Ingrid Grote

Der Himmel über Rom, Teil 22 - NEUES LEBEN

Es geschah zu den Saturnalien am finstersten Tag des Jahres. Draußen wurde gefeiert, aus den Tavernen ertönte Trommel- und Flötenklang, Betrunkene grölten, Frauen kreischten, andere lachten irre vor sich hin.
Die Wehen fingen mit einem leisen Ziehen an und steigerten sich dann in einem permanenten Schmerz hinein.
Vanadis hatte Angst. Sie überlegte, ob sie eine Hebamme kommenlassen sollte, aber sie hatte die paar Sesterzen doch so nötig, um das Kind aufzuziehen.
Was für ein Dilemma, sie wand sich in Krämpfen, es tat so weh! Aber Ladonia, die ältere römische Bürgerin stand ihr bei. Als erstes ging sie weg, um heißes Wasser zu ordern. Das war wohl wichtig. Und sie besorgte Leinentücher, zwar keine neuen, aber penibel saubere. Das alles bekam Vanadis mit, als der Schmerz eine kurze Pause machte.
Dann spürte sie, dass die Ladonia ihr die Hand hielt und sie tröstete, dennoch war er nicht zu ertragen, dieser Schmerz, der immer wiederkam, der immer größer wurde. Sie schrie auf in einem Augenblick der Unbeherrschtheit, Dann schrie sie noch lauter.
Stunden später, nach furchtbaren Qualen, nein, so hatte sie sich das nicht vorgestellt, geschah es dann endlich: Es wurde geboren, ihr Kind.
Zum Glück wusste die Ladonia, was zu tun war, denn sie selber wäre dazu nicht fähig gewesen. Bei ihrer Mutter hatte sie vielleicht einmal gesehen, wie diese ein Kind zur Welt brachte. Aber sie hatte es wohl vergessen. Fast musste sie lächeln. Das hatte die Mutter ihr nicht beigebracht. Sie wollte es sich wohl für später aufheben.
„Lebt es?“, fragte sie kraftlos und versuchte sich aufzurichten.
„Bleibe liegen und ruhe dich aus“, sagte die Ladonia. „Es lebt, und es ist ein gesunder Junge. Du willst ihn doch bestimmt halten.“
„Ja!“, Vanadis atmete tief aus. In diesem Augenblick war sie glücklich. Sie vergaß ihre Ängste und streckte die Arme aus, um ihn an sich zu nehmen. Sie betrachtete ihn. Er war so klein, so hilflos. So schön und bezaubernd ... Er ist wunderbar, hörte sie die Stimme ihrer Mutter sagen. Welchen Namen wirst du ihm geben? Ich weiß nicht, Mutter. Nenne ihn Marcus, das ist ein schöner Name.
Es stimmte, ihr Sohn war wirklich wunderschön. Sie konnte ihn gar nicht mehr loslassen und empfand schon jetzt eine Liebe, die sie noch nicht kennengelernt hatte. Keine unschuldige und verklärende Liebe wie zu dem Thumelicus. Keine leidenschaftliche Liebe wie zu dem Marcus, dem Vater ihres Kindes. Falsch, das war keine Liebe, nur vorübergehender Irrsinn, korrigierte sie sich und das Resultat daraus war es allemal wert. Nein, es war eine Liebe, die darüber hinausging.
Sie küsste den Kleinen auf seine runde Stirn und wiegte ihn in ihren Armen. Ihr Leben hatte einen Sinn bekommen. Für ihren Sohn würde sie alles tun.
„Hast du schon einen Namen für ihn?“, fragte die Ladonia.
„Marcus soll er heißen.“ Vanadis wusste nicht, warum sie dies gesagt hatte – es lag bestimmt an ihrer Mutter. Oder es lag daran, dass die Römer kaum Vornamen hatten und Marcus noch der schönste davon war.

-*-*-*-*-*-*-

Nicht viel später sollte sie feststellen, dass es nicht so einfach war, den kleinen Marcus zu betreuen. Vanadis wusste nicht, was sie als Windeln benutzen sollte, es gab kaum etwas, um die Ausscheidungen des Kleinen aufzufangen. Leinen war teuer und es saugte nichts auf. Wickeln wollte sie ihn nicht, das taten die höheren Schichten Roms, und wahrscheinlich quoll alles irgendwann aus dem Gewickelten hervor. Das Wickeln diente angeblich zur Festigung der Glieder des Kleinkinds, aber Vanadis hegte den Verdacht, dass man damit nur die Kinder ruhigstellen wollte. Und das würde sie ihrem Sohn nicht antun!
Sie fragte den Schemuel danach. Und oh Fortuna, er kannte sich mit dem Kinderaufziehen aus, hatte schon drei  gesundgeratene Nachkömmlinge - und das ohne Wickeln.
„Als erstes brauchst du Wolle. Dann ein paar alte Leinenreste. Du musst sie in Streifen reißen, um damit die Wollreste am Kind, nun denn ... festzumachen.“ Schemuel kicherte in sich hinein und fuhr fort: „Es gibt jede Menge Wollreste, die zum Spinnen nicht gut genug sind – oder ausrangierte Wollkleidung. Und das hier ist die beste Art, sie zu verwenden.“
„Aber kratzt das nicht fürchterlich?“, fragte Vanadis skeptisch.
„Natürlich Vanadis, und deswegen brauchen wir noch die Seide.“
Vanadis erinnerte sich an die Gewänder der Sidonia. Sie bestanden fast alle aus Seide, gefertigt auf der Insel Kos, dort gesponnen von Schmetterlingsraupen. Und diese Seide war zart und weich. Genau das Richtige, um den Popo eines Kleinkinds zu schonen.
„Das ist gut, Schemuel, ein Stück Seide auf die Haut, darüber dann die Wolle – und alles mit Stoffstreifen festgebunden! Und dann?“ Sie wartete gespannt auf weitere Informationen zu diesem Thema.
„Die gebrauchten Wollwindeln schmeißt du in den Kanal, du kennst doch die runden Löcher in den größeren Straßen, das Wasser darunter wird den Dreck fortspülen bis ins Meer. Und die Fische werden sich darüber freuen ...“
„Nicht nur die Fische werden sich freuen!“, lachte Vanadis. „Das ist wunderbar, Schemuel! Und jetzt sage mir nur noch, wo ich diese Wollreste bekommen kann. Und vor allem die Seide.“
Es stellte sich heraus, dass der Schemuel selber damit handelte, er handelte praktisch mit allem, was gebraucht wurde, nicht nur mit altem Leinen, mit jeder Art von Wollresten, und vor allem mit Seide, die von den abgetragenen Gewändern der Reichen stammte. Deren Sklaven machten ein gutes Geschäft damit - und der Schemuel auch.

-*-*-*-*-*-*-

Mittlerweile herrschte feuchtkalt der Winter. Manchmal schaute sie durch die Luke in den Sternenhimmel. Ein wunderbarer Anblick, er ließ sie den Gestank des Kohlebeckens vergessen, der in ihrem winzigen Wohnraum stand und den sie tagsüber für ein paar Stunden mit Holz und manchmal sogar mit Holzkohle fütterte. Er ließ sie auch die Angst vergessen, dass ein anderer Mieter die Kontrolle über sein Kohlebecken verlor – und dann der ganze Häuserblock in Flammen aufging. Das alles war schon oft passiert, so hatte der Schemuel es ihr erzählt.
Die Leute auf den Gassen keuchten vor sich hin, kein Wunder, so viele vor sich hinglühende Kohlebecken ... Dazu kamen noch die Dünste aus den Meilern, in denen die Holzkohle hergestellt wurde. Bei Ostwind vernebelten sie Rom geradezu.
Sie musste ihrem Sohn ermöglichen, aus dieser furchtbaren Stadt fortzuziehen. Nur wie?
Dann schlich sich ein anderer Gedanke in ihren Kopf. Ob die Colonia sie finden würde? Sie hatte ihr ja eine falsche Adresse gegeben. Das Geschäft des kaiserlichen Bettenbauers befand sich ein paar Straßenzüge entfernt, Vanadis atmete auf, nein, die Kleine würde sie nicht finden. Aber die Lüge tat ihr leid, denn sie liebte dieses Kind wie eine Tochter.
Als nach einem verschwenderisch kurzen Frühling der Sommer über Rom hereinbrach, hatte die Colonia sie immer noch nicht gefunden. Vanadis verspürte seltsame Gefühle daraufhin: Einerseits bedauerte sie es, andererseits wäre es fatal, wenn die Kleine sie mit einem Säugling antreffen würde. Dutzi, dutzi, ist der süß!!! Und wer ist der Vater?
Sie verdrängte den Gedanken an die Colonia und widmete sich ihrem Sohn. Er war unglaublich, so schön, so kräftig, so klug. Die Windeln taten ihm gut. Ab und zu hatte er natürlich Blähungen wie andere Säuglinge auch, aber Vanadis gab ihm daraufhin ein Kraut namens Schafgarbe. Sie hatte es im Sommer entdeckt und sich dabei an ihre Mutter erinnert. Diese hatte das Kraut immer zerkleinert, getrocknet und dann mit heißem Wasser übergossen. Und wirklich, es half!
Das Geschäft lief ausgezeichnet, alle paar Wochen verdiente sie drei Sesterzen mit der Fälschung einer Freigelassenen-Rolle, manchmal machte sie es auch billiger. Sie konnte davon viel zurücklegen und sich abwechslungsreich ernähren: Früchte, Honigwaben, Wein, Brot, Oliven, Käse, und ab und zu sogar Fleisch. Aber als noch gewinnbringender erwies sich die Met-Produktion. Mit Bestellungen kamen sie kaum nach. Und ihren Partner würde sie bald ganz auzahlen können. Welch Erleichterung.
Eigentlich hatte sie ein gutes Leben. Trotzdem rumorte etwas in ihr, eine gewisse Leere, eine ungewisse Hoffnung. Diese eine Nacht kam ihr dauernd in den Sinn, ihre Lust, die Schwäche ihrer Glieder, als sie sich ihm hingab ... Verdammt verdammt, manchmal träumte sie sogar davon. Sie hasste ihn doch, verabscheute ihn, er war Römer! Er war mit einer grauenvollen Frau verheiratet, die ihn betrogen und den Kaiser verraten hatte. Und dennoch hatte er sie retten wollen - und das zwei Mal! Schluss, aus! Sie schüttelte den Kopf.
Es ging ihr gut und ihrem Sohn ging es auch gut.

-*-*-*-*-*-*-*-

Bis jetzt hatte er immer Glück gehabt: Von den zahlreichen Verletzungen, die er sich im Kampf zugezogen hatte, konnte er sich immer erholen. Alle Wunden heilten und zurück blieben nur unbedeutende Narben. Aber diesmal war es anders. Es ging um die Piraten. Zuerst hatten sie ihre Raubzüge auf die Ägäis beschränkt, aber nun -  vorwitziger geworden, traf man auch im Tyrrhenischen Meer auf sie. Wegen des ungewohnt heißen Sommers war das Getreide knapp und teuer. Also lauerten sie bevorzugt in der Nähe von Portus, dem neuen Hafen Roms, um dort Schiffe auszurauben, die Weizenlieferungen von Ägypten nach Rom brachten.
Marcus hatte Zeit genug, um darüber zu grübeln, denn während seiner Fieberschübe gab es Pausen, die ihm das ermöglichten. Er wusste nicht, wo er war, er wusste nur, dass er noch lebte. Und er wollte nach Hause. Nach Hause ... Seltsam, früher hatte er Rom nie als sein Zuhause bezeichnet, daheim fühlte er sich nur in Capua, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Und eigentlich wollte er auch nie dem Militärdienst beitreten, er wollte nur in Ruhe sein Land bestellen, denn die Colonii waren im Grunde Bauern. Doch dann war alles aus dem Ruder gelaufen, ein Schicksalsschlag traf seine Familie, und er musste sich diesem unterordnen. Natürlich geschah es freiwillig, er liebte seinen Vater und würde alles für ihn tun.
Er hatte auch sein Bestes versucht, um seine Frau zufriedenzustellen, um sie zu lieben, wie es einer Ehefrau zustand. Nein, das hatte er nicht, er hatte ihr alles versagt, und sie hasste ihn dafür. Und sie rächte sich mit ihren letzten Worten an ihm.  
Aber sie hatte zuviel gesagt, war sich zu sicher gewesen in ihrer Rache an ihm.
Sidonia richtete sich selber mit dem Dolch, den der Kaiser ihr gewährte. Er träumte oft davon. Sah sie in ihrer Zelle, sah, wie sie ihn anstarrte und dann hämisch sein Angebot ablehnte und ihm Drohungen zuflüsterte. Hörte ihre verletzenden letzten Worte. Nein, sie hatten ihn nicht verletzt, sie waren ihm egal.
Er war gegangen, um seine einzige Liebe zu retten. Und er hatte sie gerettet.
Er kam zurück aus dem Tempel des Bacchus, fand seine Tochter vor dem Palast, und sie weinte. „Ist sie tot“?“, fragte er sie. Sie sagte tonlos: „Ich weiß es nicht, sie wollte mich nicht sehen. Wollte mich nie sehen ...“ – und  fing wieder an zu weinen. Seine Wut steigerte sich ins Unermessliche, nie hätte er gedacht, jemanden so hassen zu können. Und er ging ein zweites Mal in den Palast hinein. Aber sie war schon tot, und das machte ihn noch wütender.
Gedankensplitter stürmten auf ihn ein. Die Träume wurden wirr und verstörend. Was ist aus mir geworden, was hat sie aus mir gemacht, dachte er, und immer tauchte das Gesicht einer anderen Frau auf. Er konnte es nicht verdrängen. Und auch kein einziges Wort, das er zu ihr gesagt hatte:
„Es ist nett von dir, dass du mich besuchst. Ich hatte ja lange schon die Vermutung, dass du etwas für mich empfindest ...“ Warum hatte er so gesprochen? War es das schlechte Gewissen, er hatte seine Frau gerade tot gesehen – und es nicht bedauert. „Du bist schön, so schön“, er zog sie sachte an sich. „Und ich möchte einmal im Leben glücklich sein ...“ Das wollte er, das hatte er immer gewollt.
Ja, und er hegte er die irrsinnige Hoffnung, dass diese Frau irgendwann zurückkommen würde. Vermutlich nur ein Wunschtraum, sie liebte ihn nicht, sondern verabscheute ihn, so wie seine Frau ihn verabscheut hatte. Niemand wusste, wohin sie gegangen war und vor allem nicht, warum sie gegangen war. Es musste mittlerweile über sechzehn Monate her sein und er hätte liebend gerne nach ihr gesucht, aber immer wurde er abkommandiert, entweder in irgendwelche Ecken des Imperiums, wo es Aufstände gab, aber hauptsächlich zur Piratenbekämpfung. Richtige Kriege gab es kaum noch.
Er stöhnte auf ... sie hatten das Piratenboot geentert, aber dann kam diesem ein zweites Schiff zu Hilfe. Es konnte sich im Morgennebel unbemerkt nähern.
Obwohl er als Stabsoffizier meistens nicht in den direkten Kampf verwickelt war, hatte er sich in diesen eingemischt. Die Piraten kämpften klug, ihre Lanzen verhinderten, dass man nahe an sie herankam, während sie selber eine große Reichweite damit hatten. Drei Gegner fielen über ihn her, zwei von ihnen tötete er, aber der letzte verpasste ihm eine Wunde am Bein.
Er träumte diesen Augenblick immer wieder, erlebte die Hilflosigkeit aufs neue, als ihm das Bein aufgeschlitzt wurde, die Zeit verlängerte sich, und er konnte jede Einzelheit erkennen, die blutige Lanze,  das wütende Gesicht des Piraten, hörte dessen triumphierenden Aufschrei, er kam ihm vor wie ein endlos langes dunkelgefärbtes Lied.
Zuerst verspürte er keinen Schmerz, nur Wut gegen den Angreifer, er stieß ihm das Schwert in den Körper und Blut strömte heraus – genauso wie aus seinem Bein. Um ihn herum war alles rot. Blut, soviel Blut, sein eigenes und das der anderen. Er hieb weiter, wie ein Tobsüchtiger schlug er auf alles ein, was nach Piraten aussah. Auf die Lanzen achtete er nicht.
Er schaute sich um, sie hatten die Schlacht gewonnen, die Feinde lagen tot auf dem Schiffsdeck verstreut. Dann holte der Schmerz ihn ein und er stürzte zu Boden.
Seitdem vegetierte er nur noch vor sich hin. Er war nicht mehr auf diesem Schiff, sondern woanders. Aber wo? Es war ihm egal. Sein Bein pochte und schmerzte, sein ganzer Körper war heiß und kalt zugleich, er schwitzte und fror gleichzeitig, er fühlte sich unendlich schwach und hilflos, hatte üble Träume, träumte wieder von der Sidonia und wie sie gestorben war. Durch eigene Hand, durch den Dolch. Träumte von der Nacht, in der er glücklich war.
Er träumte von seinem Vater, der vor kurzem gestorben war, und warum er selber nicht tot war.
Der Schmerz in seinem Oberschenkel war kaum auszuhalten und er spürte, wie er innerlich verglühte. Und mit dem Verglühen kamen seine Träume zurück. Und ihr Gesicht. Ich sterbe, dachte er, bevor er sein Bewusstsein verlor. War es das? Wo ist sie? Hoffentlich geht es ihr gut.

                                                        -*-*-*-*-*-*-

Der Sommer war hereingebrochen, mit all seiner Hitze und Trockenheit. Schon nach wenigen Wochen war es in den Bädern nicht mehr auszuhalten, Schade darum, es war zwar teuer, sich ein paar Stunden in dem separaten Bereich für Frauen und Kinder zu reinigen und sich zu entspannen, doch nun war das Wasser warm und trübe. Und es war sicher schädlich, davon aus Versehen etwas zu trinken.
Natürlich wurden die reichen Bürger immer noch gut mit frischem Wasser versorgt, und danach erst wurden die allgemeinen Brunnen gefüllt. Immerhin, dachte Vanadis.
Dennoch war es viel zu heiß, manchmal brachen Krankheiten unter den Bewohnern der ärmeren Stadtteile aus  und manchmal starben sie auch daran.
Vanadis hatte bis jetzt Glück gehabt. Sie verdünnte das Brunnenwasser mit Wein und Essig, weil das die Gefahr des Erkrankens verminderte. Essig schien ein wahres Wundermittel zu sein.
Wenn sie keinen Auftrag hatte, dann nahm sie ihren Sohn, band ihn in ein Tuch und hievte sich ihn auf den Rücken wie eine Sklavenlast, aber diese Last war viel leichter zu tragen.
Am frühen Tag lief sie mit dem kleinen Marcus die Treppen hinunter, schaute kurz beim Schemuel vorbei, plauderte mit ihm, erhielt von ihm etwas Brot mit Käse, ein paar Früchte, einen Schlauch mit Wasser und Wein, und danach trieb es sie unaufhaltsam aus der Subura hinaus.
Um sie herum summten die grünen Schmeißfliegen, sie fingen schon an, ihre Eier auf  alles zu legen, was in den Gassen der Subura verweste. Dem Himmel sei Dank gab es in ihrem Haus einen Abfluss, in den man die Nachttöpfe entleeren konnte und auch kleinere Abfälle. Das war nicht in allen Mietshäusern der Fall. Dort wurde alles auf die Straße gekippt.
Sie war alleine, kein anderer Bewohner Roms wollte ins Freie, alle trieben sich wohl im Theater herum bei den Spielen. Diese fanden unregelmäßig statt, es gab zwar viele Feiertage in Rom, an die einhundertfünfzig, aber manchmal entschloss sich der Kaiser, spontan einzuladen zu den Spielen. Die ärmeren Bürger waren es zufrieden: Getreide für ihren Brei bekamen sie als Zuteilung und die Spiele dazu. Aber Vanadis wollte nicht in das erhitzte Stadion mit den brüllenden Zuschauern, wo Tiere gehetzt wurden und Menschen sich gegenseitig umbrachten. Sie wollte hinaus aus der Stadt.
Erst ging sie in Richtung Sonne, dann mehr nach links, bis sie schließlich das Marsfeld erreichte. Ein riesiger toter Ort war das, vollkommen unbewohnt diente er nur dazu, um Großprojekte für die jeweiligen Kaiser zu erschaffen. Oder Tempel für diverse Götter, Siegeszeichen, Opferstätten  ... Sie musste an die Nacht des Bacchus denken und an ihre Hilflosigkeit. Wo war dieser Tempel? Sie wusste gar nicht, wie er aussah, kannte ja nur die grässliche unterirdische Höhle. Sie schüttelte sich leicht und verdrängte den Gedanken an diese Nacht.
Also hielt sie sich nicht lange mit dem Tempelkram auf, denn sie hatte es eilig, wollte zu ihrem Ziel. Bis sie es schließlich erreichte: Den Tiber, den Fluss Roms.
Die Stadt erweiterte sich immer mehr, denn die sieben legendären Hügel Roms waren so dicht bevölkert, dass Freiräume kaum noch existierten. Doch Vanadis kannte sich aus, sie schlenderte mit ihrem Sohn am Flussufer entlang, dort wo es noch keine großen Villen gab und man stattdessen wundervolle bunte Blumen sah und riesige Büsche mit Liebstöckel fand. Damit konnte man Speisen würzen, wenn man kein teures Salz hatte.
In diesem Abschnitt war der Tiber noch unschuldig, später würde sein Wasser rot gefärbt sein vom Blut der Schlachthöfe. Aber daran wollte Vanadis nicht denken. Sie wollte nur ein paar Kräuter sammeln, die sie von ihrer Mutter her kannte und auch von ihrer Nachbarin zur Rechten. Die hatte sie auf eine unscheinbare Pflanze aufmerksam gemacht, es handelte sich um ein winziges Blümchen mit weißen Blütenblättern, die sich um einen gelben Kern herum gruppierten, die Pflanze liebte wohl die Gemeinsamkeit und trat immer büschelweise auf. Der Tee aus den kleinen Blüten sollte heilkräftig sein, egal ob man ihn trank oder ob er äußerlich auf Wunden aufgetragen wurde. Und das Kraut wuchs dem Hörensagen nach fast das ganze Jahr über.
Und sie fand es. Es war wirklich klein, aber so schön, so lebendig angeordnet in einem Familienverbund. Vorsichtig pflückte sie ein paar Blüten ab, um sie dann in einem Beutel zu verstauen. Vielleicht konnte sie die irgendwann brauchen.
Gegen Mittag wurde es immer heißer. Vanadis entging der Hitze und hielt sich im Schatten der hohen Bäume auf, die am Ufer des Tibers wuchsen. Dort wehte ein leichter Wind, der sie kühlend umschmeichelte.
Verträumt schaute sie auf das sprudelnde Wasser des Flusses. Sie spielte mit dem kleinen Marcus und neckte ihn. In einer Bucht kühlte sie ihre Schläfen und ging mit nackten Füßen in das flache Wasser. Der kleine Marcus bekam manchmal ein paar Spritzer mit, aber das schien ihm zu gefallen, denn er kreischte und lachte.
Am Nachmittag aß sie das Brot, später den Käse, noch viel später die Früchte, trank ein wenig von dem mit Wasser verdünnten Wein – und wünschte sich, für immer hierbleiben zu können. Jenseits der Stadt, jenseits des Sklaventums. Bis sie dann doch zurückging.
So liefen ihre Ausflüge normalerweise ab. Doch an diesem Tag war es anders. Etwas überschattete ihr Glück, es war, als ob der Himmel Risse bekommen hätte, als ob die Sonne nicht mehr richtig scheinen würde. Ein unbekanntes Gefühl überkam sie, etwas zog sie nach Rom zurück, in ihre aufgeheizte Dachgeschosswohnung in der Subura. Es war seltsam, eigentlich wollte sie doch hierbleiben, trotzdem fing sie an, ihre Sachen einzusammeln, den Weinschlauch, den Rest der Früchte, sie hievte sich ihren Sohn auf den Rücken – er war schon schwer, lange würde sie ihn nicht mehr tragen können – und machte sich eilig auf den Heimweg.
Als sie die endlos hohe Treppe zu ihrer Wohnung emporgestiegen war, erfasste sie ein gewaltiger Schrecken: Ihre Tür, ein notdürftiger Bretterverschlag, stand halb offen und Vanadis blieb angsterfüllt davor stehen. Oh Göttin, lass es keine Einbrecher sein, flüsterte sie vor sich hin. Sie hatte die Tür nicht verriegelt, wozu auch? Es gab kaum etwas zu stehlen dort, ihre Sachen waren nichts wert, und ihre paar Sesterzen hatte sie dem Schemuel zur Verwahrung gegeben. Bei ihm waren sie sicherer.
Trotzdem konnte es gefährlich sein. Behutsam setzte sie den Kleinen ab und tastete nach dem schmalen Dolch, den sie immer unter ihrer Tunica versteckt trug.
„Wer ist da?“, fragte sie mit fester Stimme. „Gib dich zu erkennen, oder ich komme und haue dir eine Axt über den Schädel!“
Mutig gesagt. In Wirklichkeit hatte sie furchtbare Angst - und auch keine Axt zur Hand. Aber der Dolch würde es auch tun!


Verzeichnis:

Der aktuelle Teil ist rot markiert.
Gewünschten Link markieren, mit rechter Maustaste in die Markierung klicken und im Menü auswählen: Link öffnen.

https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52688  = Teil 01 - SATURN
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52709  = Teil 02 - IM SPIEGEL
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52733  = Teil 03 - HOHER BESUCH
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52753  = Teil 04 - DIE FREIGELASSENE

https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52766  = Teil 05 - VIA FLAMINIA
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52775  = Teil 06 - ABTRÜNNIGE
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52782  = Teil 07 - FLOTTENSTÜTZPUNKT NR.2   
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52799  = Teil 08 - RAVENNA
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52811  = Teil 09 - MIT JUPITERS HILFE
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52834  = Teil 10 - GERETTET?

https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52871  = Teil 11 - ELYSISCHE GEFIELDE
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52897  = Teil 12 - BEGIERDEN EINER KAISERIN
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52923  = Teil 13 - DIE LUST DER SCHMERZEN

https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52944  = Teil 14 - VORBOTEN DES STURMS
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52970  = Teil 15 - UNWETTER

https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?52993  = Teil 16 - UNTER DROGEN
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53020  = Teil 17 - IM KERKER
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53041  = Teil 18 - EIN DRAMA IN ROM
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53061  = Teil 19 - VERLANGEN

https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53082  = Teil 20 - IN DER FREHEIT
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53106  = Teil 21 - HONIG UND STACHELN
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53132  = Teil 22 - NEUES LEBEN
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53152  = Teil 23 - FLIEGEN ...
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53175  = Teil 24 - DER BESTE VATER
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53204  = Teil 25 - OHNE DICH
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53220  = Teil 26 - WAHRHEITEN
https://www.e-stories.de/view-kurzgeschichten.phtml?53246  = Teil 27 - DER HIMMEL IST ÜBERALL
       

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ingrid Grote).
Der Beitrag wurde von Ingrid Grote auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.02.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Ingrid Grote

  Ingrid Grote als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Leben & Poesie von Alexander Pernsteiner



Gedichte vom Zauber der Liebe und den Träumereien des des Lebens.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Romane" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ingrid Grote

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Himmel über Rom, Teil 3 - HOHER BESUCH von Ingrid Grote (Romane)
Das Herder-Lexikon von Ingrid Drewing (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen