Hajo Schindler

Wenige Worte können eine Geschichte erzählen

Haben Sie schon einmal versucht eine komplette Kurzgeschichte in 6 Worten zu erzählen, zu schreiben?

Gar nicht so einfach, verstehen doch die meisten Menschen unter einer Geschichte einen längeren Text. Üblicherweise haben Kurzgeschichten durchschnittlich mindestens 1000-2000 Wörter.

Eine Geschichte mit nur 6 Wörtern? Was für eine verrückte Idee, werden jetzt einige von Ihnen sagen. Ist das überhaupt möglich? Ja es ist möglich.

Angeblich, so wird erzählt, sitzt Ernest Hemingway in den 1920-er Jahren mit seiner Schriftsteller-Clique in einem Restaurant in New York. Gut gelaunt fordern seine Freunde ihn heraus, mit nur 6 Wörtern eine komplette Kurzgeschichte zu schreiben.

„Wollen wir wetten, dass ich das schaffe?“, fragt Hemingway in die Runde. Die anderen lassen sich auf die Wette ein. Seine Freunde werfen Dollars auf den Tisch. Und er gewinnt die Wette. Hemingway nimmt seine Serviette und schreibt 6 Wörter auf:

For sale: Baby shoes. Never worn.

(Zu verkaufen: Baby Schuhe. Nicht getragen!)

Seine sechs Wörter haben einen Platz in der Dichtkunst gefunden. Interessant ist, dass die Kurzgeschichte zu diesen Wörtern ausschließlich in den Köpfen der Leser entsteht. Wie diese dann aussieht, ist so individuell wie die Menschen, die diese Worte lesen. Sie bleiben im Gedächtnis haften, weil sie in irgendeiner Form berühren. Das Geheimnis dieser 6 Worte Geschichte ist, dass sie Spielraum für allerhand Anschauungsweisen lässt. Der menschliche Verstand ergänzt vieles, was scheinbar fehlt.

Vor einigen Wochen musste ich an Hemingways Wette/- Geschichte denken.

Vielleicht haben Sie kürzlich den letzten Dortmunder Tatort „Du bleibst hier“ in der ARD gesehen. Auch hier tauchte eine 6 Wort Geschichte - bewusst oder unbewusst – am Ende des Films auf.

Man sieht Hauptkommissar Peter Haber ( Schauspieler Jörg Hartmann) mit seinem Vater auf einer Bank vor einem Krankenhausgebäude sitzen. Eine traurige, eine düstere Szene. Der kurze Dialog zwischen Vater und Sohn lieferte mir das Fundament für eine beklemmende, wehmutsvolle 6 Worte Geschichte. Der an Demenz erkrankte Vater sagt zu seinem Sohn:

„Hilf mir, wenn ich Dich verlasse“

So kurz dieser Dialog auch ist, er schaffte es in meiner Wahrnehmung ein jämmerliches Dasein, eine unheilvolle Geschichte in wenigen Worten herauf zu beschwören.

Das kurze Gespräch blieb im Gedächtnis haften, weil die 6 Worte mich berührten und Spielraum für allerhand Interpretationen schafften.

Schnell wollte auch hier, wie schon oben, meine Fantasie die Zwischenräume der Geschichte ebenfalls füllen.

Dieser 6 Worte Dialog am Ende des Tatorts bedient die sicher in uns allen vorhandene Angst, sich in eine Parallelwelt ohne Erinnerungen zu verabschieden. Für mich bedient es das Genre eines Trauerspiels. Ich lese darin Worte wie Not, Verzweiflung, Angst, Verlust. Der geistige Verfall ist schlimm. Das schrecklichste, was einem geliebten Menschen passieren kann, ist sein Versinken im Nichts. Wenn er nichts und niemanden mehr erkennt, vor allem Angst hat und sich nie sicher fühlt.

Mein Eingangsstatement lautet: Haben Sie schon einmal versucht, verehrte Leser, eine komplette Geschichte in 6 Worten zu erzählen, zu schreiben. Schütteln Sie jetzt noch immer ungläubig den Kopf? Jeder ist dazu in der Lage. Denken Sie nur an die 6 Worte, die viele von uns verinnerlicht haben, viele von uns heute noch leben:

„Bis das der Tod euch scheidet“.

Wie schon an anderer Stelle erwähnt, schaffen es auch diese Worte eine Geschichte in den Köpfen der Leser entstehen zu lassen. Wie diese dann am Ende aussieht, ist so individuell wie die Menschen, die diese Worte lesen.

Ist das Eheversprechen, das sich hinter diesen Worten verbirg, ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit, wo die Frau vom Mann finanziell und als Versorger der Familie abhängig und eine Scheidung sowieso ein „no go“ war? Das hohe Ideal und der Wunsch „diese Geschichte“ zu (er-)leben ist bei den meisten Paaren vorhanden.

Ebenfalls emotional klingen, sind für mich auch die 6 Worte aus einem Lied von Alexander Knappe, welches ich gestern im Radio hörte und die die Geschichte einer unvergesslichen und starken Liebesverbindung zwischen zwei Menschen beschreiben. Es geht darum, dass sie alles geben und sich lieben.

„Bis meine Welt die Augen schließt“

heißt es da in einer Liedzeile.

Es ist eine Ode an die wahre Liebe und eine Aufforderung, sie zu schätzen und zu respektieren.

Ich komme zum Schluss noch einmal auf die obigen Worte von Hemingway zurück: Sie können für einen tragischen Verlust stehen. Genauso gut können die ungetragenen Babyschuhe ein unpassendes gekauftes Geschenk sein.

So kurz diese Hemingway Story auch ist, sie schafft es, in meiner Fantasie eine Geschichte erstehen zu lassen. Zu Beginn denkt man, es könnte sich hier nur um eine Kleinanzeige handeln. Je mehr man sich damit beschäftigt, wird einem aber spätestens beim letzten Wort klar, das sich hinter diesen Worten vermutlich eine Tragödie verbirgt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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