Heinz-Walter Hoetter

Der Horror ist immer und überall

 


 


 

Die Angst ging um in dem kleinen Ort Stonington.

 

Für einen Augenblick stand Lester Morrison wie benommen da, als er den komfortablen Überlandbus verlassen hatte. Die meiste Zeit war er während der langen Fahrt einem tiefen Schlaf verfallen. Jetzt schaute er sich in dem ruhigen Ort nach allen Seiten um, versuchte sich zu orientieren und ging kurz darauf direkt auf das Haus des ortsansässigen Doktors zu, das genau gegenüber der Bushaltestelle lag.

 

Die Nachricht hatte ihn geschockt. Er hatte es bisher nicht verinnerlichen können, dass sein Bruder tot sein soll. John war noch so jung gewesen, gerade mal siebzehn, und knapp fünf Jahre jünger als er. Für ihn, den älteren Bruder, war Johns tot schlichtweg unfassbar. Er konnte und wollte es einfach nicht begreifen.

 

***

 

Aus dem Raum direkt vor ihm gellten laute Schmerzensschreie. Es war der Raum aus dem Mary Ann Singer gerade gekommen war. Die Tür stand einen Spaltbreit offen und Lester konnte sehen, wie der Doktor offenbar die schmerzhafte Wunde eines Patienten behandelte. Wieder folgte ein heftiger Schrei, der sich kurz darauf in ein langgestrecktes Stöhnen verwandelte, bis schließlich nur noch ein klägliches Jammern übrig blieb.

 

Lester drehte sich angeekelt um, als der Patient auf dem Behandlungstisch plötzlich seine jämmerlichen Klagelaute unterbrach und sich mehrmals hintereinander heftig übergeben musste.


 

Morrison riss sich zusammen und ging dann auf Mary Ann Singer zu, die eine ausgebildete Krankenschwester war und dem Doktor nebenbei als Assistentin zur Seite stand. Er kannte sie von früher her, bevor er Stonington verlassen musste, um beim Militär als Soldat zu dienen.

 

Als er direkt vor ihr stand sagte er mit leiser, fast erstickter Stimme: „John ist tot. Ich kann es noch immer nicht fassen, Mary Ann.“

 

Die etwas rundliche Frau in dem weißen Kittel nickte ein paar Mal mit dem Kopf. Dann schaute sie Lester mit traurigen Augen an und legte ihre Hand behutsam auf seine rechte Schulter.

 

Ja, Lester. Dein Bruder John starb vor zwei Tagen in den frühen Morgenstunden.“

 

Er durchdrang sie mit starrem Blick.

 

Er war noch so jung. Warum gerade er?“

 

Lester machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. Sein Atem ging schwer.

 

Was ist mit meinem Bruder genau passiert, Mary Ann?“

 

Die Krankenschwester wendete sich von Lester kurz ab, öffnete einen weißen Schrank und holte eine Packung Verbandsmaterial daraus hervor. Während sie das tat, fing sie an zu reden.

 

John war zu Fuß auf dem Weg zu Doktor Kerry, der ihn wegen einer leichten Unterarmverletzung zu sich bestellt hatte. Das war ein Tag vor dem Verbrechen. Dein Bruder wollte scheinbar den frühen Termin am nächsten Tag pünktlich einhalten. Jemand muss ihn aber dann auf dem Weg in die Praxis ganz in der Nähe des etwas abseits gelegenen Friedhofes überfallen haben. Trotzdem konnten wir sogar noch seine fürchterlichen Schreie hören und liefen so schnell wie wir konnten zu ihm. Der Mörder war aber schon verschwunden, als wir John in Agonie vorfanden. Selbst die Polizei fand keine Spur mehr von dem Unhold. Auch die Suchhunde schlugen seltsamerweise nicht an. Es ist alles sehr mysteriös. Als die Leute in Stonington von diesem grausamen Mord an deinem Bruder erfuhren, ging der pure Schrecken um. Viele haben nach der Bluttat aus Angst ihre Häuser nicht mehr verlassen. Im Nachbarort gab es übrigens vor etwa zehn Jahren einen ähnlichen Fall. Deshalb ist hier alles in Aufruhr.“

 

Wie ist John gestorben? Hat er leiden müssen?“ fragte Lester die Frau im weißen Behandlungskittel.

 

Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur sagen, dass er trotz seiner schlimmen Verletzungen wohl ohne Schmerzen diese Welt verlassen hat. Er lag in einer tiefen Bewusstlosigkeit, als man ihn fand.“

 

Wer war beim ihm, als er starb?“

 

Der Doktor, einige Personen aus der unmittelbaren Nachbarschaft und ich. Wir haben für deinen Bruder getan, was wir konnten.“

 

Lester Morrison schluckte bedrückt. Er senkte seinen Kopf ein wenig und sagte dann: „Danke für alles, Mary. Danke auch an den Doktor und allen, die John in seinen letzten Minuten beigestanden haben.“

 

Ach Lester, wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann lass’ es mich wissen. Und wenn du deinen Bruder noch einmal sehen möchtest, bevor sich der Totengräber um ihn kümmert...“

 

Der junge Mann schaute die Krankenschwester mit Tränen in den Augen an, bevor er mit halb erstickter Stimme sagte: „Ja, wenn es möglich ist. Ich würde gerne...“

 

Während er noch redete, wandte er sich mechanisch dem Zimmer zu, in dem er Johns Leiche vermutete. Seine Verwirrung war nicht zu übersehen.

 

Mary Ann fasste Lester am rechten Arm und hielt ihn fest.

 

Dein Bruder liegt hier nicht mehr“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Der Doktor hat ihn in die Leichenhalle gleich hinter dem kleinen Friedhof bringen lassen. Sobald jemand gestorben ist, kommt er dorthin. Wer hat schon gerne einen Toten im Haus.“

 

Natürlich, ich verstehe Mary Ann. Bitte entschuldige. Ich bin wohl etwas durcheinander.“

 

Lester musste wieder schlucken und glaubte, einen Kloß im Hals zu haben. Wortlos verabschiedete er sich von der Krankenschwester, verließ das Haus und machte sich auf den Weg zum Friedhof, der ganz in der Nähe lag.

 

***

 

Der Himmel wölbte sich strahlend blau über die weite Landschaft. Hier und da zogen ein paar weiße Wölkchen wie kleine Segelschiffe vorbei und überall konnte man das Zwitschern vieler Vogelstimmen vernehmen. Die Luft war von einem würzigen Blumenduft erfüllt. Der Hochsommer zog ins Land.

 

Lester Morrison folgte einem schmalen Kiesweg, der auf beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt wurde. Plötzlich stand er vor dem Portal des Totenhauses, das offen stand und zum Gelände des Friedhofs gehörte.

 

Neben dem hohen, mit grünem Efeu berankten Backsteingebäude stand ein alter, aber noch ziemlich rüstiger Mann. Es war der ortsansässige Totengräber. Er ging gleich auf Lester zu.

 

Hallo, ich bin Samuel Doyle. Vermutlich sind Sie der junge Morrison, wie ich denke. Ich wohne erst seit einem Jahr hier und bin von Oldale nach Stonington gezogen, als man mich dort nicht mehr brauchte. Ein jüngerer hat meinen Posten übernommen. So ist das eben, da kann man nichts machen. Ich gehöre eben schon zum alten Eisen. Aber die meisten Leute aus dem Ort hier kenne ich mittlerweile schon. Sie sind sehr nett zu mir.“

 

Bevor er mit krächzender Stimme fortfuhr, wischte er sich mit einem Taschentuch über die schweißnasse Stirn.

 

Sie wollen sicherlich von Ihrem jüngeren Bruder in aller Ruhe Abschied nehmen. Nun, dann kommen Sie mit! – Haben Sie keine Angst vor den Toten?“, fragte er neugierig und führte Lester ohne lange zu zögern in das tranige Dunkel des schummrigen Leichenhauses. Nirgendwo brannte ein Licht. Links und rechts vom breiten Mittelgang, der mit quadratischen glatt polierten Steinplatten ausgelegt war, standen in regelmäßigen Abständen niedrige, höhenverstellbare Sargwägen vor den Kühlfächern. Die meisten davon waren allerdings leer. Rechts des Ganges, auf der letzten Liege befand sich eine menschliche Gestalt, die unter einem weißen Laken verborgen lag. Ein süßlicher Leichengeruch hing in der Luft.

 

Der alte Totengräber schritt mit schlurfenden Schritten darauf zu, nahm dem Toten behutsam das Tuch vom Kopf und warf einen prüfenden Blick in das Gesicht des Leichnams. Dann nickte er kurz bestätigend und schaute hinüber zum wartenden Lester Morrison.

 

Ich werde Sie jetzt allein lassen. Sollte irgendwas sein, dann rufen Sie nach mir. Ich bin auf dem Friedhof. Die Arbeit ruft..., Sie wissen schon..., das Grab für Ihren Bruder.“

 

Danke Mr. Doyle. Lester lächelte etwas dünn. „Ich verstehe...“ fügte er hinzu.

 

Der Alte entfernte sich. Am Portal angekommen drehte er sich noch einmal um und zog beim Hinausgehen einen der beiden Türflügel kräftig zu, sodass dieser krachend ins Schloss fiel. Nur wenig Tageslicht drang jetzt noch durch die offene Seite des Einganges in den Leichenraum.

 

Der junge Mann sah ihm noch eine Weile mit leerem Blick nach. Dann drehte er sich zu seinem toten Bruder um und betrachtete ihn still. Es kam Lester so vor, als sähe er in einen Spiegel. Obwohl zwischen John und ihm fünf Jahre Altersunterschied lagen, sahen sie sich dennoch sehr ähnlich, fast wie Zwillinge, für die man sie nicht selten auch gehalten hatte.

 

Lester berührte vorsichtig die blutleeren Wangen seines Bruders. Das Gesicht des Toten war wachsbleich. Die Außenränder der Nasenlöcher waren mit einer Menge geronnenem Blut verschmiert.

 

Hallo John“, flüsterte er leise, „ich bin es, dein Bruder Lester.“

 

Der junge Mann kniete auf einmal nieder und fasste den Toten an der Hand. Fast wäre er dabei zurückgeschreckt, als er die unheimliche Kälte des Todes an den Fingern spürte.

 

Ohne es zu wollen versank der Kniende unvermittelt ins Reich der Fantasie. Bunte, lebhafte Bilder aus der Vergangenheit tauchten vor seinem geistigen Auge auf, die wie ein Filmstreifen langsam an ihm vorbeizogen. Lester hatte den Eindruck, als blicke er durch ein Fenster in eine andere, längst vergangene Zeit.

 

Er sah seinen Bruder John und sich übermütig auf einer großen grünen Wiese vor dem Elternhaus herumtollen. Die hohen Bäume rauschten im Wind und wogten majestätisch hin und her. Sein Vater kam, nahm beide Buben mit ins Haus, wo sie in der großen Küche für den Kohleherd Holz ablegten. Die traute Szene verschwand und wurde von einer anderen mit einem kleinen See abgelöst, der glitzernd in der heißen Nachmittagssonne lag. Die ganze Familie war zum Picknick hinausgefahren. Mutter saß auf der Decke und schnitt gerade das Brot. John und Lester saßen am Ufer neben Vater und angelten. Ein Fisch hing auf einmal zappelnd am Haken und John versuchte ihn zu greifen, was ihm aber nicht richtig gelang. Lester eilte ihm zu Hilfe und beide hielten wenig später den gefangenen Karpfen schließlich wie eine Trophäe gemeinsam in die Luft. Dann landete das glitschige Tier in einem Eimer mit Wasser. Vater und Mutter lachten im Hintergrund aus vollem Herzen.

 

Lester Morrison wurde von einer tiefen Rührung ergriffen. Erinnerungen können weh tun. Von der einstmals so schönen Familie waren die meisten schon gestorben. Vater war vor wenigen Jahren durch einen schweren Unfall im Wald bei Baumfällarbeiten ums Leben gekommen. Mutter hatte den Tod ihres geliebten Mannes nicht verkraften können und verfiel in eine tiefe Depression. Eines Tages fand man sie erhängt auf dem Dachboden. Nun war auch John tot.

 

Auf einmal war ihm hundeelend zumute. Lester fühlte sich einsam und verlassen und wie der letzte Mensch auf der Welt. Er begann hemmungslos zu weinen. Schnaufend fuhr er sich zwischendurch mit dem Ellenbogen immer wieder über das tränennasse Gesicht. Dann atmete er mit kräftigen Zügen ein paar Mal tief durch, sodass sich sein Brustkorb hoch aufwölbte. Die Luft hatte dabei einen seltsam pelzigen Beigeschmack.

 

Nach einer Weile des stillen Schweigens setzte er sich auf den harten Rand der Metallpritsche, die neben der Liege stand. Das Leichentuch rutschte dabei ein Stück zur Seite und entblößte den nackten Oberkörper seines toten Bruders, der mit tiefen, hässlich aussehenden Fleischwunden übersät war. Lester betrachtete sie mit glasigen Augen. Dabei dachte er an Johns Mörder, der ihn so schrecklich zugerichtet und sein junges Leben abrupt ein Ende gesetzt hatte. Er konnte nach seiner fürchterlichen Tat unerkannt entkommen und führte sein Dasein fort, während man das unschuldige Opfer bald in einem Sarg in die kalte Erde versenken würde.

 

Lester seufzte schwer. Wahrscheinlich, so dachte er, wird man Johns Mörder nie finden. Wie sollte man auch einen Verbrecher dingfest machen können, dessen Gesicht man nicht gesehen hatte? Es gab weder Augenzeugen noch brauchbare Aussagen, die auf den Täter hingedeutet hätten.

 

Es tut mir alles so fürchterlich leid, Bruderherz“, murmelte Lester leise vor sich hin. „Aber ich denke, dass man den Schurken, der dich so schrecklich entstellt hat, wohl erst beim Jüngsten Gericht zur Rechenschaft ziehen kann.“

 

Plötzlich erschrak der junge Mann zutiefst. Hatte er nicht gerade scharrende Schritte vernommen? Irritiert blickte er von der Leiche seines Bruder auf. Die verdächtigen Schritte kamen näher, aber sie kamen nicht vom Eingang des Portals des Leichenhauses, sondern genau aus der gegenüber liegenden Seite, dem rückwärtigen Teil der Totenhalle. Dort herrschte eine tiefe Finsternis, als würde die Dunkelheit jeden Lichtstrahl sofort schlucken. Lester kniff die Augen zu schmalen Sehschlitzen zusammen und verhielt sich so ruhig wie möglich. Sein Körper fing unkontrolliert zu zittern an. Mit der rechten Hand griff er vorsichtshalber und so unauffällig wie möglich nach seinem Revolver, den er immer bei sich trug, entsicherte ihn vorsichtig und hielt ihn mit der rechten Hand am klobigen Griff fest umklammert, was ihm in dieser Situation eine gewisse Sicherheit gab. Falls notwendig, wäre er jetzt jedenfalls dazu in Lage, sich wirkungsvoll zu verteidigen.

 

Wieder hörte er das seltsam scharrende Geräusch. Es war einfach nicht mehr zu überhören.

 

Schlagartig erhob sich Lester jetzt von der Metallpritsche. Der junge Mann konzentrierte sich nun interessiert auf die Mitte der rückwärtigen Leichenhalle, die hier stockfinster war. Dann erkannte er im nächsten Augenblick einen etwas älter aussehenden, hageren Mann, der mit einem langen schwarzen Mantel und einem weiten Schlapphut bekleidet war und langsam aus der Finsternis hervortrat. In seiner rechten Hand hatte er einen silberfarbenen Gegenstand, der wie ein Bumerang aussah. Lester dachte zuerst an eine Waffe, die der Fremde mit sich herumtrug, erkannte aber sofort seinen Irrtum, als auf dem komischen Ding seltsam rot gefärbte Zeichen pulsierend aufleuchteten. Trotzdem richtete er seinen schweren Revolver instinktiv auf die unheimliche Person, die mit behäbigen Schritten näher kam.

 

Am Kopfende von Johns Bahre stoppte der Unbekannte. Mit einer feierlich anmutenden Geste nahm er seinen Hut ab und eine blankpolierte Halbglatze kam zum Vorschein. Der auffallend stechende Blick der unheimlichen Person wanderte zwischen Lester und dem bleichen Antlitz seines toten Bruders mehrere Male hin und her.

 

Mit wem habe ich die Ehre und was machen Sie hier?“ fragte der junge Mann mit halb erstickter Stimme.

 

Mein Name ist Henderson, genauer gesagt Mr. Ron Henderson”, antwortete der hagere Typ und streifte sich die langen grauen Resthaare an den Seiten seines Kopfes bedächtig nach hinten. Den silberfarbenen Gegenstand hatte er mittlerweile irgendwo im Mantel verschwinden lassen.

 

Bitte entschuldigen Sie, Mr. Morrison! Aber ich hatte nicht die Absicht Sie zu erschrecken.“ Er wies mit der rechten Hand ins Dunkel. „Eine ziemlich schlimme Sache..., ich meine die mit ihrem Bruder. Mein aufrichtiges Beileid“, fügte er noch hinzu.

 

Lester nickte. „Danke, Mister Henderson. Da Sie mich offenbar bereits kennen, erübrigt es sich, dass ich mich vorstelle.“

 

Der Mann in dem langen schwarzen Mantel deutete ein Kopfnicken an und reichte Lester die Hand. Als der einschlug, ergriff er noch einmal das Wort.

 

Wie ich sehe, wurde Ihr Bruder ermordet. Sieht ziemlich übel aus. Wer ist bloß zu solchen Grausamkeiten fähig? Irgendwo läuft in dieser Gegend ein Ungeheuer herum und hält die Polizei in Atem. Die Leute in Stonington sind total verängstigt. Ist ja auch verständlich, nicht war Mr. Morrison?“

 

Sie sagen es, Mr. Henderson. Es ist eine furchtbare Geschichte. Ich hoffe nur, dass man den Mörder meines Bruders so schnell wie möglich finden wird.“

 

Das hoffen wir alle, Mr. Morrison. Aber es wird wohl sehr schwierig werden, weil es keine Augenzeugen gibt. Verängstige Seelen behaupten sogar schon, dass es sich gar um ein schreckliches Monster handeln würde, das hier in der Umgebung von Stonington sein Unwesen treibt und ahnungslose Menschen anfällt. Eine unheimliche Bestie sozusagen, die plötzlich wie aus den Nichts auftaucht, ja sogar eine außerirdische Kreatur sein soll, die mit langen Zähnen und Klauen ausgestattet ist und auf Menschenjagd geht. Sie spuckt schwarzen Eiter aus, der so giftig ist, dass jedes Lebewesen daran augenblicklich stirbt. Dann macht sich diese unheimliche Bestie über ihre Opfer her und frisst sie auf. Nur die Knochen bleiben übrig. Danach verschwindet sie wieder spurlos und taucht für eine lange Zeit nicht mehr auf, wie gesagt, nachdem sie ihr grausames Werk vollbracht hat. Glauben Sie auch an diesen Unfug, Mr. Morrison?“

 

Nein. Warum sollte ich? Sie haben mir nur eine von den vielen Geschichten erzählt, die man sich hier in der Gegend rund um Stonington schon seit meiner Kindheit erzählt. Niemand glaubt heute noch an solche Märchen.“

 

Lester bekam auf einmal ein ungutes Gefühl und sah auf seine Armbanduhr. Er wollte, so schnell es ging, die Leichenhalle wieder verlassen.

 

Ich werde jetzt wohl besser gehen und mich um die Sterbepapiere meines toten Bruders kümmern. Die Zeit läuft mir sonst davon. Außerdem muss ich noch nach dem Totengräber sehen, den ich für seine Grabarbeiten bezahlen muss. Leben Sie wohl, Mr. Henderson. Hat mich gefreut, Sie kennen gelernt zu haben.“

 

Der hagere Mann in dem langen schwarzen Mantel und dem stechenden Blick faste Lester auf einmal am Arm und hielt ihn zurück. Seine Stimme klang plötzlich viel tiefer als vorher.

 

Die Bestie, von der ich erzählt habe, lauert ganz in ihrer Nähe, Mr. Morrison. Genauer gesagt steht sie direkt vor ihnen.“

 

Ich verstehe nicht ganz“, sagte Lester verstört und wurde leichenblass im Gesicht. Dann versuchte er seinen Revolver anzuheben, was ihm aber nicht mehr gelang, da sich der Alte mittlerweile in eine Echsen ähnliche Kreatur verwandelt hatte und nur wenige Sekunden später den vor Schreck wie gelähmt da stehenden jungen Mann eine schwarze Säure mitten ins Gesicht spuckte.

 

Mit einem erstickten Schrei des Entsetzens kippte Lester mit zuckendem Körper nach hinten über seinen toten Bruder und schlug mit dem Kopf gegen den Rand der harten Metallpritsche. Dann rutschte er wie eine weiche Gummipuppe auf den kalten Boden der Leichenhalle zurück und starb augenblicklich.

 

Die Bestie grunzte zufrieden, als sie sich wie besessen über die beiden Leichen hermachte und genüsslich verspeiste.


 

Nachdem sie ihre blutige Fressgier endlich befriedigt hatte, nahm sie den silberfarbenen Gegenstand zwischen ihre Klauen und drückte sanft eines der kryptischen Zeichen auf der metallenen Oberfläche, die rot aufleuchteten. Im nächsten Moment löste sich der Körper der Kreatur wie ein sich stetig verblassendes Bild langsam auf. Dann verschwand sie im Nichts, als hätte es sie nie gegeben.

 

Zurück ließ sie einen Ort des Grauens.

 

***

 

Viel später.

 

Unter den zahlreichen Passagieren eines großen Fährschiffes befand sich auch ein hager aussehender Mann in einem langen schwarzen Mantel und einem weiten Schlapphut auf dem Kopf, der sein bleiches Gesicht mit dem hohen Mantelkragen verbarg. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang.


Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin der Fährgesellschaft auf den silberfarbenen Gegenstand aufgeklebt hatte.

 

Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen. Zusätzlich knipste er das Licht einer kleinen Leselampe aus, die vor ihm auf dem Tisch stand. Dann legte er sich zurück.

 

Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlicher Körper, wenngleich auch unmerklich für wenige Sekundenbruchteile nur, in die Gestalt einer mit grünen Schuppen besetzten Monsterechse verwandeln.

 


ENDE


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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