Klaus-D. Heid

Tag der Wahrheit I. Teil

Es beginnt...

Jeff Norton beobachtete seinen Nachbarn schon eine ganze Weile. Seit Jahren nervte es ihn, wie dieser Schwachkopf mit seiner Frau durch die Gegend spazierte, als wären die beiden ein jungverliebtes Turtelpärchen. Ekelhaft! Besonders Helen Grigor tat so, als hätte sie den Hintern von Claudia Schiffer. Fettarsch. Merkten die beiden denn nicht, dass sie längst zum alten Eisen gehörten? Man muss doch wissen, wann es Zeit wird, in die Kiste zu springen, oder? Miroslav Grigor. Was für ein Name. Alles Polen! Seine Alte auch. Norton fürchtete, jeden Moment kotzen zu müssen, wenn er dem alten Paar weiter zusah, wie sie, Hand in Hand, durch ihren mickrigen Garten spazierten. Wie lange kannte er die Grigors schon? Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig Jahre? Zugegebenermaßen war Helen Grigor mal ganz nett anzusehen. Damals. Norton dachte daran, dass er nichts dagegen gehabt hätte, damals mit Helen eine nette Nummer zu schieben. Versucht hatte er’s ja. Aber die Art und Weise, wie sie ihn abblitzen ließ, würde er ihr nie vergessen! Ein Jeff Norton lässt sich nicht von so einem Polenweib verarschen – und vergisst es einfach.

Norton versteckte sich hinter seiner Gardine. Fehlte noch, dass die ihn sahen! Wahrscheinlich grinsten sie ihn dann blöde an und winkten ihm zu? Es war besser, wenn sie ihn nicht bemerkten. Ohnehin wusste die ganze Nachbarschaft, was von Miroslav und Helen zu halten war. Niemand mochte die Grigors! Niemand. Man ging ihnen aus dem Weg und reduzierte Gespräche auf Smalltalks, wenn sich ein Wortwechsel nicht vollständig vermeiden ließ.

Mist! Sie hatte ihn gesehen! Was mussten diese Idioten auch ständig zu seinem Fenster sehen? Konnten sie nicht ihren beschissen Gartenausflug mit gesenkten Köpfen verrichten? Na Klasse! Jetzt winkt ihm diese Zicke tatsächlich zu. Was denkt die sich denn dabei?

„Hallo! Jeff? Kommen Sie doch mal einen Moment heraus, ja? Miro und ich möchten Ihnen etwas zeigen...!“

Rausgehen? Und wenn die Nachbarn mitbekommen, dass er sich mit den Grigors unterhielt? Vor allem gab es nicht, was ihn interessieren konnte. Nicht, was die Grigors in ihrem verkümmerten Garten gezüchtet hatten, interessierte ihn.

„Jeff? Kommen Sie schon...!“

Diese Stimme! Vor ein paar Jahrzehnten war es ja noch auszuhalten, wenn diese Kuh ihren Mund aufmachte. Aber jetzt klang ihr Gezeter so, als würde man ihr ständig die Kehle zuschnüren.

„Trauen Sie schon, Jeff! Sie wissen doch, dass wir nicht beißen, oder...?“

Was konnten sie schon wollen? Vielleicht wollten sie ihn zu einem Barbecue einladen? Hatte ihnen seine Abfuhr im letzten Sommer immer noch nicht gereicht? Er hatte keine Lust, mit den ganzen Pollacken aus der Gegend quatschen zu müssen, nur um ein halb verkohltes Steak essen zu können.

„Hey, Jeff? Hören Sie uns nicht? Wir sehen Sie doch ganz genau am Fenster stehen! Na kommen Sie schon. Meine Frau muss Ihnen unbedingt etwas erzählen...!“

Jetzt mischt sich dieser Pole auch noch in das Geschrei ein. Reichte es nicht, wenn seine Frau die ganze Nachbarschaft verrückt machte? Es muss wirklich nicht gleich jeder mitbekommen, dass er mit den Grigors sprach. Aber was soll’s. Besser, er brachte es hinter sich, bevor die beiden noch lauter in seine Richtung kreischten.

„Ich komme ja schon. Moment noch. Ziehe mir nur schnell noch die Schuhe an...!“

Vor ein paar Monaten sind sogar Russen in die Nachbarschaft gezogen! Frechheit! Hatte er etwa die Wohnung gemietet, um nach und nach von diesen Kommunisten umzingelt zu werden? Dauert nicht mehr lange – und sie vertrieben ihn noch aus der Wohnung! Man kennt so etwas ja aus dem Fernsehen. Zuerst merkt man es gar nicht. Dann kommen sie zu zweit oder zu dritt, bis sie schließlich zu Tausenden alle Häuser und Wohnungen in Beschlag nehmen. Und die Regierung? Was tun die dagegen? Nichts! Genau. Die tun gar nichts! Wahrscheinlich sind die auch schon von diesem Kommunistenpack infiltriert worden...

„Hallo, Helen. Na, Miro, alles klar? Was gibt’s denn? Ich war gerade in der Küche beschäftigt, als ich euch Beiden gesehen habe. Ihr wisst ja, dass ich sonst immer gleich zum Hallo-Sagen zu Euch komme, oder? Siehst heute wieder ganz bezaubernd aus, Helen. Eines Tages spanne ich Dich doch noch Deinem Mann aus...!“

Mist verfluchter! Warum konnte er nicht einfach sagen, wie sehr er die beiden Polacken zum Teufel wünschte? Dieses ekelhaft nachbarschaftliche Geplänkel kotzte ihn an.

„Schön, dass Du einen Moment Zeit für uns hast, Jeff! Helen und ich wollten Dir nur kurz sagen, dass Du eine faschistische Drecksau bist. Nimm es nicht persönlich, Jeff – aber am liebsten würden wir Dir mit der Heckenschere die Kehle durchschneiden...!“

„Ich verstehe nicht, was...?“

„Nein? Du verstehst nicht? Seit über zwanzig Jahren wollen Helen und ich schon Deine Wohnung kaufen, aber Du Dreckskerl willst und willst nicht krepieren! Kannst du uns vielleicht mal erklären, warum Du immer noch am Leben bist, hä? Du zahlst für Deine Wohnung fast hundert Dollar weniger im Monat, als wir. Das ist ungerecht, Jeff. Sehr, sehr ungerecht! Und außerdem finden wir, dass Du fett geworden bist. Was willst Du? Mir meine Frau ausspannen? Du? Und wovon träumst Du nachts, hä? Du kannst froh sein, dass Helen Dich nicht längst vergiftet hat!“

Jeff Norton wich jeder Tropfen Blut aus den Adern. Was sollte das denn? Waren das die gleichen alten Grigors, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, weil sie ständig über Gicht und Zipperlein klagten? Und jetzt plötzlich schlagen sie solch einen Ton an? Und ihre Gesichter! Sie scheinen regelrecht glücklich und zufrieden zu sein, wenn sie ihn beleidigen konnten.

„Das war’s schon, Jeff! Miro hat schon Recht! Am Liebsten wär’s uns, wenn Du bald krepieren würdest! Übrigens wollte ich Dir schon immer mal sagen, dass Du widerlich aus dem Maul stinkst! Hat Dir das noch nie einer gesagt? Du stinkst, wie ein geschlachtetes Schwein...!“

„Seid Ihr Beiden verrückt geworden? Was soll denn dieser Unsinn? Was habt Ihr gespritzt? LSD? Na, sagt schon! Ihr habt doch nicht mehr alle Tassen im Schrank, Ihr verfluchten Pollacken...!“

Helen Grigor stach zuerst zu. Bevor Jeff Norton registrierte, was überhaupt geschah, hatte die Heckenschere bereits seinen Hals durchbohrt. Während das Blut aus seiner Halsschlagader spritzte, schlug Miroslav Grigor seinem Nachbarn den schweren Spaten über den Schädel. Über und über mit Blut beschmiert, riss er seiner Frau nun die Heckenschere aus der Hand und stach wie besessen auf den leblosen Körper Nortons ein.

„Mach ihn fertig, Miro...!“ jubelte die Frau, die nun ihrerseits den Spaten ergriffen hatte, um wie eine Furie auf Nortons Beinen einzuschlagen. „Stich ihn ab, Miro...! zeig mir, wie Du ihn abstichst...!“

Ganz langsam beendete Miroslav Grigor sein Werk. Er atmete schwer, als er sich mit einem seltsam irren Blick seiner Frau zuwandte.

„Miststück...!“ sagte er ganz leise zu ihr. „Verkommenes Miststück...!“

Im gleichen Moment, als Grigor seiner Frau die Heckenschere in die Brust rammen wollte, traf ihn das schwere Eisen ihres Spatens. Immer wieder schlug Helen auf den Schädel ihres Mannes ein, bis nichts mehr daran erinnerte, das es einmal ein Kopf war. Sie nahm anschließend Miroslav Grigor die Heckenschere aus den toten Fingern – und trieb sie bis zum Anschlag in die eigene Brust. Sie zog die Heckenschere heraus und stach erneut zu. Und noch einmal. Noch einmal – bis sie tot neben den Leichen von ihren Mann und Jeff Norton zusammenbrach.

Es war der 12. Juni 1992. Überall in der Siedlung spielten sich ähnliche Szenen ab. Nachbarn und Familienmitglieder fielen wie die Tiere übereinander her, erstachen, erschlugen und erschossen sich. An diesem Tag im Juni starben mehr als achthundert Menschen, die sich – ohne erkennbaren Grund – gegenseitig massakrierten. Nur drei Stunden, nachdem Jeff Norton zu seinen Nachbarn in den Garten gegangen war, gab es kein Leben mehr in der Siedlung.

Nur das Blut der Toten floss langsam die Rinnsteine hinunter und vereinigte sich dort zu einem Anfang, dessen Ende noch lange nicht in Sicht war...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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