Manfred Gries

Das Brotkörbchenhaus

An einem kleinen See in den Bergen eines Landes oberhalb der Wunschgrenze leben seit Ewigkeiten zwei Menschen, die einander verstehen, ohne Worte auszutauschen. Wenn sie miteinander reden, dann, weil sie einander etwas zu sagen haben. Einen anderen Grund gibt es nicht. Das Jahr über leben sie als Gast bei den Bewohnern des Landes. Nur zu Weihnachten ziehen sie sich zurück an den kleinen See - zurück ins Brotkörbchenhaus.

Und das hat seinen Grund. Niemand weiß so genau, warum dies geschieht und woher der Name des Hauses kommt. Die Ursprünge liegen viel zu weit zurück, als dass man sich erinnern könnte. Und außerdem gehört die Erinnerung zu jenen unausgesprochenen Dingen, die die beiden ohne Worte verbindet. Vordergründig liegt dieser Rückzug daran, dass der Weihnachtsmann jedes Jahr um diese Zeit Rast macht am Tisch der beiden, um all die vielen Wunschzettel zu sortieren. Dabei schaut er immer wieder zwischendurch auf das kleine Brotkörbchen in der Mitte des Tisches, dass dem Haus seinen Namen gab, vor langer, langer Zeit.

Darin liegen alle gesammelten Eindrücke des vergangenen Jahres, die die beiden Seelenakrobaten gesammelt haben. Brotkrumen vom Tisch ihrer Gäste, die diese achtlos weggeschmissen hätten - sorgsam aufbewahrt in kleinen Beuteln, die sie zum Ende des Jahres ins Brotkörbchen schütten, damit der Weihnachtsmann die einzelnen Wunschlisten versteht. Denn die geschriebenen Wünsche bedürfen des Verstehens. Ein Beispiel, das die beiden immer gerne anführen, ist der Wunschzettel von John F. Kennedy aus dem Jahre 1962. Da steht an erster Stelle der Wunsch nach Frieden zwischen den Weltmächten. So etwas kann der Weihnachtsmann nicht persönlich verschenken. Also muss er den eigentlichen Wunsch hinter dem vordergründigen Wunsch herausfinden. Sein Blick richtet sich auf das Brotkörbchen und findet ein paar Krumen vom Frühstück der Kennedys an einem sonnigen Morgen im Frühjahr 1962. Die lächelnde Jaqueline schaut daraus hervor und der Weihnachtsmann begreift, dass sich John eigentlich nichts sehnlicher wünscht, als dass diese Frau zu ihm steht. Denn der Weltfrieden hat nur vordergründig mit Politik zu tun. Eigentlich wird er von den Frauen garantiert, die an der Seite ihrer Männer stehen - nicht von den Frauen, die Geburtstagsständchen singen, weil sie selbst ihren Weg im Leben noch nicht gefunden haben. Frauen an der Seite eines Mannes sind Lückenfüller für die Tage zwischen den Geburtstagen. Der Weihnachtsmann lächelte damals in sich hinein, das “Happy Birthday, Mr. President“ der Norma Jean im Ohr. Er selbst war nie verheiratet und deshalb auf die Krumen der Seelenakrobaten angewiesen. Damals schenkte er John F. Kennedy das Lächeln seiner Frau Jaqueline zu Weihnachten und der junge Präsident ging seinen Weg. Die beiden Seelenakrobaten lächeln einander Verständnis zu, wenn sie dieses Beispiel anführen.

So sind im Laufe der Jahre viele Weihnachtswünsche wahr geworden, von denen wir alle nie etwas erfahren haben. Wünsche aus der Mitte unserer Seele, die im Brotkörbchenhaus bewahrt blieben. Am einfachsten waren immer die Wünsche der Kinder zu erfüllen. Ihre Augen können noch klar sehen, was ihr Herz sich wünscht. Jungen wünschen sich Verständnis und Mädchen Puppen, denen sie all das geben, was Jungen an Verständnis suchen. So ist auch die Barbie Puppe das Ergebnis einer Recherche des Weihnachtsmannes im Brotkörbchen. Natürlich geben die Hersteller dieses Produktes das nicht zu - müssten sie dann ja fürchten, dem Weihnachtsmann Tantiemen zu zahlen für seine Entdeckung. Aber da der Weihnachtsmann nicht von dieser Welt ist, könnte er mit dem Geld gar nichts anfangen. Geschenke kann man nicht kaufen, man kann sie nur finden im Brotkörbchen der Seelenakrobaten, deren Haus am See jenes Landes steht, dessen Bewohner wir sind.

Auch dieses Jahr sitzt der Weihnachtsmann wieder am Tisch der beiden und das Brotkörbchen steht mitten darauf - gefüllt mit den Krumen vom Tisch der Bewohner. Die Augen der Mutter, die ihre Kinder viel zu früh verlassen musste, schauen aus den Resten eines Frühstücks im Frühjahr auf das bevorstehende Fest. John F. Kennedy ist längst in die Welt der Mausbiber-Maulwurf-Mäuse gewechselt und singt mit im großen Chor - genauso wie Onkel Kurti und Wilhelmine. Aber in den Brotkrumen des Landes, in dem wir wohnen, entdeckt der Weihnachtsmann immer noch Reste von Wünschen, die hintergründig unsere Tage erfüllen. Wünsche, die er erfüllt, ohne dass wir es verstehen. Der Weihnachtsmann und das Brotkörbchenhaus, der See und die Seelenakrobaten - all das ist ein Teil von Weihnachten. Und das kleine Kind in der Krippe kennt die Ursprünge.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.11.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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