Marc Hecht

Nein, danke.

 

Auf der Burg Giebichenstein stand an einem klaren Herbsttag ein hagerer Mann. Um die vierzig, schmal. In einem hellen Trenchcoat stand er da, die Hände in den Manteltaschen. Lange sah er still umher, ging dann ein wenig vorher, seine Schritte knirschten im Kies. Schließlich blieb er wieder stehen und sah dem Fluss nach, der Saale, die an der Burg vorbeizog. Die Sonne tanzte auf den kleinen Wellen. Ein Stück entfernt nur teilte sich der Fluss - und auf einer schmalen Landzunge reckten sich Birken und Weiden schräg über die Ufer. Schön sah das aus. Dahinter drückten sich die Konturen der Stadt gegen das helle Herbstlicht. Die Dächer und Türme, das Gewirr der Großstadt. Es war früher Nachmittag.

Der Mann blickte umher, von der Burg hinab auf den Fluss. Er hatte ernste Augen, hinter randlosen, runden Brillengläsern, und schütteres Haar, hager sah er aus – und seine ernsten Augen gaben ihm ein verschlossenes Aussehen.

Den gesamten Vormittag schon war er durch die Stadt gelaufen. Durch Altstadt-Gassen, an Fachwerkhäusern und Brunnen im Jugendstil vorbei, auf den Marktplatz. Dort hatte er vor dem Roten Turm gestanden, vor Händels Denkmal, vor der Marienkirche. Alles hatte er sich angesehen, durch seine randlose Brille, die Hände weiter im Mantel vergraben, nur ab und zu fuhr er sich durchs Haar.

Ja, es war gut hier. Das hatte er schnell gemerkt. Die Stadt war gut. Mächtig heruntergekommen zwar, eine graue Diva, aber noch immer vornehm. Die Stadt war sehr alt – und das gefiel ihm.

In einem Gasthof hatte er zu Mittag gegessen, gegenüber der Burg, im Gasthof „Zum Ochsen.“

Eine Straßenbahn war eingebogen, vorbeigezogen, die Gläser im Gasthof hatten vibriert. Es war düster im Schankraum, der Wirt hatte hinter seinem Tresen hantiert. Und offenbar war es ihm wichtig, seinem Gast die Bedeutung des Ortes zu erklären. Luther hätte hier schon übernachtet, hatte er stolz erklärt: Damals, als Junker Jörg verkleidet, von der Wartburg auf dem Weg nach Wittenberg. Die Saale hätte jedoch zu hoch gestanden, und Luther wäre nicht hinübergekommen, drei Tage lang hätte er hier gewartet.

Er hatte zugehört, den Wirt still angesehen und genickt. Und auch jetzt, hier oben auf der Burg, nickte er: Ja, sie hätten sich wohl gefühlt, in dieser Stadt – und im Gasthof „Zum Ochsen“.

Und trotzdem konnte er nicht bleiben.

Lange hatte er nicht überlegt – dabei: Wie lange hatte er schon Arbeit gesucht! Und hier war sie nun – die neue Stelle. Verrückt genug, hier, im Osten. Auch die Stadt war großartig. Und doch ging es nicht.

Er war jetzt 45 – und er wusste nicht, was er seiner Frau sagen sollte, wenn er wieder heimkehrte, am Abend. Sie war ihm um den Hals gefallen, als die Offerte kam. Und jetzt hatte er abgelehnt!

Er griff in die Manteltasche, drehte sich vom Wind weg und zündete eine Zigarette an.

Was sollte er sagen? „Der hat ständig mit dem Finger auf mich gezeigt“ – sollte er das vielleicht sagen? Oder: „Der hat ständig ‚Pass auf’ gesagt?“

Natürlich - es war furchtbar, heute morgen, ganz furchtbar: „So, Meister! Dann pass’ mal auf ...,“ hatte der Chef gesagt - zur Begrüßung. An seinem ersten Arbeitstag. Und der Chef hatte ihn dabei nicht einmal angesehen, weil er noch auf eine Liste blickte, die man ihm gerade in die Hand gedrückt hatte.

Er wusste sofort, dass es hier nichts werden kann. Er hasste es, wenn jemand „Pass auf“ zu ihm sagte, er passte immer auf; und man sollte ihn schon ansehen, wenn man mit ihm sprach. Und er war auch kein Meister. Und man sollte doch lieber beim Sie bleiben... aber sollte er das sagen? Im Grunde war es ja gar nichts. Und trotzdem ... aber nein, sie wird es bestimmt nicht verstehen. Der Mann rauchte, sah umher auf der Burg.

Der Chef heute morgen war ihm unsympathisch. Zutiefst, von Anbeginn. Sein neuer Chef. Und so war er also wieder gegangen. Und der Chef war schier fassungslos: „Wie? … doch nicht?“

Nein – oder besser ja“ – hatte er geantwortet.

Der Chef hatte den Kopf geschüttelt - und hatte ihn dann schnell verabschiedet, wie einen Verrückten.

Eine Straßenbahn bog ein. Von oben, von der Burg sah er zu, wie sie scheppernd zwischen den Häusern verschwand. Er blickte ihr nach, rauchte. Dann warf er die Zigarette vor sich auf den Kiesboden, trat sie aus und verließ die Burg, um nach Hause zu fahren.


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.04.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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