In Startposition stehen sie vor der Tür, warten ein paar Anstandssekunden noch ab, sagen sich aber, jetzt hätten sie lang genug gezaudert, wer nicht raus ist, ist schon selbst schuld. Nunmehr voll dagegen.
Man läge falsch, dächte man, vor allem Jugendliche oder Ausländer wären dermaßen egoistisch. Tatsächlich verhalten sich nahezu alle Alten über siebzig so. „Der Bus wird gleich wegfahren und ich bin nicht drin, wenn es mir nicht gelingt, mich vor die Schnelleren zu schieben!“ Weil das ist nämlich andauernd so. Die Busse fahren einfach fort und die Alten über siebzig, die niemand mehr will, müssen hinterher schauen.
Wichtig ist sowohl innen, wenn man auf die Türöffnung fürs Aussteigen lauert, wie auch von draußen, wenn man sich zum Aufsitzen fertig macht, dass man genau in der Mitte vom Weg Stellung bezogen hat und ganz dicht bei der Tür, sodass keiner mehr noch um einen herum kann. Immerhin hat man den allerkürzesten Weg. Die Schnelleren müssten außen herum, was sie naturgemäß schon auch langsamer macht. Allerdings steht man jetzt vor denen, die erst noch aussteigen möchten. Aber das sind Randprobleme.
Schauen wir weiter in die Zukunft, erkennen wir, dass es beim Einsteigen letztlich nicht nur darum geht, überhaupt mitgenommen zu werden, sondern das Erreichen der strategisch ratsamsten Sitzplätze ebenfalls von Belang ist. Falls gleich hinter dem Einstieg ein Sitzplatz frei ist oder gerade frei wird, was man von außen oft nicht einschätzen kann, hat man ihn mit großer Sicherheit erobert, wenn man in der Reihe der Einsteiger die Spitzenstellung verteidigen kann. Die Menschheit ist egoistisch und auch ganz nachlässig. Sie setzen sich irgendwo hin, weil dort eben frei ist.
Kaum einmal respektiert irgendwer, dass nur den Alten die ersten Plätze hinter den Türen beziehungsweise die daran anschließenden oder gegenüber liegenden vorbehalten sind. Das muss aber sein, weil alte Menschen ziemlich muskelschwach und gehbehindert sind oder mit sperrigen Stöcken hantieren. Deswegen kann man nicht erwarten, dass sie von weit hinten oder auch von ganz vorne, denn viele Busse öffnen zum Ausstieg nur noch in der Mitte, die langen Anlaufwege in Kauf nehmen.
Übrigens gibt es in der Mitte, genau gegenüber der Türflügel, auch noch Sitzflächen zum Runterklappen. Diese wählen die Alten nie, weil es nicht leicht ist, die Federn der Sitzgelenke zu betätigen und weil, kaum sitzt man dort mal, noch eine junge, kinderreiche Familie migrantischer Herkunft einsteigt, die kein Deutsch kann, aber glaubt, der gesamte Raum in dieser Mitte stehe allein ihnen zu, weil sie einen Kinderwagen haben.
Früher sind die Schüler mit den schweren Schulranzen, die hinter der Trennscheibe zur Einstiegszone saßen, immer aufgestanden, wenn sie einen Über-Fünfzigjährigen kommen sahen. Heute macht das kein Kind oder Jugendlicher mehr, selbst wenn es sich bei den Bedürftigen um zitternde Neunzigjährige handelt. Es hängt insgesamt ungeheuer was davon ab, nur wenige Zentimeter von den Türen entfernt zu bleiben.
Auch muss man immer aufstehen, bevor das Fahrzeug wirklich zum absoluten Stillstand gekommen ist, denn andernfalls stehen vorne an der Türe andere Leute. Falls dann mal was passiert, etwa, weil eine radikale Abbremsung erfolgt, und man fliegt im Gang herum, so befinden sich dort genügend andere Körper, gegen die man prallen und sich auffangen lassen kann. Blutig verlaufen in diesen Fällen nur Begegnungen mit Kinderwagen und den in ihnen transportieren Konservenbüchsen und Getränkedosen.
Jeder alte Mensch verfügt über einen eminenten Wissensschatz, eine Bibliothek seiner gesammelten Erfahrungen aus unzähligen Lebenstagen, die schon bald mit diesen Alten ins Grab rauschen werden - auf Nimmerwiedersehen. Dem muss vorgebaut werden. Ein gigantisches kulturelles Unterfangen, mit dem hier begonnen wurde.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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