„Anlieger frei. Lieferanten- Verkehr von 11:00 Uhr bis 12:00 Uhr und ab 18:00 Uhr.“ So oder ähnlich liest es sich, was Städte ihren Einwohnern anbieten oder zumuten in den Fußgängerzonen, Fußgängerbereichen oder verkehrsberuhigten Zonen.
Individuellen Varianten sind Tür, Tor, Schleuse oder Schlagbaum geöffnet.
Aber allen Betroffenen steht eine Beschränkung ins Haus. Geschäftsleute befürchten, sobald solche Pläne offenbar werden, Umsatzeinbrüche, weil die Kunden nicht mehr zu Ihnen kämen
Kunden befürchten, nicht mehr zu ihren Geschäften kommen zu können, weil sie nicht mehr direkt vor dem Eingang parken dürfen. Welch Dilemma!
Kiel und Lüneburg als die ersten Städte in Deutschland, die sich trauten, mit Fußgängerzonen zu experimentieren, haben inzwischen nicht nur erfahrene Souveränität, sondern auch Gelassenheit zu bieten, wenn es um Beistand heischende Politiker der Mit- Städte geht, die kurz vor dem Infarkt ihrer Verkehrswege noch einmal letzte Gewissheit erfahren, letzte Bestätigung einfahren wollen zur Überzeugungsarbeit daheim.
Mit Fußgängerzonen lässt es sich gut fahren. Geht es nur um die Beschwichtigung der Gewerbesteuer - Zahler oder die Beruhigung der Kunden, die befürchten, ihre Einkäufe nicht zu ihrem Kraftfahrzeug transportieren zu können? Vor allem geht es um die Beruhigung der Innenstädte, ihren Schutz vor rollendem Verkehr. An verkaufsintensiven Tagen wie den ersten Sonnabenden der Monate, während des Trubels im Weihnachtsgeschäft, vor freien Tagen innerhalb der Woche, die so manchen Arbeitnehmer motivieren, durch den Einsatz zweier Urlaubstage eine ganze freie Woche zusammenzupfriemeln, bietet sich in wohl allen Innenstädten ein ähnliches Bild: Eine Blechlawine von Fahrzeugen wird zu einem Tatzelwurm von Steh Zeugen. Alles, was noch läuft, sind die Motoren. Lärm-, Abgas- und Geruchsbelastung beziehungsweise Belästigung steigen immens.
Wie Wölfe eine Schafherde, umrunden parkplatzsuchende Verkehrsteilnehmer die vollgeparkten Stellflächen in der Hoffnung, dass etwas frei wird.
Verärgerung, Gereiztheit und Nervosität bestimmen das seelische Klima, das in der kaum noch atembaren Luft seine physische Entsprechung findet.
Ein Blick auf die Zulassungsnummern der nomadisierenden Vierräder zeigt dem verwunderten Betrachter, dass es sich vornehmlich um örtliche handelt.
Endet die Ortskundigkeit beim Einsteigen in den Pkw? Wird dabei von allzu vielen vergessen, wo sich die peripheren Parkplätze befinden, von denen aus zu Stoßzeiten, zur Kampf- Kauf- Saison, Park -and- Ride -Service angeboten wird?
Die Besucher aus den fußgängerzonenlosen Gemeinden werden, neben genügende Argumentationshilfe für den Umgang mit den beiden Interessengruppen -Käufern wie Verkäufern- feststellen, dass sich in verkehrsberuhigten Gebieten ihrer Innenstädte ungeahnte Möglichkeiten zur sozialen Neuorientierung eröffnen.
Die Verweildauer der Seh- Leute vor den Schaufenstern wird sich verlängern, und viele von ihnen werden, wie von den Anbietern gewünscht, zu Kauf-Leuten.
Wer geht nicht gerne zu Fuß durch ein Gebiet, in dem ihr Besonderes geboten wird?
Wir sind Augenwesen - vom schaulustigen Einkaufsbummler bis zum Gaffer, der nach einem Unfall die Rettungskräfte behindert.
Zur Schaffung einer attraktiven Innenstadt- Atmosphäre genügt es allerdings nicht, lediglich entsprechende Verkehrsschilder anzubringen, um den automobilen Ansturm abzuwehren. Gegen Null tendierende Verkehrsdichte schafft noch nicht das Ambiente, in dem die Kauflust keimt. Auch die bloße Existenz der Läden samt ihrem Angebot ist nicht Garant für klingelnde Kassen.
Bevor sich am neuen Kaufen allerseits Zufriedenheit einstellen kann, muss sich der Kämmerer einen gehörigen Griff in den Stadtsäckel gefallen lassen. Von nichts kommt auch hier nichts, und was nichts kostet, taugt nichts.
Damit der bisherige Primat des individualisierten Kraftverkehrs - in der Mitte die breite Fahrbahn, an den Rändern beiderseits erhöht die Bürger steige - ersetzt werden kann durch die Möglichkeit (und die Lust darauf), ohne Stolpergefahr zu Fuß von einer zur anderen Seite zu
mäandern, ist eine Menge kostspieliger Tiefbauarbeiten durchzuführen. Die gesamte Fläche ist auf einheitliches Niveau zu bringen und dann wieder schrittfest zu machen. Dies geschieht vorzugsweise durch Pflasterung mit verschiedenen Materialien unterschiedlicher Farbtöne. Vor der Wiederbedeckung des freigelegten Untergrundes wird es sich als nötig erweisen, Versorgungsleitungen zu prüfen, in Stand zu setzen beziehungsweise neu zu verlegen.
Straßenlaternen, die aus verständlichen Gründen früher am Gehsteigrand stehen mussten, können jetzt frei postiert werden, eventuell im Zickzack oder, inselhaft massiert, wenn der Effekt des bei Dunkelheit besonders Sehenswerten erreicht werden soll. Vielleicht im Rund um Bänke gruppiert, in der Mitte ein Brunnen - gleichsam Abgeltung des Gebotes „Kunst am Bau“. Ja, auch Kunst am Tiefbau.
Ideenreichtum und Etat des städtischen Gartenbauamts werden darüber entscheiden, welche Wege der Begrünung gegangen werden sollen: Ansiedlung schon ansehnlicher Bäume (samt Ballen per Bagger in das Erdreich gebettet) oder Aufstellen großer Pflanzkübel aus Waschbeton, in denen allenfalls Schwarz- und Krüppelkiefern Platz finden können?
Natürlich wäre auch saisonale Bepflanzung mit Blumen möglich. Aber Finanzen und Pflegebedarf beschränken letztgenannte Möglichkeit eher auf Kurorte mit einem guten Tax - Aufkommen, treffen nicht zu auf die durchschnittliche Kommune, die zu den Fußgängern überzulaufen gedenkt. Bei Planung und Durchführung all dieser Maßnahmen lässt es sich natürlich nicht immer vermeiden, dass über das Ziel hinaus geschossen wird, und mal hier ein Brunnen zuviel zu stehen scheint, dort eine Bankreihe etwas zu lang geraten ist, die Bäume einander auf die Füße treten. Auch die Freischachfläche vor der Einfahrt zu den Fahrradständern ist nicht optimal platziert.
Aber davon einmal abgesehen: Nun darf abgewartet werden, wie die neu geschaffene Umgebung „angenommen“ wird, angenommen, sie wird es überhaupt.
Was tut sich dort? Wer tummelt sich auf dem gemusterten, gestreiften, ornamental gestalteten Pflasterstein -Parkett? Ah ja, Straßenmusikanten hier und dort. Je nach Ausdehnung der Zone weit genug auseinander, schafft ohne akustische Interferenzen sich ein jeder sein eigenes Sound- Revier.
Und auf den Bänken, die die meiste Sonne abkriegen, geht schon seit 9:00 Uhr die 2 l -Flasche Lambrusco von Hand zu Hand. Der nächstgelegene Abfallbehälter quillt schon vormittags über von leeren Bierdosen. Gerade kommt ein fröhlicher Zecher mit einer Palette Nachschub vom 50 m entfernten ALDI, PLUS, MINIMAL, PENNY, HL und so fort. Ein Windstoß weht den einen oder anderen Hamburger- Container vor die Füße, und ein leer getrunkener Becher mit Deckel, im Kreuzschlitz noch den Trinkhalm, rollt, vermöge seiner konischen Form, in schwachsinniger Halbkreisbewegung hin und her, auf und ab, vor und zurück.
Drei Bäume und zwei Laternen weiter bauscht sich die Bestuhlung des italienischen Eiscafés hinein in die beschreitbare Fläche, erzeugt eine Schnelle im Passantenstrom, wo Ellbogenkontakte sich ergeben, der Schritt zögernd und verhalten werden muss, damit einander begegnende Mütter mit den nachwuchsbergenden Buggies nicht kollidieren. Unter den Sonnenschirmpilzen der Arten Cola, Sprite und Co. blinzeln auf Stühlen zwischengelagerte Passanten hervor, sichtlich träumend von südlicheren Gefilden, in Erinnerung oder Erwartung diesjährigen Urlaubs. Und immer wieder zwischendurch, nicht auf der Bank, sondern auf dem Boden sitzend, ins Leere starrend, Obdachlose. Notrufsäulen für das schlechte Gewissen der Vorbeiflanierenden. Oder Seitenbegrenzungspfähle? Auf jeden Fall am Rande. Zum Teil mit Schildern, die sie wie Schilde vor sich halten. Erklärungsversuche zur Abwehr verächtlicher Gedanke derer, die vornehmlich zu ihrem Vergnügen am Konsum in der Fußgängerzone auftauchen?
Vermehrt sitzen auch Frauen dort. Immer jüngere Gesichter tauchen auf, Gesichter, die nicht von Alkoholmissbrauch gezeichnet sind. Es kann sich lohnen, einen dieser Menschen anzusprechen, anstatt ihm nur zur Selbstbefriedung im Vorbeigehen eine Münze in die Pappschachtel zu werfen. 1 Million Obdachlose soll es in der Bundesrepublik schon geben, und täglich werden es mehr. Die böse Abwärtsspirale vom Verlust des Arbeitsplatzes bis zur Kündigung des Daches über dem Kopf hat sie am Straßenrand zu einem auf das reine Dortsein beschränkten Dasein reduziert, nachdem die gesellschaftliche Entwicklung sie aus dem Wege geräumt hat.
Wie und weshalb kam mir dieser Schlenker ins Abseits in die Quere?
Ich glaube, gerade rechtzeitig und zu recht. Im gleichen Maße, wie mit den Fahrzeugen auch die Anonymität aus den Innenstädten verbannt wird, erhöht sich die Häufigkeit menschlicher Kontakte unterschiedlichster Art. Integrative, zufällige rangieren vor gewohnten, selectiven. Bei der Tasse Kaffee, die einer vor der Tchibo- oder Eduscho- Filiale am runden Stehtischchen auf der sonnenbeschienen Straße trinkt, können sich für ihn aus trivialen Anlässen spontan viel interessantere Gespräche, eventuell sogar Kontakte, ergeben, als wenn er gewohnheitsmäßig einmal wöchentlich seine Stammkneipe ansteuert, wo ihn eh’ meist nur dieselben Gesichter erwarten.
Gut, diese Gesichter sind vertraut, und lieb gewonnen hat er sie und ihre Träger auch „irgendwie“. Aber Überraschungen werden sie ihm kaum noch bereiten. Sie sind mit ihrer Vertrautheit seit langem als kalkulierbar inventarisiert. Doch bei diesen Freiluftgesprächen am runden Tischchen musst du auf beiden Füßen stehen und wenigstens physische Aufrechtheit demonstrieren und praktizieren.
Dir, dem eventuell Noch- Raucher, präsentieren sich andere Exemplare deiner moralisch vom Aussterben bedrohten Spezies. Hier, draußen, wo die Decke über deinem Kopf milchstraßenhoch ist, noch nicht kubikmetermäßig justiziabel gemacht werden konnte von Nikotininquisitoren, die mit der einen Hand verschärfende Gesetze verfassen, während die andere die Steuergelder einstreicht - hier draußen kannst du noch frei in- und exhalieren.
Nanu, was ging hier dem Autor ab?
Jedenfalls nicht das Gespür für die Bedeutung der fußgängerrelevanten Areale des besiedelten Raumes.
So könnte ein jeder, gemäß seiner Fassung, etwas Gutes, sein Gutes, vielleicht gar sein Bestes suchen und finden in der Fußgängerzone, dem Fußgängerbereich, der verkehrsberuhigten Zone der Region, die er bewohnt. Möglicherweise kann er sie dann nicht nur bewohnen, sondern sie auch beleben und sich von ihr beleben lassen…
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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