich mich mit einem
Kuß auf die Stirn von dem alten Mann.
Es ist bereits dunkel und die Luft
führt die eisige Kälte des nahen Winters mit sich.
Ich schlage den
Kragen meines Mantels hoch und versuche so schnell es geht zu meinem Wagen
zu gelangen, den ich auf dem weitläufigen Parkplatz hinter dem Krankenhaus
abgestellt habe. Es sind nicht mehr viele Wagen hier geparkt und das
geschäftige Treiben der Ärzte und Besucher ist größtenteils bereits verebbt.
Deshalb bleibe ich neben meinem Wagen noch einmal stehen und werfe einen
Blick zurück auf die Front der beleuchteten Zimmer, von denen das erste das
Zimmer meines Großvaters ist. Ich kann ihn durch die Gardinen vor dem
Fenster sehen, wie er friedlich und mit vor der Brust gefalteten Händen in
seinem Bett liegt. Selbst die Schläuche und den Apparat kann ich auf die
Entfernung hin erkennen.
Und dann sehe ich einen dunklen Schatten, der
neben meinem Großvater auftaucht.
ER steht da, wie eine finstere
Silhouette, und dieses bohrende Gefühl, daß ER mich durch das Fenster
beobachtet - ähnlich der Gewißheit, daß ER mich vom Dach des Colleges
anstarrte - stellt sich fast augenblicklich ein.
Mein Körper scheint zu
gefrieren, und mit einem grauenvollen Schlag kehren all die Ängste und
Bilder zurück, die ich besiegt zu haben glaubte.
Plötzlich sehe ich
wieder den Jungen mit dem Donald Duck - T-Shirt vor meinen Augen, ich sehe
Tommy Duncan, wie er leblos und still wie eine fallen gelassene Puppe vom
Dach stürzt...und ich sehe meinen Großvater, wie er friedlich schlafend in
seinem Bett liegt.
ER steht völlig regungslos neben dem Krankenbett; man
hätte IHN für den Schatten einer Krankenschwester oder eines Arztes halten
können.
ER erscheint mir wie ein schweigendes Mahnmal, ein stiller
Wächter.
Und dann - meine Augen hängen wie gebannt auf der Erscheinung -
beugt er sich zu meinem Großvater herunter. Es erscheint, als wolle er ihm
einen Kuß auf die Stirn drücken, wie ich es selbst erst vor wenigen Minuten
getan habe. Aber ich weiß, daß ER nicht gekommen ist, um die Stirn meines
Großvaters zu küssen.
ER flüstert...
Mir ist, als könnte ich seine
unheilschwangeren Worte in meinem Kopf hören. Die Kälte des Abend hält mich
mit ihren eisigen Fingern gefangen, doch als ich sehe, wie ER sich über das
Bett beugt, reiße ich mich von seinem Anblick los und laufe auf das
Krankenhaus zu.
Der Parkplatz erscheint mir unendlich, und die kalte
Luft schneidet in meine Lungen.
Doch der groteske Anblick des schwarzen
Flüsterers drängt mich unnachgiebig nach vorn.ER hat sich den Jungen vor
Peabodys Laden geholt, ER hat sich Tommy Duncan geholt; ER soll nicht das
bekommen, was mir mit am wichtigsten in meinem Leben ist. ER hat mir viel
zerstört, hat mir die dunkelsten Träume geschickt. Diesmal soll ER nicht
gewinnen. Nicht, wenn der Einsatz das Leben meines Großvaters ist.
In
der Empfangshalle des Hospitals rufe ich nach einem Arzt, ich stolpere über
einen Rollstuhl, der vor einem Fahrstuhl abgestellt ist, und dann habe ich
schweratmend das Zimmer erreicht, das ich vor wenigen Minuten erst verlassen
habe.
Mit zitternden Händen reiße ich die Tür auf, ich starre auf meinen
Großvater, der nach wie vor mit gefalteten Händen in seinem Bett liegt, höre
das penetrante Piepsen des Apparates, mit dem mein Großvater verbunden ist
und sehe im gleichen Moment, daß das Flackern seiner Augenlider aufgehört
hat.
ER ist verschwunden, als wäre ER nie in diesem Raum gewesen.
Als die Ärzte und Schwestern endlich das Zimmer meines Großvaters
erreichen, finden sie mich zusammengesunken und mit leeren Blick an dem
kleinen Tisch sitzen, auf dem einige Zeitschriften liegen, die mein
Großvater nie gelesen hat...
Ich hatte meinen Großvater geliebt,
und als ich mit ansehen mußte, wie ER meinen Großvater holte, legte ER die
erste Saat Haß in mir.
Den Jungen vor Mr. Peabodys Geschäft habe ich
nicht gekannt, und auch Tommy Duncan war mit letztendlich nicht wichtig.
Aber den alten Mann hatte ich geliebt, mein Leben lang; er war einer der
wichtigsten Menschen in meinem Leben, dem ich viel zu verdanken hatte.
Und ER hat ihn geholt.
Vor meinen Augen.
Und ich hatte es nicht
verhindern können.
Seit jenem Tag sah ich IHN anders. ER war für mich
nicht mehr der Schwarze Mann, wie ich IHN in meiner Kindheit nannte. Den
Schwarzen Mann konnte man vertreiben, wenn man ihn als Kind des nachts unter
dem Bett oder im Wandschrank vorfindet.
Und ER war auch nicht mehr der
Flüsterer. Denn ER tat mehr als nur flüstern.
Er riß Löcher in mein
Leben und labte sich an den Wunden, die er in der Nacht, als Großvater
starb, hinterlassen hat.
Von jenem Tag an, als ich IHN das letzte Mal
vom Parkplatz des City Memorial Hospitals aus sah, wurde er zu meinem
Gefährten. Ich verlor die Angst vor ihm, und auch den Respekt. Denn Haß ist
eine Droge, die den Verstand verdunkelt.
Ich weiß, daß ER den Tod
bringt, daß ER verletzt und Schmerzen sät.
ER ist der finstere
Begleiter, der Dir den letzten Weg offenbart, den Du gehen wirst.
ER
nimmt Dich bei der Hand, Du spürst seine kalte Berührung, und Du hörst seine
leisen Worte.
ER hat mir mein Leben genommen, Stück für Stück...
...und jetzt steht er in der Ecke meines Zimmers, nicht mehr als ein
Schatten in der Nacht.
Draußen ist die Dunkelheit herein gebrochen ...
und die Nacht selbst ist zurückgekommen, um ihr Werk zu vollenden.
Nach
all den Jahren, den Schmerzen und den Träumen; den Schreien und dem Weinen,
das mich des nachts begleitete.
ER steht in der Dunkelheit, ein stiller,
obskurer Schein, teilnahmslos...und wartet.
Es ist das letzte Mal, daß
ich IHN sehe. Ich wende mich ab, starre aus dem Fenster in eine Nacht, die
keinen Morgen mehr besitzt...
...und ER neigt sich zu mir...und
flüstert.
Die letzten Worte, leise und sterbend; jetzt kann ich sie
verstehen, mächtig und kalt.
Und die Nacht wird zur Ewigkeit...
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2003.
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