Ann-Kristin Jacobs

Der Waldbote

Ihr Blick wandert linkswärts in den lichten Wald, angezogen von einer kaum wahrnehmbaren Bewegung auf dem breiten Ast, der von der alten Buche auf eine junge Eiche zuzuwachsen scheint. Sie verliert für einen Moment den Blickfang, fokussiert sich dann aber mit leicht zugekniffenen Augen und erkennt ein rotbraun gefärbtes Eichhörnchen, dessen buschiger Schweif sich sanft im Wind bewegt. Das kleine Hörnchen selbst ruht regungslos auf dem Ast. Nie zuvor hat sie ein schlafendes Eichhörnchen gesehen.
In der jüngeren Vergangenheit hat sie die kleinen Nager häufiger beobachten können, wenn sie auf ihrem Weg über die Straße huschten oder blitzschnell einen Baum hinaufkletterten. Jedes Mal war sie wie verzaubert stehen geblieben und beobachtete das wieselflinke Tierchen, das stets so scheu und mutig zugleich wirkt.
Sie überlegt. Was hat er noch gesagt? In der nordischen Mythologie sei das Eichhörnchen ein Nachrichtenüberbringer. Klar, flitzte das niedliche Nagetier doch stets von Baum zu Baum, von Stumpf zu Krone, von Ast zu Ast, da konnte es doch gut auch Nachrichten überbringen. Doch was mag ein schlafendes Eichhörnchen bedeuten, fragt sie sich. Erschöpft von all den Botengängen liegt es da und schlummert seelenruhig. Solch entspannten Schlaf wünscht sie sich auch mal wieder. Doch all die Sorgen ihrer Welt bringen sie um Ruhe und Entspannung, selbst wenn sie der Erschöpfung nahe ihren Kopf aufs Kissen bettet, lässt des Tages Unruhe sie nicht los.

„Hast du schon einmal ein schlafendes Eichhörnchen gesehen?“

Sie schüttelt den Kopf, kann den Blick aber nicht von dem hübschen Tierchen nehmen, dem sie sich so verbunden fühlt. Seit jeher begleiten Eichhörnchen ihren Lebensweg, zu Kindheitstagen liebte sie die Geschichten des kleinen Husch Puscheli, in Jugendjahren wurde sie im Biologie-Unterricht zum Eichhörnchen- Geburtstag geladen und seit sie ihre große Liebe getroffen hat, kreuzen die rötlichen Nagetiere wortwörtlich ihre Wege.

„Ich dachte, die schlafen nur in ihrem Kobel.“

Offensichtlich nicht. Sie möchte sich nicht bewegen, aus Sorge, das erschöpfte kleine Kerlchen zu wecken. Dass es trotz der zwar geflüsterten Worte nicht aufschreckt, wundert sie sehr. Einen kurzen Moment schreckt sie der Gedanke auf, der kleine Waldbewohner könnte tot sein, doch just in dem Augenblick hebt er sein Köpfchen an, als wolle er verdeutlichen, dass er wohlauf ist. Beruhigt atmet sie tief ein und aus, nachdem sie kurz zuvor unbewusst die Luft angehalten hatte. Das Eichhörnchen legt seinen Kopf wieder ab und ruht weiter.

„Wenn es so ruhig schläft, hat es wohl all seine Nachrichten überbracht.“

Überrascht, dass nicht nur ihr diese Bedeutung bekannt ist, spürt sie einen wohligen Schauer. Und ihr Gedanke wandert zu der Eule, die ihr einst eine solch wichtige Nachricht überbrachte. Damals auf der Autofahrt, als der Nachtvogel auf dem Schild saß und sie mit ihren goldgelben Augen fixierte. Just in dem Moment kam die lang ersehnte Nachricht an und brachte ihr am Ende eines unruhigen Tages die erhoffte Gewissheit. Ob das Eichhörnchen nun so ruht, weil es ihr ebenfalls eine Nachricht überbracht hat? Sie würde gerne auf ihr Mobiltelefon schauen, das lautlos in ihrer Jackentasche weilt, doch ist sie weiterhin wie erstarrt, kann sich nicht bewegen.
Er fehlt ihr. Er fehlt ihr so sehr. Sie ist besorgt, wie so oft zwischen Sorge, Angst und Panik wandelnd, wann immer sie nichts von ihm hört. Sie weiß, dass er sie nicht verletzen will. Sie weiß, dass er es einfach nicht kann. Sich äußern. Sich melden. Er ist wie sie. Verschlossen, wenn die Worte fehlen, die Kehle zugeschnürt, die Finger starr.

„Mach dir nicht so viele Sorgen.“

Das sagt sich so leicht.

„Er liebt dich.“

Das weiß sie. Daran zweifelt sie nicht.

„Nur in der Nähe einer reinen Seele kann ein Eichhörnchen schlafen.“

Reine Seele. Alte Seele. Gute Seele. Seelengefährte… Es klingt so schön, fast so, also wäre sie nie allein. Doch warum fühlt sie sich oft so einsam, fragt sie sich. Was nützt es ihr, von reinster Seele zu sein, wenn der Gefährte doch nicht an ihrer Seite ist. Und was macht sie zu einer guten Seele? Natürlich weiß sie es. Sie bewirkt so viel Gutes. Liebenswert sei sie, sagte er. Innerlich nickt sie. Das ist sie wohl. Liebenswert. Gutmütig. Sie spürt Tränen aufsteigen. Das Eichhörnchen hebt wieder sein Köpfchen an, der buschige Schweif weht im lauen Lüftchen, das in diesem Moment durch den kleinen Wald zieht. Sie hat das Gefühl, der scheue Nager blickt sie an, denn auf einmal ist er wie erstarrt, rührt sich nicht. Nur der Schweif weht.

„Er denkt gerade an dich. Er denkt immer an dich, aber gerade ganz besonders.“

Sie denkt auch immer an ihn. Jeder Gedanke führt in seine Richtung. Sie sieht so oft den ersten Blick in seinen Augen vor sich, hört seine ersten Worte. Sie spürt seine erste Berührung, so zaghaft. Sie fühlt den ersten Kuss. Einen ersten von vielen. Sie sieht sein Lächeln, den Glanz in seinen Augen. Nur für sie. Blitzschnell sind die Bewegungen des Eichhörnchens. Erst dreht es sich auf der Stelle und blickt in die andere Richtung, dann dreht es sich zurück, der Schweif folgt wie ein wehender Schleier verlangsamt der Bewegung. Sein Kopf zuckt, es schaut links und rechts, blickt nach oben und unten, saust im nächsten Moment den Ast entlang zum Stamm der alten Buche, fast zur Krone hinauf, dann hinab zum Boden. Sie versucht, den schnellen, zuckenden, aber doch eleganten Bewegungen des kleinen Waldbewohners zu folgen, verliert ihn kurzzeitig, entdeckt ihn aber sogleich wieder. Er flitzt über den Waldboden, nur der buschige Schweif ist zu sehen, der zarte Körper im Laub nur zu erahnen. Mit einem Satz springt das Eichhörnchen an den nächsten Baum, saust hinauf und wieder hinab, verschwindet erneut im Laub und huscht schließlich über einen kleinen Wall aus ihrem Blickfeld. Ihr Blick verweilt noch einen Moment an der Stelle, wo sie das Eichhörnchen zuletzt gesehen, doch es kehrt nicht zurück.

„Schau nach, er hat dir sicher eine Nachricht hinterlassen.“

Sie kann sich wieder bewegen und greift in ihre Jackentasche. Sie nimmt ihr Handy raus, hält es einen Moment scheu in der Hand, ohne es anzuschauen, mutig wendet sie dann ihren Blick auf das Display und bemerkt, dass sie eine Nachricht erhalten hat. Sie muss sie gar nicht öffnen. Sie weiß es. Er liebt sie. Sie liebt ihn. Auch wenn sie nicht beieinander sein können. Seelengefährten, manchmal einsam, aber nie allein. Reine, alte Seelen, die Eichhörnchen beim Schlafen beobachten können.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.02.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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