Wer auch immer den Satz „Nur fliegen ist schöner“ erfunden
hat, war absolut korrekt, denn oh mein Gott… Meine Haare, gestylt vom
Wind, unter mir, weites Land, meine Hände, fast abgefroren und um mich
herum Milliarden Schneeflocken, wunderschön, glänzend.
Ist es ein Traum? Ist das echt? Sicherlich bin ich im Delirium, etwas so
Schönes existiert ja wohl nicht.
Falle ich? Fliege ich?
Schwebe ich? Flattere ich mit meinen Armen werde ich der schönste Vogel des
gesamten Himmels werden. Schließe ich meine Augen, so gehört die
ganze Welt mir, so ist die ganze Welt ich.
Und noch nie hätte
ich mir etwas anderes gewünscht.
Ich kann kaum atmen, doch nie
fühlte ich mich jemals lebendiger!
Und zeitlos scheint dieser
Flug. Ewig werde ich schweben, unter den Wolken, über den Wolken, in den
Wolken. Im endlos schönen Schneegestöber. Fliegen…
Moment.
Zeit…
Moment.
Ich falle
noch nicht mein ganzes Leben, oder nicht? Das würde keinen Sinn ergeben,
oder?
Wieso sollte ich so viel vom Leben dort unten wissen, ohne
jemals dort gewesen zu sein?
Ich kenne das Leben einer Person.
Hände so wie ich sie vor mir sehe, Gedanken, gedacht wie mein. Ein Leben
wie kein zweites. Aber anders. Ein Leben dort unten. Nicht fliegend. Gebunden
durch die eigene Zeit, nicht durch die eigene Höhe. Oder doch?
Wenn wir ein und dieselbe Person sind, müsste diese Person hier fliegen.
Schier endlose Meter über dem Boden. Nicht fliegen, fallen. Doch wo ist
diese Person? Die Person mit den Händen und mit den Gedanken? Wie findet
diese Person den Schnee, wie die Kälte, wie die Luft? Oder ist diese Person
nicht geflogen, sondern gefallen? Falle ich? Wie denn? Ich fliege doch! Und ich
fühle die Kälte. Und ich rieche den Schnee. Und ich…
falle…
Moment.
Diese Person… Das bin nicht ich, das ist jemand aus einer anderen
Zeit. Eine Person, die noch nie gefallen ist, eine Person, auf dem Boden, das
Schneetreiben beobachten. Ungestört. Flach. Und eine andere Person fliegt.
Fällt. Schnell. Schneller. Endlos.
Bis zum Ende.
Der Boden.
Eine weißglitzernde Oberfläche, entfremdet
von dem was sich dort drüber befindet. Und mitten drin… Mein
Schatten, ich, eine Person, die mir ähnlich sieht aus der Zukunft.
Eine Person, die nicht mehr fliegt, eine Person, die liegt. Ohne
Hände, ohne Atem, im weißen Schnee. Im roten Schnee. Im
wunderhübschen Schnee. Im Schnee, gefallen aus endlosen Höhen,
gefallen in endlosen Mengen. Mit mir dazwischen, wie ich alles sehen und
überall sein kann, ich, anmutiger Vogel, über den Welten, über
Leben und Tod. Zwischen Leben und Tod, in einer Welt, die ich mein Eigen nenne.
Dem Boden endlos nahekommend, doch nie ankommend, mächtig! Und
wunderschön, sowie die Welt dort um mich. Den Wind spürend,
träumend, wünschend, fühlend, erfrierend, erstickend,
erdrückend, erschreckend. Oh, sehet, wer hier hoch betet. Ich falle, ich
fliege, ich schwebe! Und ihr seit dort unten! Für den Rest unseres Lebens!
Gefangen im Alltag, weit weg von den Vögel, eure Augen
zwangsmäßig offen um zu sehen, wie dieser elegante Schneetanz vor
euren Füßen zum Erliegen kommt. HA HA! Für mich fällt der
Schnee aufwärts, für euch geht es abwärts.
Hier bin
ich! Weit über allem, glücklich, froh, warm. Im puren Delirium, in der
puren Ekstase. In einem Zustand, den ihr euch nur wünscht, doch ach,
springt was ihr wollt, doch hier komme ich, schneller als jeder von euch, auf
direktem Pfade! Und was soll mich aufhalten?
Moment.
Das sind ich. Milliardenfach. Fühlend, erfrierend,
erstickend, erdrückend, doch glücklich. Glücklich ohne
Freiheiten, glücklich ohne Weg noch Ziel. Ihre Zungen gen Himmel,
weiße Pracht in ihren Haaren, Dolche hinter dem Rücken. Sie kommen
mir näher, sie wollen zu mir, sie sehen, dass ich fliege, sie sehen, dass
ich erfriere, dass ich nicht atmen kann, dass mir ein aussichtsloses Schicksal
blüht. Ach, könnte ich sie bespucken würde ich. Milliardenfach
sind sie, doch alle viel alleiniger als ich. Und wenn sie mit ihren Armen
flattern, wenn sie wie die Vögel auf Erden, schwarz-weiß-gekleidet im
hellen Schnee, sein wollen, wenn sie fliegen, wenn sie ihre Zukunft vom Himmel
fallen sehen, wenn ihre Vergangenheit auf dem Boden aufschlägt und nach
oben schaut, und ihr die letzten Schneeflocken in die tränengetränkten
Augen fallen, wenn der Schneesturm aufhört und man weiß…
Und wenn es dann taut und der Schnee seine kalten, atemlosen Geheimnisse
preisgibt, sollen jene die sich erschrecken, jene die trauern, jene die sich
gegen den Himmel richten, die Vögel beschuldigen und die Schönheit des
Momentes anprangern, laut auf dem Boden zerschmettern!
Und ich,
fliegend, fallend, schwebend, welcher Boden soll mich noch aufhalten
können? Kommt er mir näher, werde ich hindurchgleiten, nichts so
Schönes kann gestoppt werden, meine Gefühle, mein Glück,
mächtiger als alles was mir dort entgegentritt. Ich werde fliegen! Und eher
werden die Vögel ihre eigenen Flügel ausreiße, eher soll das,
was diese Vergangenheit Zivilisation nennt, tauen und schmelzen, eher soll sie
selbst, die Vergangenheit, aus dem Himmel fallen, eher werden die Flocken um
mich herum nach oben fallen, als das mein endloser Falle gestoppt werden wird!
Niemals, ich falle ewiglich und für immer! Und meine Vergangenheit lebt
für immer, und meine Zukunft liegt ewiglich im roten Schnee, bedeckt von
Schnee im blauen Körper, Arme weit ausgestreckt, als wäre sie ein
Vogel gewesen und mit einem Lächeln doch weit geöffneten Augen. Und
mein Schatten auf ihr.
Moment.
Was bin ich noch? Mein Blut wird Eis, meine Augen schwarz
und mein Lächeln gefroren. Weit zwischen den Wolken, in der Mitte der
Unendlichkeit der Zeit, fliegend, fühlend. Wie ein Vogel, rastlos trohnend
über der Welt. Blaue Hände, keine Nase, innere Wärme,
äußere Kälte. Schnee auf der Unterseite meines Körpers.
Meine Vergangenheit ist tot, meine Zukunft existiert nicht und ich? Ich falle,
schnell, am schnellsten. Was stelle ich mir fragen in einer zeitlosen Welt?
Entweder die Welt ist zeitlos oder vorbei. Der Boden kommt näher, doch man
kann ihn immer noch kaum erkennen, vielleicht liegt jemand dort unten,
vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht kommen Milliarden Dolche auf mich zu,
neidisch, laufend. In ihren Jacken, geschützt vor Kälte. Atmend.
Zungen raus. Wenn sie könnten würden sie mich anspucken, doch nein,
auch ihre Passivität reicht ihnen. Ich werde kommen, egal was.
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, denn ein wahrer Meister wird man
erst während des Falls. Ich, außerhalb des Lebens, außerhalb
der Zivilisation, außerhalb des Alltags, wörtlich über ihnen,
kann alles. Selbst meine kalten Hände sind besser als alles was sie in
ihren, in unseren Leben machen werden. Und egal was sie machen werden, sie
werden nie fliegen. Nur ich fliege! Schnell! Weit! Ohne meine Vergangenheit
mitzunehmen, mit der Erwartung niemals anzukommen, zwischen den Schneeflocken,
ich sehe alles, ich bin der einzige Vogel weit und breit, weit über dem
Land, steif gefroren, im Fiebertraum, im Glück, im Tod, verzaubert,
magisch, göttlich, gottgleich, übergöttlich! Stellt euch mir in
den Weg, und ihr seit es, dort unten, in meinem Schatten, am Boden
zerschmettert, Dolche im Rücken, bespuckt, erfroren, erstickt,
lächelnd, blau, rot, magisch, ein gefallener Engel, eure Gegenwart aus der
Vergangenheit in der Zukunft!
Moment.
Der Boden ist nahe.
Der
Boden ist weit weg.
Jetzt ist er weit weg, doch
zeitlich nah. Bald, für meine Zukunft, wird er zeitlich unerreichbar sein,
doch räumlich da sein. Kommt mein Schicksal auf mich zu, im weißen
Gewand und gnadenlos, werde ich dann meine Augen schließen? Werde ich mein
Grinsen, mein Glück, meine innere Wärme mit in den Tod nehmen? Wird
die Welt dort unten mich mit offenen Armen empfangen, alles gemeinsam? Sind
meine Hände bereits näher an meinem Schicksal als der Rest? Werde ich
den letzten Meter noch flattern versuchen? Werde ich dem Tod selbst wegfliegen?
Was ist das für ein Moment, wenn man die Zukunft betritt, ist er
erreichbar? Ist er erhofft, erfüllt er meine Sehnsüchte? Endlos lange
fallen für was? Einen keinen Moment des Landens?
Es klingt
bizarr. Wenn ich nie hierherkam, jetzt aber da bin, wie soll ich diesen Ort,
diesen Zustand jemals wieder verlassen können? Bin ich nur eine
Schneeflocke, geformt, erschaffen hoch oben, weit weg, kalt und tot, doch
innerlich warm. Geradezu verspielt, auf meinem Weg dort unten alles zu
verdecken, was kein Auge sehen sollte, nur um dann, eines späten Tages,
eines schönen Tages, eines warmen Tages, wenn der Winter seine Kinder
aufgibt, dahinzuschmelzen, zu verschwinden, in der Hoffnung mich eines Tages
doch wieder hoch in den Wolken zu finden, um meinen endlosen Fall erneut zu
starten, zwischen den Vögeln, Menschen und Göttern die vom Himmel
fallen?
Nein, eine Schneeflocke hat keine Hände.
Ich auch nicht.
Auch keine Finger. Oder Nase. Oder Ohren, oder
Zehen. Bald auch keine Beine. Auf dem Boden wird man nie eine Schneeflocke
finden, die sich durch ihre eigene Wärme geschmolzen hat.
Ich
sehe, wie meine Vergangenheit meine Zukunft betrachtet. Nicht mehr lange und ich
werde bei beiden sein. Und wer wird dann meine Gegenwart werden?
Doch wunderschön ist die Welt trotz allem. Ich habe
mich entschieden. Meine Augen bleiben geschlossen, meine Arme werden flattern.
Von nun an werde ich gen Himmel oder gar nicht fallen. Ich werde mein Schicksal
warten oder kommen lassen, ich bleibe. Endlos. Für immer. Erfroren,
erstickt, fliegend, wunderschön, zerschmettert, mit Schnee in den Haaren
und den Wind im Gesicht. Ich lebe. Glaube ich…
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Timon Kromer).
Der Beitrag wurde von Timon Kromer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Timon Kromer als Lieblingsautor markieren
Francks Debüt
von Axel Kuhn
Die letzte Treppe musste sie zu Fuß emporsteigen. Sie wusste, dass es im Erdgeschoss eine Nachttür gab, durch die sie das Gebäude verlassen und ins Leben zurückkehren konnte. Aber sie wusste nicht, ob sie das wollte. Alles war so furchtbar grau. Noch einmal hob sie das Gesicht in den Wind. Sie trat ans Geländer und schloss die Augen.
Stuttgart 1980: Die beiden Amateurdetektive Andreas Franck und Petra Giseke geraten in ein undurchsichtiges Geflecht privater und politischer Beziehungen. Vier Personen bleiben auf der Strecke: Unfall, Selbstmord oder Mord? Das Verbrechen nistet sich schon im Alltag ein, und die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: