Rudolf Kowalleck

Das Klassentreffen

Piolka saß in dem kleinen Hafencafé am Fenster und schaute auf die andere Rheinseite hinüber.

Das ehemalige Krupp-Stahlwerk war inzwischen einem modernen Containerterminal gewichen. Die bunten Stahlbehälter warteten dicht übereinandergestapelt auf ihren Weitertransport.

Die alten Portalkräne, die ihn schon als Kind mit ihren gebogenen Auslegern und singenden Elektromotoren immer an urzeitliche Ungeheuer erinnert hatten, waren ebenfalls verschwunden. Sie tauchten schon lange nicht mehr ihre gigantischen Greiferschaufeln tief in die Bäuche der Schubleichter ein, um wenig später mit einem Maul voller Kohle oder Erz wieder zu erscheinen.

Ein Koppelverband glitt mit weißem Schaum vorm Bug zu Tal. Seine Positionslichter leuchteten weithin sichtbar.

Duisburg hatte sich total verändert. Die Stadt war ihm fremd geworden.

Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht hierher zu kommen. Was sollte so eine Reise in die Vergangenheit bringen?

Aber Pischek hatte versprochen, Lena komme auch.

Lena. Schon der Klang ihres Namens genügte, die längst verdrängt geglaubten Bilder wieder in sein Bewusstsein zu spülen.

Er erinnerte sich an das Kreischen der Möwen, das nur von ihrem fröhlichen Lachen übertönt wurde. Er hörte auch wieder das Rauschen der Wellen und den lustigen Klingklang der Seile, die der Wind rhythmisch gegen die Masten der Schiffe im Jachthafen schlug und er dachte daran, wie sie Hand in Hand den Weg zum alten Leuchtturm hinaufgestapft waren, sie ihm oben angekommen tief in die Augen geblickt hatte und gemeint: »Nun küss mich doch endlich.«

Erinnerungen können etwas ganz Phantastisches sein, aber nur, wenn es gemeinsame Erinnerungen sind. Dann machen sie sogar jeden grauen Regentag erträglich, aber er hatte jahrelang allein zurückblicken müssen und bald war da nur noch diese Leere geblieben, die seine Tränen zwar versiegen ließ, aber auch die Fähigkeit, sich noch über etwas freuen zu können.

Das Klirren einer Tasse riss ihn aus meinem Tagtraum. Es wurde Zeit. Er zahlte und machte sich auf den Weg zum Alten Landhaus.

Dort angekommen, betrachtete er die Kennzeichen der schweren Limousinen, die auf dem Parkplatz davor abgestellt waren.

Seine früheren Klassenkameraden hatte es wahrhaftig in alle Winde zerstreut. Hamburg, München, Heidelberg war da zu lesen.

Als er den festlich geschmückten Raum betrat, war es, als tauchte er in eine andere Welt. Ein Mann mit Halbglatze stürmte auf ihn zu.

»Meine Güte, wenn das nicht unser guter alter Joe ist!«

Pischek lachte.

»Bist ganz schön grau geworden, Alter«, meinte er.

»Und du hast ganz schön zugelegt«, konterte Piolka.

Wo war Lena?

Er schaute sich nach allen Seiten um, konnte sie aber nirgendwo entdecken.

Pischek hatte sich alle Mühe gegeben und einen Projektor sowie eine Leinwand besorgt, um die Filme zeigen zu können, die er damals aufgenommen hatte.

In der Einladung hatte er gebeten, alles mitzubringen, was an Erinnerungsstücken noch aufzutreiben sei.

Fotos wurden herumgereicht und Vergleiche angestellt. Es wurde gescherzt und gelacht. Wie man sich doch verändert hatte.

Piolka stand mit leeren Händen da. Die Kiste mit seinen Fotos sei beim Umzug verloren gegangen, log er.

Ein D.J. kümmerte sich um die Musik. Jeder Song eine Erinnerung an gemeinsame Abende mit Klammerblues und Räucherstäbchen.

»Und der Mensch bleibt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt«, dröhnte Herbert Grönemeyers Stimme aus den Boxen.

Im Nebenraum ein gigantisches Büffet. Pischek hatte sich wirklich nicht lumpen lassen. Piolka schnappte sich einen Teller, füllte sich auf und gesellte sich zu einem der kleinen Grüppchen, die sich immer wieder auflösten und in anderer Besetzung neu formierten.

Stets war die erste Frage: »Und? Was machst du so?«

Dettmann war ein erfolgreicher Anwalt geworden, Steinebach Chefarzt an einer renommierten Privatklinik und Andrea Werner hatte die Druckerei ihres Vaters übernommen.

Pischek berichtete über seine beruflichen Erfolge, reichte Bilder von seiner Villa und seiner Motoryacht herum und die anderen umringten ihn wie einen Star.

»Na? Wie geht es dir?«

Diese Stimme hätte Piolka unter tausenden wiedererkannt.

 »Gut!«, antwortete er und drehte sich zu Lena um.

 Sie lächelte. Um ihre Mundwinkel bildeten sich noch immer diese lustigen Grübchen, aber sonst hatten die Jahre auch ihr tiefe Spuren ins Gesicht geritzt. Ein paar Falten um Augen und Mund, ein paar graue Haarsträhnen. Nichts mehr von diesem unbeschreiblichen Optimismus, den ihre Augen früher ausgestrahlt hatten.

Er blickte auf ihre rechte Hand, so offensichtlich, dass sie spontan lachen musste.

»Frisch geschieden«, bekannte sie freimütig. »Wir haben uns irgendwie auseinandergelebt. Und bei dir?«

»Single«, sagte Piolka. »Hat sich leider nichts Festes ergeben.«

Einen kurzen Moment blickten sie sich nachdenklich an, dann ging ein Ruck durch Lena und sie machte sich ebenfalls über das Büfett her.

Nach dem Essen tanzten sie miteinander, erst noch ein wenig schüchtern und scheu, doch dann lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Er schloss die Augen, umfasste sie fester und alles war beinahe wie früher.

Pischek klopfte mit einem Löffel gegen sein Glas.

»Alle mal herhören, bitte«, meldete er sich zu Wort. »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, schrieb der Dichter Jean Paul. Das kann ich nur bestätigen. Neulich bin ich endlich mal dazu gekommen, meine Garage aufzuräumen und bin unter anderem auf die Fotos und Filme aus unserer gemeinsamen Schulzeit gestoßen. Da habe ich mir gedacht, jetzt wird es aber höchste Zeit für ein Klassentreffen. Ich freue mich, dass so viele von Euch meiner Einladung gefolgt sind. Jetzt lasst uns weiter gemeinsam feiern und in Erinnerungen schwelgen. Damit niemand auf die Idee kommt, betrunken mit dem Auto zu fahren, habe ich keine Kosten und Mühen gescheut und jedem von Euch hier im Haus ein Zimmer gebucht. Und nun wollen wir unsere Gläser erheben und auf die gute alte Zeit anstoßen, auf unser ganz persönliches Paradies der Erinnerung.«

Alle applaudierten und ließen Pischek hochleben. Der genoss es sichtlich wie früher im Mittelpunkt zu stehen. Manches ändert sich eben nie, dachte Piolka. Lena zwinkerte ihm zu, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Sie feierten noch bis in die frühen Morgenstunden. Dann wurde es Zeit fürs Bett. Lena küsste Piolka auf die Wange und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn du möchtest, können wir jetzt nachholen, was damals auf Sylt nicht möglich war.«

Das war typisch Lena. Er kannte keine andere Frau, die so unumwunden aussprach, was sie wollte und das meistens auch bekam.

Pischek drängte sich zwischen sie, legte jedem einen Arm um die Schulter und meinte: »War ein cooler Abend, oder? Das müssen wir unbedingt wiederholen, aber dann warten wir nicht noch einmal zwanzig Jahre.«

Ein paar Minuten plauderten sie noch miteinander. Der D.J. hatte inzwischen Feierabend gemacht und seine Anlage abgebaut. Dann hatten auch die Letzten die nötige Bettschwere erreicht und verschwanden nach und nach auf ihre Zimmer.

Wenig später lagen Lena und Piolka nackt nebeneinander im Bett. Die Nachttischlampe spendete diffuses Licht.

»Was denkst du?«, fragte sie.

»Nichts.«

 »Du musst dich nicht schämen. Du hast keine Ehe gebrochen. Kein Mensch kann noch einmal brechen, was schon längst zerbrochen ist.«

»Das ist es nicht.«

»Was ist es dann?«

»Jetzt nicht. Ich bin ich viel zu müde.«

Er drehte sich um, fasste über sie hinweg zur Nachttischlampe und löschte das Licht.

Sie kuschelte sich bei ihm ein. Er genoss den Duft ihrer Haare und die Wärme ihres Körpers. Schon lange nicht mehr hatte er sich so wohl gefühlt.

 

*

Als Piolka aufwachte, griff er neben sich ins Leere. Das Laken war kalt. Er richtete sich auf und noch halb verschlafen rief er ihren Namen, doch Lena antwortete nicht.

Piolka rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen und hatte das Gefühl, eine Hammerschmiede hätte in seinem Kopf ihre Arbeit aufgenommen. Er mühte sich hoch und schlurfte ins Bad. Dort reichten zwei Hände kaltes Wasser, um seine Lebensgeister einigermaßen wieder zu wecken. Vielleicht war sie Joggen. Der Stadtpark war nicht weit entfernt. Das hatte sie früher schon regelmäßig getan.

Die Nachricht auf dem Nachttisch entdeckte er erst, nachdem er ins Zimmer zurückgekehrt war. Er setzte sich aufs Bett und begann voller Erwartung zu lesen, was sie ihm mitzuteilen hatte.

Lieber Joe,

das war wirklich eine tolle Nacht mit dir und es hat mich riesig gefreut, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Ja, ich habe auch so etwas wie Liebe empfunden oder vielleicht sollte ich es besser Verliebtheit nennen?

Ich habe über uns nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es eine Illusion ist, vergangene Zeiten noch einmal erleben zu wollen. Lass die Toten ihre Toten begraben, heißt es schon bei Matthäus.

Außerdem bin ich noch nicht bereit für eine neue Beziehung.

Sei mir nicht böse, wenn ich es bei dieser einen Nacht mit dir belassen möchte.

Leider war ich zu feige, es dir offen ins Gesicht zu sagen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.

Bitte rufe mich nicht an und versuche auch nicht, auf anderen Wegen Kontakt zu mir aufzunehmen. Glaube mir, es wäre sinnlos und würde nur noch mehr wehtun.

Für dein weiteres Leben wünsche dir alles Glück der Erde.

Fühle dich ein letztes Mal umarmt.

Deine Lena

 

Piolka brauchte ein paar Sekunden, um ihre Worte zu verinnerlichen. Die anfängliche Enttäuschung schlug in Wut um.

Er zerriss das Schreiben und warf die Fetzen in den Papierkorb.

Danach schlich er in das eigentlich für ihn bestimmte Zimmer. Es sollte niemand mitbekommen, wo er die Nacht in Wahrheit verbracht hatte.

Dort duschte er und zog sich um. Danach packte er seine Tasche und checkte aus, ohne sich von den anderen zu verabschieden.

Die Lust auf Frühstück war ihm vergangen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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