Günter Schrön

Charlie der Sammler

Die Sache mit Charlie liegt schon einige Jahre zurück und wenn ich es mir recht überlege, dann müßte er jetzt schon so um die siebzig Jahre alt sein. Ich weiß nicht einmal, ob Charlie überhaupt noch lebt, als ich ihn das letzte Mal sah, wurde er in Old Baily gerade zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt, denn nicht nur die Richter hatte etwas gegen seine Sammelleidenschaft und hielten es daher für angebracht, Charlie für immer aus dem Verkehr zu ziehen.

Aber ich merke schon, daß ich Gefahr laufe, den Faden zu verlieren, deshalb fange ich lieber mit dieser verrückten Story von vorne an, wie es gutem journalistischen Brauch entspricht. Es war die Zeit, in der ich mir mein Einkommen in den Semesterferien auf Baustellen aufbesserte. Die Arbeit dort war verdammt hart, aber die Bezahlung war gut und das allein gab den Ausschlag. „Wenn du mal ein richtiger Zeitungsschreiber geworden bist", sagt der Polier immer zu mir, „dann kannst du ja auch mal etwas über die Arbeit am Bau schreiben. Die meisten Zeitungsschreiber schreiben doch sowieso nur über Dinge, von denen sie in der Praxis keine Ahnung haben!" Soweit die Meinung meines Poliers damals. Er konnte ja noch nicht wissen, daß wir beide demnächst in der Praxis etwas erleben sollten, worüber man getrost schreiben konnte. Es begann in einer Mittagpause, beinahe eine Woche vor dem Ende der Semesterferien. „Die Sache mit Charlie damals", erzählte der Polier in der Baubude, rückte die Bierflasche beiseite und begann, sich gekonnt eine Zigarette zu drehen, „das war überhaupt das dickste Ding, was mir jemals untergekommen ist!"

Es war ihm einfach zur Gewohnheit geworden, in der Mittagpause aus seinem Berufsleben zu erzählen. Er hatte schon viel auf allen möglichen Baustellen erlebt und er konnte gut erzählen. Nur gut schreiben konnte er nicht.
„Vielleicht schreibst du einmal eine Story darüber", sagte er daher stets am Ende einer solchen Geschichte zu mir."

So ein Betonfahrer kann einem sehr viel Ärger machen", erzählte er weiter, „wenn der den Beton einfach auf einen Haufen schüttet, dann muß der Polier alle verfügbaren Leute einsetzen, damit sie den Beton gerade ziehen, ehe er beginnt auszuhärten, und das ist eine verdammt harte Arbeit!" Er nahm noch einen Zug aus der Bierflasche.
„Charlie war da immer sehr geschickt", erzählte er weiter, „er hatte nur eine komischen Angewohnheit, oft, wenn er den Beton goß, warf er vorher eine große Mülltüte in die Baugrube. Da Charlie aber ein so guter Mann war, sahen wir immer darüber hinweg, wenn er seinen Müll unter dem Fundament eines Hauses einbetonierte."

Auf seiner Uhr sah er, daß die Pause wohl gerade noch reichte, die Story von Charlie fertig zu erzählen. „Was soll man machen?" fuhr er fort, „einen kleinen Tick hat doch schließlich jeder!"

Noch einmal griff er zur Bierflasche.
„Und dann kam eines Tages die Polizei", erzählte er weiter, „die wollte wissen, wo Charlie in den ver- gangenen Monaten und Jahren seinen Müll vergraben hatte. In dieser Zeit waren nämlich in der Stadt acht Frauen spurlos verschwunden. Jemand hat der Polizei einen Tip gegeben", fuhr er nach einem neuen Blick auf seine Uhr fort, „und die hatte bei einer Durchsuchung in Charlies kleinem Häuschen acht gut präparierte Skalps gefunden und mehr war von den Damen auch nicht übrig geblieben." Er stellte fest, daß seine Bierflasche nun leer war und stellte sie mit einem Ausdruck des Bedauerns im Gesicht, wieder ab.

„Mann konnte ja nicht alle Häuser wieder abreißen, für die Charlie damals den Beton herangefahren hatte", sagte er in der Erinnerung lächelnd, „und wir wußten natürlich auch nicht mehr, bei welchen Bauten er seinen Müll einbetoniert hatte. Daher erfuhr die Presse auch nichts davon und die Gerichts- verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. So wohnen heute hier in der Stadt eine Menge Leute mit einer Leiche im Keller, ohne es zu wissen. Charlie bekam jedenfalls fünfzehn Jahre von denen er zwölf Jahre absitzen mußte."

Der Polier drückte seine Zigarette aus, denn man konnte hören, wie draußen ein schwerer Lastwagen vorfuhr.
„Leute, wir müssen wieder an die Arbeit", sagte er, „aber vielleicht schreibt unser junge Mann hier mal eine Story über Charlie, wenn er ein richtiger Journalist geworden ist." Als wir an die Baugrube kamen, sah ich den Fahrer des Betonwagens. Er war so ein gemütlicher Typ, dem man ansah, daß er gerne sein Bier trank und mit seinen Kumpels in der Kneipe saß, so, wie viele Lastwagenfahrer aussehen. Er zerrte gerade eine große Mülltüte aus dem Fahrerhaus und warf sie im hohen Bogen in die Baugrube. Der Mann mußte Bärenkräfte haben.
„Der Charlie", lachte der Polier, „er kann es doch einfach nicht lassen." Als er mein erschrockenes Gesicht sah, sagte er: „Keine Sorge, in den Tüten ist wirklich nur Müll, wie haben das über viele Jahre hinweg kontrolliert."
Offensichtlich hatte er nicht gesehen, was ich zu sehen glaubte, als der Müllsack durch das helle Licht der Mittagssonne flog. Ich wollte mich nicht lächerlich machen, vielleicht hatte mir auch nur meine Fantasie einen üblen Streich gespielt.
Gekonnt goß Charlie den Beton in die Baugrube und es war für uns wirklich keine schwere Arbeit, den schnell härtenden Beton glatt zu ziehen. Allerdings muß ich gestehen, daß ich mich von der Stelle, wo der Müllsack liegen mußte, ich hatte sie mir gut gemerkt, soweit wie möglich entfernt hielt. Noch nach Feierabend ging mir die Geschichte des Poliers nicht aus dem Kopf und im Geiste sah ich immer wieder, wie Charlie den Müllsack in die Baugrube warf, wo er hart aufschlug, und an einer Seite etwas aufplatzte. Was ich an dieser Stelle gesehen hatte, sah nicht unbedingt nach Müll aus. Eigentlich hätte ich ja sofort zur Polizei gehen sollen, aber ich war mir meiner Sache nicht sicher und außerdem hatte ich eine Verabredung mit einem Mädchen, die ich auch nicht schießen lassen wollte. Ann war eine Aushilfsverkäuferin bei Harrods, sehr hübsch und mit unendlich langen Beinen und außerdem hatte sie an diesem Abend eine sturmfreie Bude, da ihre Eltern zu irgendeiner Vereinsfeier eingeladen waren. So etwas kam nicht oft vor und mußte genutzt werden. Natürlich wollte ich Ann den ganzen Abend von Charlie erzählen und was ich da am Nachmittag gesehen zu haben glaubte, aber wir waren damals beide noch sehr jung und die Gelegenheit war günstig.

„Als sie mich dann weit nach Mitternacht in ihrem Bett weckte, weil ihre Eltern jeden Augenblick nach Hause kommen konnten, zog ich mich schnell an und macht, daß ich aus dem Haus kam. Jahre später, wir waren inzwischen, wie das so geht, auseinandergekommen, habe ich sie noch einmal wieder getroffen. Aber da war sie schon einige Jahr mit einem Offizier vor der Rhein-Armee glücklich verheiratet und hatte schon zwei Kinder.

Ich merke es schon, ich verliere schon wieder den Faden. Eigentlich wollte ich ja auch nur sagen, daß ich Ann die Geschichte von Charlie dem Sammler nie erzählt habe. In jener Nacht, als ich nach Hause lief, es war kein Taxi mehr zu bekommen und es hatte auch noch angefangen, leicht zu regnen, da stehe ich auf einmal vor einer Police-Station. Ich bleibe also da stehen und weiß nicht, was ich nun machen soll, bis ich endlich den Mut fasse und dort hinein gehe.

Ein schon ziemlich alter Sergeant hat sich geduldig alles angehört, was ich zu erzählen hatte und bewahrte auch die Ruhe, wenn ich mich mehr als einmal wiederholte. Am Ende glaubte ich selber nicht mehr daran, daß er mir diese Story für bare Münze abkaufen würde. Doch da griff er schon zum Telefon, rief ein paar Leute an und wurde auf einmal sehr aufgeregt. Er brachte mich sogar persönlich zu einem Streifenwagen, der mich ins Präsidium fuhr. „Nun erzählen Sie mir die Story noch einmal in aller Ruhe", sagt ein freundlicher Chiefinspektor, der dort anscheinend schon auf mich gewartet hatte und ich erzählte noch einmal, was ich gehört und gesehen hatte.

„Ich besorge mir eine richterliche Verfügung", versprach der Chiefinspektor und schickte mich erst einmal nach Hause. „Halten Sie sich bitte zur Verfügung", sagte er noch zum Abschied, „es kann durchaus sein, daß wir Sie diese Nacht noch brauchen." Sie brauchten mich noch, denn bei der Hausdurchsuchung fanden sie auf dem Dachboden von Charlies kleinem Häuschen einen frischen Skalp. „Wir haben schon das nötige Werkzeug mitgebracht" erklärte mit der Polier, der auch schon seine Leute eingeteilt hatte.

Jemand drückte mir ein Stück Kreide in die Hand und ich zeichnete auf der Grundplatte die Stelle an, wo Charlies Müllsack liegen mußte. „Also, wenn du recht hast, mein Junge", sagte der Polier, „dann solltest du darüber eine Story schreiben, aber wenn du dich geirrt hast..." Was er noch sagen wollte, ging im lauten Geratter der Preßlufthämmer unter und schon nach einer halben Stunde war klar, daß ich mich nicht geirrt hatte. „Diese verdammte Charlie", sagte der Polier leise, als die Polizei den Müllsack abtransportiert hatte, „kann der nicht mal was anderes sammeln, Briefmarken zum Beispiel?"

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