„Weißt du, dass ich dich gesehen habe?“, fragt sie.
„Ach ja? Wo hast du mich gesehen?“
„Am Himmel. Jeden Sommer in den Bergen sah ich dich beim Drachenfliegen.“
Er schaut sie eine Weile schweigend an, lächelt verträumt. Sie schaut in den blauen Himmel, denkt an all die Sommer zurück, die sie ihn gesehen und an ihn gedacht hatte.
„Hast du mich auch gesehen?“, fragt sie schließlich.
Er nickt. „Ja. Ich habe dich nie aus den Augen verloren.“
Sie lächelt. „Das habe ich gespürt.“
„Weißt du, dass ich noch viele Jahre nach dem Zauberwürfel gesucht habe?“, fragt sie weiter.
„Er liegt doch in der Schublade“, antwortet er mit sanfter Stimme.
„Irgendwann war er weg.“
Sie senkt betrübt den Blick. So oft hatte sie am Schreibtisch gesessen und immer wieder alle Schubladen durchgesehen. Der Würfel war plötzlich fort gewesen.
„Hast du alles durchgesehen?“
„Ja, wieder und wieder.“
„Bleibt uns nur die Erinnerung“, überlegt er.
„Inzwischen weiß ich, wie viel sie wert ist.“ Sie lächelt, schaut ihn nachdenklich an. „Erinnerst du dich auch?“
Er nickt, lächelt und spürt, wie seine Augen feucht werden. „Ich habe keine Sekunde mit dir vergessen.“
Sie spürt einen Kloß im Hals, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Ach, ich wünschte, ich hätte mehr Erinnerungen an dich.“
„Umso wertvoller sind doch jene, die du bewahren kannst.“
Sie nickt lächelnd.
„Ich freue mich“, beginnt er nach kurzer Pause wieder, „dass du den Globus behalten hast.“
„Oh ja, er bedeutet mir so viel. Ich würde ihn niemals hergeben. Leider ist das Licht kaputt.“
„Das macht doch nichts. Wir haben uns die Welt doch auch ohne Licht angesehen.“
Sie würde ihn so gerne spüren, von ihm in den Arm genommen werden. Wie früher. Doch es geht nicht.
„Eine Welt ohne Licht war es für mich, seit du gegangen bist. Zumindest war dort deutlich weniger Licht.“
Er schaut sie traurig an. „Ich bin doch immer bei dir und spende dir etwas Licht.“
Sie nickt traurig lächelnd. „Ich weiß. Du warst immer für mich da. Und bist es noch.“ Sie macht eine kurze Pause. „Du hast mein ganzes Leben beeinflusst. So viele Gedanken führen mich zu dir.“
„Und daran wird sich nie etwas ändern.“
Sie schauen einander schweigend an, lächeln, haben aber auch etwas Trauriges in ihrem Blick.
„Weißt du“, beginnt sie schließlich wieder, „dass ich viele Jahre Angst hatte, an die Nordsee zu gehen? Ich hatte solche Angst vor den Krebsen dort im Watt.“
„Wie kommt das?“, fragt er nach und schaut ihr tief in die Augen.
„Ich hatte solche Angst, dass mich auch ein Krebs erwischt… So wie dich, Opa.“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2023.
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