Kerstin Meinecke

Der Bachgeist

Eine Frau saß einsam an einem Bach und hing ihren Gedanken nach. Sie schaute in den, mit Sternen behangenen, Nachthimmel und summte leise eine traurige Melodie. Hinter ihr erklang eine Stimme. Sie war gedämpft: "Verzeihung, könntet Ihr mir einen Teil Eurer Aufmerksamkeit schenken?" Die Frau schaute sich überrascht um, konnte jedoch niemanden entdecken. Die Stimme räusperte sich und sprach: "Ich bin hier drüben." Die Frau stand auf und ging in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nach kurzer Zeit drehte sie um, da sie niemand entdecken konnte. Plötzlich meldete sich die Stimme erneut und zwar direkt neben ihr. Sie schaute hinab und sah ein kleines Männlein. Sie schrak zurück und riss den Mund erstaunt auf. Der kleine Mann sagte beruhigend: "Keine Angst, Fräulein! Ich bin ein nettes und freundliches Kerlchen!"
Die Frau fasste sich, sprang auf ihr Gegenüber zu und schnappte ihn sich. "Ha! Jetzt hab ich dich! Kobold! Jetzt musst du mich zu deinem Topf voll Gold bringen", rief sie erfreut. Das Männlein schaute empört und verwandelte sich. Der kleine Kobold war zu einem Menschen geworden. Er war nun einen Kopf größer als sie, schaute auf sie hinab und verschränkte die Arme. Sein Gegenüber räusperte sich verlegen und murmelte: "Tut mir leid, Herr Kobold oder was Ihr auch immer seid. Es ist nur so.. das ist eigentlich nicht meine Art aber.. ich habe momentan schlimme Geldsorgen und..", "Da kam ein Kobold natürlich gerade richtig", beendete der Mann den Satz. Die Frau schaute beschämt zu Boden. Er klopfte ihr auf die Schulter und flüsterte: "Ich bin kein Kobold! Ich bin ein Bachgeist! Ich weiß, dass Ihr Geldsorgen habt, Fräulein. Ihr kommt schon so lange hierher und habt mich immer mit euren schönen Liedern beglückt aber in der letzten Zeit sind sie nur noch traurig. Ich habe deshalb den Wind befragt. Er ist um Euer Haus geweht und hat sich erkundigt. Ich mache mir Sorgen. Ich möchte wieder Euer Lachen hören. Euere fröhlichen Lieder. Ich möchte wieder Eurer Lächeln sehen. Ich werde Euch deshalb ein Geschenk geben." Er schnippte mit dem Finger und sang:

"Feuer, Luft, Wasser und Erde
Ein Geschenk ihr bringt
So dass sie glücklich werde
Und wieder lacht und singt!"

Eine kleine Flamme erschien in seiner Hand, dann ein kleiner Tornado, danach ein Regentropfen und schließlich ein Stein. Er gab ihn ihr. Sie schaute skeptisch auf das Geschenk und fragte: "Und das soll meine Geldsorgen verschwinden lassen?" Der Mann lächelte und pustete auf den Stein. Eine dicke Sandschicht flog hinfort und ein großer Bernstein kam zum Vorschein. "Dieser Stein kann.." begann der Mann aber wurde von ihr unterbrochen: "Juhu! Den werde ich gleich zum Markt bringen!" Sie schnellte los, wurde aber von ihm aufgehalten. Er zog eine Augenbraue nach oben und sagte: "Moment! So war das nicht gedacht! Dieser Stein erfüllt Euch Wünsche. Das ist besser als ihn zu verkaufen." Sie jauchzte vor Glück und wollte erneut loslaufen aber er hielt sie schon wieder auf, mit den Worten: "Schenkt mir bitte erneut Eure Aufmerksamkeit! Die Sache hat zwei Haken. Ihr dürft niemandem davon erzählen und Ihr dürft niemanden töten." Sie nickte und rannte nach Haus.
Dort angekommen, legte sie ihr Geschenk auf ihren Schreibtisch. Sie setzte sich davor und betrachtete es eine ganze Weile. Sie nahm ihn sich entschlossen und sprach: "Ich wünsche mir einen Sack voll Goldmünzen!" Nichts geschah. Sie war enttäuscht. Sie stand auf und murmelte: "Dann muss ich ihn doch verkaufen!" Wie aufs Stichwort erschien ein Beutel, der randvoll mit Münzen gefüllt war. Daneben lag ein Zettel mit der Aufschrift: "Vor Wunschäußerung folgendes Wort sagen: "Koriander"". Sie schaute skeptisch drauf und wandte sich dann dem Geldbeutel zu.
Sie sagte das Wort und ihre Wünsche gingen in Erfüllung. Sie wünschte sich diesen Abend noch allerhand. Kleidung, Essen, ein schöneres Haus, einen Ehrenbürgertitel, Freunde,... So vergingen Tage, Monate, Jahre. Sie lebte in vollkommenen Luxus. Sie hielt sich immer an die Abmachung, die sie mit dem Bachgeist geschlossen hatte. Sie besuchte ihn anfangs auch jeden Tag, doch es wurde immer seltener, bis sie eines Tages jemanden anstellte, der für sie dort saß und sang. Alle hielten sie daraufhin für verrückt aber niemand hätte sich getraut, das laut auszusprechen. Sie war schließlich sehr einflussreich.
Es waren nun schon 6 Jahre vergangen, als sie das Geschenk des Bachgeistes erhalten hatte. Sie saß bei einem Bankett, das zu Ehren des Königs gehalten wurde. Sie amüsierte sich königlich. Nach einer Weile gesellte sich ein weiterer Gast hinzu. Sie betrachtete ihn misstrauisch. Er war ganz und gar in schwarz gekleidet und hatte etwas in seinem Blick, dass sie nicht einordnen konnte. Der nächste Gang wurde aufgetragen. Als sie die bemerkte, vergaß sie ihr Misstrauen und konzentrierte sich auf die Speisen.
Langsam wurde es Abend. Ein paar Gäste waren bereits gegangen und die restlichen rückten näher zusammen. Nun gab sich sogar der König die Ehre, der bis zu diesem Augenblick in seine Regierungsgeschäfte vertieft gewesen war. Er schaute lächelnd in die Runde und sprach: "Welch ein lustig Treiben! Hätte ich mich doch früher von meinen Geschäften lossagen können! Aber nun bin ich ja da und kann mich mit meinen Freunden amüsieren und die weinig beglückenden Bürden hinter mir lassen!" Er nahm platz, klatschte in die Hände und kurz darauf trat eine schöne Frau ein. Begleitet wurde sie von einer handvoll Musikern. Sie stellten sich vor das gespannte Publikum und verbeugten sich. Als ein kleiner Beifall einsetzte, begannen die Musikanten ein fröhliches und rhythmisches Lied zu spielen. Die Frau horchte kurz auf, fing an zu singen und dann zu tanzen. Sie bewegte ihre Arme kaum aber ihre Beine waren in rasender Bewegung. Es erinnerte an eine Art irischen Tanz. Das Publikum klatschte begeistert im Rhythmus. Die Tänzerin kam auf den König zu und strich ihm um die Schultern. Der Herrscher lächelte und klatschte noch begeisterter. Die Tanzende lächelte lieblich zurück und widmete sich wieder der Musik.
Der schwarzgekleidete Mann schritt langsam auf den König zu. Er stellte sich hinter ihn und schaute auf ihn hinab. Er riss die Augen auf und zückte einen kleinen Dolch. Die Frau mit dem Wunschstein blickte zufällig zur Seite und schrak dann auf. Sie zog ihren Stein aus ihrer Handtasche und flüsterte: "Koriander! Ich wünsch mir den Tod dieses Mannes!" Der Mann mit der Waffe stöhnte kurz auf und fiel dann zu Boden. Die Frau lächelte bitter. Die restlichen Gäste schrieen bestürzt auf. Die Tänzerin und die Musikanten sahen sich gegenseitig an, nickten kurz und rannten dann hinaus. Der König sprang auf und stutzte, als er den Leichnam sah. Plötzlich sprang er zurück, schrie und zeigte auf seinen Stuhl. Die Anwesenden schauten hin und kreischten. Eine kleine rotschwarze Giftschlange kroch auf der Rückenlehne und zischte bösartig.
Der Bachgeist erschien und schaute sich das Geschehen skeptisch an. Er wandte sich an die Frau: "Ihr wisst was das bedeutet?" Sie keuchte bestürzt und stammelte: "Ich... ich wollte nur den König schützen!" Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf und entgegnete: "Aber vor der falschen Person." Sie schaute verwirrt und fragte: "Falsche Person?" Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht, als ihr die Erkenntnis kam. Nicht der seltsame schwarzgekleidete Mann, war der Übeltäter sondern die hübsche, unschuldig wirkende, Tänzerin. Diese hatte sich während des Tanzes zum König begeben und ihm um die Schultern gestrichen, nicht um ihm zu schmeicheln, sondern um die Schlange dort abzulegen. Der Bachgeist lächelte bitter und sprach: "Vermutlich hat sie die Schlange in ihrem Ärmel aufbewahrt. Warum sie nicht gebissen wurde, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie dem Tier den Mund verbunden. Aber das spielt nun keine Rolle mehr. Wir hatten eine Vereinbarung. Ich werde Euch den Stein nehmen und Euch in Euer altes Leben schicken." Sie schauderte, nickte aber schließlich. Der Geist lächelte erneut und schnippte mit den Fingern.
Die Frau saß einsam an dem kleinen Bach und hing ihren Gedanken nach. Sie schaute in den, mit Sternen behangenen Nachthimmel und summte eine fröhliche Melodie. Sie hatte alle Geschehnisse vergessen und doch hatte sie etwas hinzugewonnen. Der Geist hatte ihr zwar den Stein genommen aber dafür hatte er ihr inneren Frieden geschenkt. Sie öffnete den Mund und sang nun. Es war das Lied der Tänzerin. Sie wunderte sich woher sie dieses Lied kannte aber es machte ihr Spaß es zu singen. Der Bachgeist saß, wieder in seiner normalen Größe, auf einer Seerose und lächelte. Er war ganz in schwarz gekleidet und trug einen Dolch an seiner Hüfte. Er lehnte sich zurück und flüsterte zufrieden: "Endlich kann ich wieder ihrer Stimme lauschen!"

Ende

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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