Richard Hebstreit

OSKAR VON VIERNAU Ein Dackelabenteuer aus dem Wilden Osten!

Präambel:
Im malerischen Kurort Bad Salzungen in Thüringen wohnte ein besonders schlauer Dackel namens Oskar. In den farbenfrohen 80er Jahren der DDR sorgte Oskar mit seinen Streichen für Trubel und Lachen, Verwicklungen und seltsame Ereignisse in der Familie Hiebstrahl, die aus den aufgeweckten Kindern Knut und Jule, den Eltern Geza und Trude sowie der liebenswerten Oma Irma besteht. Während die meisten Bewohner des Vorstadtviertels Oskars Eskapaden mit Humor nehmen, gibt es auch solche wie den stets mürrischen Nachbarn Herrn Schmidt und den Konditor Erxleib, deren Geduld oft auf die Probe gestellt wird. Zwischen Braten- und Wurstklau, Gartenverwüstungen und genetischen Veränderungen ganzer Hundepopulationen in der Nachbarschaft entfaltet sich ein Abenteuer nach dem anderen.

 

Kapitel 1: Der erste Ossi von Salzinge!

Ende 1980 tausche ich einen alten blaugrauen Bierkrug mit absolut echtem Zinndeckel in Viernau hinter Schmalkalden gegen einen Kurzhaar-Dackelwelpen in einem Salamander-Schuhkarton ein, weil jemand in der Familie sich zu Weihnachten einen Opa und einen Hund gewünscht hatte. Das mit dem Opa konnte ich nicht selber realisieren, das mit dem Hund schon. Zu dieser Zeit herrschte in Südthüringen, in der „Autonomen Gebirgsrepublik Suhl“ als bevorzugtes zweites Warenwirtschaftssystem neben der Planwirtschaft die kooperative illegale und offizielle Tauschwirtschaft. Man konnte praktisch fast alles tauschen. Sogar der zutiefst vom Klerus verunglimpfte und von der Staatsmacht absolut verurteilte Frauentausch war versteckt, aber doch sicher vorhanden. In Kloster bei Bad Salzungen hatte sowas seit dem Mittelalter Tradition. Dort tauschten die Burschen des Dorfes nach dem Feierabendbier am Samstag die Nonnen untereinander aus. Davon soll es hier aber nicht gehen, sondern von dem Dackel aus Viernau, der nach den Phantasievorstellungen eines kleinen Jungen halt kurz und knapp „Oskar“ getauft wurde. Das Problem dann aber später war, den Hund Oooooskaaaar!! laut zu rufen, hörte sich saublöd an. Auch hört bekanntlich ein Dackel nicht sehr gut auf laute Befehlszurufe. Na ja, ehrlich gesagt, ein Dackel hörte damals eigentlich selten oder nie. Eine nette Nachbarin, die Frau Wichmann von der Drogerie Wichmann neben der Nappe, fragte mal, wie der Hund eigentlich heißt und bekam die Antwort „Oskar!“. Sie rief dann den Oskar, Oskar und Oskar wedelte nicht mal mit dem Schwanz. Dann rief sie ihn „Ossi“, und Ossi hörte aufs Wort. Er kam schwanzwedelnd zur Frau Wichmann und legte sich auf den Rücken, um sich am Bauch kraulen zu lassen. Von da an wurde der Oskar nur noch Ossi gerufen. Er hörte dann ein bissel besser und war damit der erste Ossi in der DDR und in Bad Salzungen. Zehn Jahre später, waren alle Salzunger Ossis und manche hörten sogar auf Pfiff! Legten sich auf den Rücken und wedelten mit dem Schwanz!

Kapitel 2: Wie Dackel sehr wenig was erzählen!

Die ersten Wochen und Monate waren von den damaligen Ereignissen her relativ harmlos. Man konnte nun aber nicht mehr seine Schuhe zu ebener Erde in der Wohnung herumliegen lassen, da Dackelwelpe Oskar eine Vorliebe für Leder entwickelte! Er hielt Leder für einen verzehrungswürdigen weichen Knochen und behandelte diesen entsprechend. Oskar kaute nicht nur sinnlos auf jeglichem Leder herum. Oskar fraß alles lederartige restlos auf! Wie manch andere Hunde auch, hatte er die Angewohnheit, sich in jedem Kothaufen zu wälzen und herumzurollen. Sei es nun Kuhscheiße, Hundekot aller Art und besonders Kohlenstaub-Schlammpfützen, da damals mit Braunkohle und Braunkohlenbriketts geheizt wurde und Einkellungs-Kohlenstaubreste besonders im Herbst die Straßen und Wege der Stadt gründlichst einsauten. Was blieb da übrig? Man duschte Oskar ein bis dreimal in der Woche im Waschkeller mit einer Klobürste und reichlich Spülmittel Fit. Zu Zeiten, wo es noch kein Internet gab und kaum Fachliteratur zur Hundeerziehung, erfolgte kaum eine vernünftige erzieherische professionelle Einflussnahme auf Dackelrüde Oskar. Wenn man ihn von der Leine ließ und rief, kam er manchmal. So Sachen wie „Sitz!“ und „Bei Fuß!“ funktionierten mal, funktionierten auch wieder nicht. Vom Großvater, der zur Nazizeit „Führer“ war, keine Bange, nur Stammbuchführer für Foxterrier in Thüringen, konnte und kannte man einige Tricks, Hunde zu manipulieren. Hunde sind korrupt wie mancher Gangster oder Politiker und lassen sich prima schmieren! In meiner Kindheit gab es fast jedes Jahr andere Hunde, weil Großvater als Bahnspediteur „schwarz“ mit Hunden zu DDR-Zeiten handelte. Ich kannte als Kindergartenkind einen Spitz, der hatte einen Drehwurm und wollte sich öfter in den Schwanz beißen. Großvater meinte, Pfiffi, so hieß das edle weiße Tier, hätte ein „Porzellandefizit“! „Opa, was ist ein Porzellandefizit?“ fragte ich und Opa erläuterte grinsend: „Der Hund hat nicht alle Tassen im Schrank“, also der Hund ist verrückt! Irgendwann hatte Großvater einen Kuvasz/Puli-Mischlingshund, den er wohl als fast reinrassigen Kuvasz loswurde, indem er Spitz Pfiffi als Zugabe mit nach Sachsen vermittelte. Ansonsten hatte Opa immer Trockenfutter in der rechten Hosentasche, mit dem er jeden Hund gefügig machte. Das hatte ich ja dann auch zum Teil damals vermittelt bekommen und gelernt. Unser Dackel Oskar war ebenfalls korrupt bis auf die Knochen. Mit Knochenstückchen und Trockenfutter hörte Oskar fast aufs Wort. Die Lisa aus der Salzunger Richard-Eyermann-Straße, eine Freundin meiner Mutter meinte mal, „Euer Dackel Ossi versucht was zu sagen!“. „Ossi“ war unser aus Weimar stammender Kurzhaardackel, der eigentlich Oskar heißt, dessen Verkleinerungsform und Rufname um 1981 zu „Ossi“ mutierte. „Waaaaas“, meinte Lisa, „Der Dackel Ossi stammt von einem Rüden aus Weimar? - Wo der edle Kurwenal, der „Kuno von Schwertberg“ auch her gewesen wäre. Denn die total gnatzige Nazi-Mathilde, die Freifrau von Freytag-Loringhoven (1860-1943) und absolute Gegnerin des Staatlichen Bauhauses in Weimar und Tierpsychologin und Tierschützerin, hätte einen sprechenden Dackel in Weimar gehabt. Mit dem war sie mal in Salzungen um 1936 zur Kur und hat ihr Buch über ihren tollen Dackel mitgebracht und im Kurhaus darüber den staunenden Salzungen vorgelesen. Lisa hat das Buch aus dieser Zeit im Schrank „Kuno vom Schwertberg, genannt Kurwenal der zahlsprechende Teckel der Mathilde Freiin von Freytag-Loringhoven (Weimar). Stuttgart, Jordan, 1933. - 48 S. wo von wissenschaftlich dokumentierten Bellauten vom Hund berichtet wird, dass er rote Rosen mag, Kinder und Hunde nicht mag. Käse liebt er, kennt 60 Zitate und mag die Farbe rot und lieber Wurst als Keks. Ihr erster sprechender Hund, die „kluge Hündin Isolde“, wäre am 20.2.1929 an einem Kälteherzschlag verstorben. Irgendjemand betitelte Kurwenal als „Weltmeister der denkenden Tiere“. „Komm, mach kein Kram!“, habe ich zur Lisa gemeint und zu Ossi geschielt, an dessen Blick und hängenden Lefzen ich ohne verstehende mathematische Dackelkonversation sehen und verstehen konnte, Ossi, der Salzunger Dackel hatte täglich Kohldampf, mörderischen Hunger wie grundsätzlich an jedem Tag und er war manchmal sporadisch oberaffengeil wie Schifferscheiße, weil in der Nachbarschaft beim Konditor Erxleib eine rosa gefärbte Pudelhündin läufig war und er an die nie und nimmer rankam. Denn Erxleib hatte oft das läufige Pudelluder in den Keller hinter einer kratzfesten Eisentüre gesperrt. Wie immer zu diesen Zeiten, rund um die Uhr. Das Dackelvieh Oskar hätte sich voll fressen können, wenn man ihn je gelassen hätte, bis er platzt und er hätte Konditor Erxlebens Pudeline einen verdackelt, dass die fast an dem nachfolgenden Mischlingswurf geplatzt wäre. Irgendwann klappte das auch, aber dazu später! Momentan sprang der gertenschlanke Dackelrüde Ossi vom Sofa, wo er bisher neben mir wie immer am späten Nachmittag beim Fernsehen schwach schwanzwedelnd saß und verzog sich mit hängendem Schwanz und schlechtem Gewissen-Blick unter eine Monstera Deliciosa, zu Zeiten, wo es diese Pflanze fast so groß wie in einem Regierungsgebäude in unserem Wohnzimmer gab. Ich wusste nun auch und endlich, meine Frau fährt gerade den ollen halbverrosteten Skoda S100 vor die Garage. Auf das Sofa durfte Ossi nicht, nie und nimmer, das wusste ich auch! Unser Ossi, war, so hätte „Adolf der Verbrannte“ vor 1945 formuliert, wie sein Schäferhund Blondi, wie die „Deutsche Jugend“, „Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“. Und Ossi war clever auch ohne mathematisches Wörterverständnis, wie der Freifrau von Freytag-Loringhoven ihr Wunderdackel. Als ich das alles meinem Bekannten Xue Yun Pei aus Peking um 1993 in Berlin Kreuzberg mal bei einem Besuch erzählte, bittet er mich in seiner Küche an einem großen Aluminiumtopf, wo gerade ein leckerer Gulasch brodelt. Darüber, über dem Herd hängt ein komischer Zettel mit der fetten Aufschrift „50,00 DM FINDERLOHN! - WIR SUCHEN UNSEREN DACKEL WALDI!“ Darüber ist auf dem Zettel ein halb vertrocknetes Hundeohr mit einer Reißzwecke befestigt. Xue meint, er dokumentiert als realistische Erinnerung damit seine gelungensten Gerichte. Wer diesen ganzen Quatsch nicht glaubt, kann das zum Teil hier nachlesen. Es geht um Kuno vom Schwertberg, genannt Kurwenal: (http://vb.uni-wuerzburg.de/ub/35a2423/index.html) Dieser totale Unsinn mit dem sprechenden Hund verrät sich nach wenigen Seiten selber als pure Manipulation. Das damals verfemte Bauhaus Weimar gibt es heute wieder - sprechende Dackel sind seitdem in Weimar und in Bad Salzungen nicht wieder aufgetaucht! Als Oskar seine Welpenzeit hinter sich ließ, verhielt er sich manchmal wie einer unserer Deckhengste zu Bahnspeditionszeiten. Wenn man den Hengsten zu viel Hafer gab, durfte man nicht vergessen, sie tunlichst viel zu bewegen, damit die durch gutes Futter erzeugte Kraft nivelliert wurde. So war es auch bei Oskar, der manchmal wie eine aufgezogene hoch gezüchtete und getunte Maschine herumlief und lief und lief und lief! Manchmal zwanzig Mal die Kellertreppe runter, eine Runde im Waschkeller, dann wieder hoch, in den Flur, durch die Küche über das Wohnzimmer zum Schlafzimmer, wenn die Türen offen waren. Wenn die Haustüre offen war, war Oskar weg, denn unser feinst geschweißter Zaun um das Grundstück herum hätte eventuell einen Bernhardiner aufhalten können. Oskar war da nicht aufzuhalten und nachfolgende Ereignisse bestätigten diesen durchlässigen Zaun! Aber das mit dem vertrockneten Ohr war eine Finte von Xue Yun Pei aus China. Das Ohr war echt von einem Markt in Peking. Xue speiste von den lebenden Tieren nix mit Hundefell. Xue speiste nie Hund in Deutschland, er veralberte damit nur seine Besucher. Zu der Eigenart sich in Kot zu wälzen, wusste ich von Großvater: „Hunde wälzen sich aus verschiedenen Gründen in Kuhscheiße, Hundekot, Schlammpfützen und toten Tieren. Dieses Verhalten ist tief in ihrem Erbe und ihrer Natur verwurzelt. Erklärungen für dieses Verhalten: sind. Instinktives Verhalten Tarnung: Hunde stammen von Wölfen ab, und das Wälzen in stark riechenden Substanzen dazu dienen, den eigenen Geruch zu überdecken. In der Wildnis könnte dies helfen, sich vor Beute oder Raubtieren zu verstecken. Kommunikation: Hunde benutzen Gerüche, um mit anderen Hunden zu kommunizieren. Wenn sich ein Hund in etwas krassem Riechendem wälzt, kann er diesen Geruch zurück in sein Rudel bringen und so Informationen über seine Umgebung teilen. ### 2. Verhaltensweisen zur Erkundung Neugierde: Hunde sind von Natur aus neugierig. Sie erkunden ihre Welt durch ihre Sinne, insbesondere durch den Geruchssinn. Das Wälzen in verschiedenen Substanzen könnte einfach ein Weg sein, neue und interessante Gerüche zu erleben. Spaß und Stimulation“

 

Kapitel 3: Der Familienkönig OSKAR VON VIERNAU

Unser Sohn war damals so fünf Jahre alt und wir brauchten seitdem keinen Babysitter mehr, wenn wir außer Haus waren, zumal sich auch noch eine weitere Familie, meine Schwester und Angehörige im Haus befanden. Der Hund Oskar war ein Segen, weil wir uns nur mit den notwendigsten Erziehungsmaßnahmen als ausgebuffte Pädagogen gegenüber unseren Kindern beschäftigen mussten, weil der Hund ab den ersten Wochen seiner Existenz der Chef war, dem alle folgten. Egal ob Oma Irma, Schwester und ein Jahr später kam noch Tochter Jule dazu. Irgendjemand hatte Oskar immer dabei. Wenn Knuts Freunde aus dem Viertel um Siedlung, Honigbach und Richard Eyermannstraße zugegen waren, hatten wir zum Feierabend hin absolute Freizeit, weil Dackel Oskar Sohn und Freunde voll beschäftigte. Oskar machte alles mit. Wenn die Kinder auf dem Hof Fußball spielten, lag Oskar mit wedeltem Schwanz im Tor und ließ kaum einen Ball rein. Pech war nur, wenn er den kostbaren Lederball aus dem Westen ein wenig lasch und schlecht aufgepumpt erwischte. Da war der Ball hin. Der Papa von Knuts Freund kam dann zu uns und fragte, wie das Loch in dem kostbaren Ball aus München mit dem BayernMünchen-Logo reingekommen ist. Wir waren bei der Staatlichen Versicherung der DDR für ein paar DDR Mark haftpflichtversichert. In der Haftpflichtversicherung waren sämtliche privaten Risiken abgedeckt, die hätten auftreten können. Clou hier war, ein DDR-Fußball von Germania kostete ungefähr 45,00 DDR Mark mit Blase im Sportladen in Eisenach. Das war damals viel Geld! Das berappte die Versicherung eigentlich innerhalb von zwei Monaten. Einen Westfußball konnte man nicht ersetzen. Der Versicherungsmensch wollte dann natürlich den feinen Westfußball als Beweis in seinen Besitz nehmen, was der Papa von Knuts Freund auch nicht gleich akzeptierte. Denn den hatte die Westoma spendiert und hätte in München satte 100 Mark West gekostet. Es wurde dann richtig kompliziert, bis ein Trainer vom Fußballverein Stahl Bad Salzungen die Idee hatte, den West-Ball in Jena bei einem „Ballschuster“ reparieren zu lassen. Die Reparatur kostete 15,00 DDR Mark und ab da wurde nur noch mit Knuts DDR Germinia-Fußball gespielt. Was aber am wichtigsten war, wir hatten nun einen guten Draht zur staatlichen Versicherung, wo sich langsam aber sicher im Verlauf der nachfolgenden Jahre eine stattliche Akte in der staatlichen Versicherung voluminös mit von Oskars verursachten Schäden aller Art füllte!

 

Kapitel 4: Kohlen holen wegen Oskar!

Wie das so ist mit einem Tier, was in eine Familie einzieht, ändern sich manche Dinge und Abläufe gravierend, manches nur unauffällig in verschiedenste Richtungen mit viel Vorteil und auch manchen Nachteilen. Bei Welpen ist das so eine Sache, weil man fast nix steuern und beeinflussen kann. Man kann nur höllisch aufpassen! Welpen laufen in ihr Glück oder Unglück aufgrund ihres Verhaltens, ihrer Erfahrungen und ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die gegen Null gehen! Ein Dackel-Welpe weiß nicht, was ein IFA W50 ist. Das ist ein DDR-Lastauto mit einem Gesamtgewicht von 9,8 bis 10,2 Tonnen. So ein Lastauto IFA W50 kann 5,3 Tonnen Brikett laden. Das sind 5300 Kilogramm Brikett! So ist es eines Tages geschehen, dass Oskar die Haustüre offen befindlich vorfand. Er huschte durch die Tür, auf den Hof, mitten auf die Richard-Eyermann-Straße, wo gleichzeitig aus Richtung Kaltenborn ein voll beladener LKW des VEB Kohlenhandels mit so rund 50 Sachen vollkommen verkehrskonform die Straße entlangfuhr. In Höhe der Hausnummer 46 stand da auf der Mitte der Straße der Mini-Dackel Oskar mit wedelndem Schwanz. Der professionelle Fahrer hupte, bremste und fuhr um Dackel Oskar herum auf dem Gehweg. Oskar erschrak und flitzte zurück auf das Grundstück. Nichts war passiert, nur durch das Ausweichmanöver verlor der LKW rund eine Tonne Kohle. Leute schreien, Bremsen quietschen, ein Dackel jaulte vor Schreck. Sohn Knut alarmierte mich und hatte schon einen Eimer in der Hand. „Papa, da liegt Kohle auf der Straße wegen Oskar!“ Also habe ich auch einen Eimer, wie weitere Nachbarn geholt und die schöne Gratiskohle zur Hälfte eingesammelt! Ossi sei Dank!

 

Kapitel 5: Pferde, Hund Lorchen und die Ackerbürger

In einer Kleinstadt in Thüringen der Fünfziger Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, war die Konfrontation mit Tieren aller Art kaum eine Art Konfrontation. Es war selbstverständlich. Man lebte mit ihnen und von ihnen jeden Tag. Wir hatten Hunderte Hühner jedes Jahr, wo die Hälfte als Hähnchen um bis 1958 jährlich schlicht und einfach aufgefressen wurden. Der Rest legte Eier in einer Größe, die heute mit folgenden Größen definiert wurden: Größe S bis XL – also extra groß. Diese Klassifizierung ist nach Gewicht definiert: Ein Ei der Größe S wiegt weniger als 53 g, Größe M geht bis 63 g, L bis 73 und alles, was darüber ist, ist XL. Hunde waren Wachhunde, Spaß und Hunde zum Angeben. Durch meinen Opa kannte ich eine stattliche Menge, auch wegen mancher Bücher über Hunde und den Erzählungen der Eltern und der "buckligen Verwandtschaft". Großvater war ja Foxterrier-Profi. So 4-5 Deck-Rüden hatte er bis 1945. Danach noch 1-2 Rüden, wo alle möglichen Hundehalter ihre Hündinnen aus der Gegend zu Opa zum Decken brachten. Opa machte es nicht als Hundezüchterfan, sondern er machte es für ordentlich Geld! Wie auch heute manche Züchter. Naja, Hundezüchter war Opa nicht. Nicht einen Wurf erlebte ich, Opa war "Rüden-Halter", zu dem die Hündinnen gebracht wurden, zum Decken! Das war das Geschäftsprinzip, was weniger stressig war, als Welpen zu erzeugen und zu verscheuern. Das System dazu kam aus Gotha wegen der ganz speziellen erfolgreichen Pferde. Opa war Pferdewetter mit manchmal finanziellen Erfolg, weil er wusste, welche Pferde bei Trabrennen und Galopprennen in Deutschland gewinnen. Er kannte die Zuchtlinien der schnellsten Pferde und die Stoppuhrergebnisse der Stallburschen. Bei den Hunden war es ähnlich. Als Bahnspediteur war es leicht, europaweit Hunde für wenig Geld in Boxen hin und her zu schicken. Bis 1939 war das superleicht. In der DDR war es noch relikthaft vorhanden. Eine elitäre Clique wohlhabender DDR-Handwerker und kleinstädtischer Ackerbürger hatte aus Reputationsgründen seltene und teure Hunde gehalten. In der DDR war es noch harmlos. Chow-Chow, Kanadischer Eskimohund, Königspudel, Deutsche Dogge, Bernhardiner und Cavalier King Charles Spaniel waren damals die Hits neben Schäferhunden und Pudeln aller Größen. So um 1957 besorgte mein Opa die Dackeldame Lurchi aus Hessen, von seiner Tochter, also meiner Tante Hilde. Um 1960 rum verlor mein Vater die Nerven und brachte die Dackeldame "Lorchen" schlicht und einfach um, denn so wurde sie inzwischen umgetauft, weil kein Mensch in Thüringen was mit Lurchi anfangen konnte. Denn die Marke, "Der Feuersalamander Lurchi ist eine Comicfigur, die vom deutschen Schuhhersteller Salamander zu Werbezwecken verwendet wurde. Jahre später erfuhr ich von meiner Mutter, was mit Lorchen wirklich passierte. Mein Vater stopfte sie in einen Sack mit Steinen und warf sie von einer Brücke in die Werra bei Kloster Allendorf. Er ersäufte sie wie damals Tausende von Katzenjungen und Hundewelpen. Da war er aber schon so 10 Jahre tot, sodass ich nur missmutig in die Vergangenheit räsonieren konnte. Fakt war, was besonders bei Familienfesten kolportiert wurde, wie jemand aus Breitungen in Thüringen an der Werra eine Foxterrierhündin zu meinem Großvater zum "Decken" brachte. So nach einer Woche holte der Breitunger seine "Hündin" wieder ab und fragte meinen Großvater, ob das mit dem "Decken" geklappt hätte. Der Foxterrier-Rüde von Opa hieß "Salzi". Opa fragte "Salzi, wie war´s?" und "Salzi" machte einen Salto rückwärts. Opa war ja Bahnspediteur, kannte einige Zirkusleute, die die verrücktesten Zirkustricks meinem Großvater vermittelten. Da lernte er seinen Rüden Salto rückwärts! Mein Vater kapierte den ganzen Kram nicht, obwohl er von seinem Vater, also meinem Großvater, über das Verhalten von Rüden und läufigen Hunden aufgeklärt wurde. Denn die Verehrer von Lorchen heulten tagelang wie die Wölfe vor unserem Haus vor tausendfacher hündischer, sexualbasierender Sehnsucht! Das Ersäufen von Tieren, insbesondere von unerwünschten Hundewelpen und Katzenjungen, war in früheren Zeiten eine leider weit verbreitete Praxis, die aus verschiedenen Gründen durchgeführt wurde. Die Gründe dafür waren oft sowohl praktischer als auch ökonomischer Natur. Historischer Kontext und Gründe für das Ersäufen von Hunden Überpopulation und Ressourcenknappheit: In der Vergangenheit war die Überpopulation von Haustieren ein großes Problem. Die Kontrolle der Fortpflanzung von Haustieren war schwierig, und es gab keine weit verbreiteten Methoden der Geburtenkontrolle, wie sie heute existieren. Tierheime und Tierschutzorganisationen waren entweder nicht vorhanden oder konnten nur eine begrenzte Anzahl von Tieren aufnehmen. Dies führte dazu, dass viele unerwünschte Welpen und Kätzchen geboren wurden. Ökonomische Gründe: Die Haltung und Aufzucht von Haustieren kostete Geld und Ressourcen, die oft knapp waren. In Zeiten wirtschaftlicher Not oder in ländlichen Gebieten, wo das Überleben und die Nutzung von Tieren hauptsächlich praktischer Natur war, wurden Tiere, die keine unmittelbare ökonomische oder praktische Funktion erfüllten, als Belastung betrachtet. Mangelndes Bewusstsein für Tierschutz: Heutige Standards und das Bewusstsein für Tierschutz gab es damals nicht. Das Ersäufen von Tieren wurde oft als schnelle und vermeintlich humane Methode angesehen, um unerwünschte Tiere zu „entsorgen“, ohne dass es als grausam oder unmoralisch betrachtet wurde. Fehlende Alternativen: Methoden wie Kastration oder Sterilisation waren entweder unbekannt oder nicht zugänglich für die breite Bevölkerung. Selbst wenn diese Methoden bekannt waren, waren sie oft zu teuer oder wurden als unnötig betrachtet. Persönliche Anekdote und Reflexion In dieser Geschichte wird deutlich, wie tief verwurzelt die Beziehung zwischen Menschen und Tieren in der ländlichen Gemeinschaft der 1950er Jahre in Thüringen war. Tiere spielten eine wesentliche Rolle im täglichen Leben und wirtschaftlichen Überleben der Familien. Die Geschichte meines Opas, der als „Rüden-Halter“ tätig war und Hunde zum Decken anbot, zeigt, dass die Zucht und Haltung von Hunden auch damals schon eine wirtschaftliche Komponente hatte. Die tragische Geschichte von „Lorchen“ verdeutlicht die harten Realitäten und die pragmatische Einstellung gegenüber Tieren in dieser Zeit. Mein Vater sah offenbar keine andere Möglichkeit, mit der Situation umzugehen, als das Tier zu töten, was heute als grausam und inakzeptabel betrachtet würde. Es ist auch interessant zu sehen, wie sich die Gesellschaft und die Einstellungen zu Tieren seitdem verändert haben. Heutzutage gibt es strenge Tierschutzgesetze, und das Bewusstsein für das Wohlergehen von Tieren ist erheblich gewachsen. Methoden zur Geburtenkontrolle bei Haustieren sind weit verbreitet, und es gibt viele Organisationen, die sich um die Rettung und Vermittlung von Tieren kümmern. Nicht nur pseudophilosophisch ist das Töten von Tieren.
Fazit: Das Ersäufen von Hunden und anderen Tieren in der Vergangenheit war eine Praxis, die aus einer Kombination von ökonomischen, praktischen und kulturellen Gründen entstand. Heutzutage würden solche Methoden aufgrund des gewachsenen Bewusstseins für Tierschutz und ethische Behandlung von Tieren nicht mehr akzeptiert. Die Geschichte meiner Familie bietet einen wertvollen Einblick in die historischen Lebensumstände und die sich wandelnden Einstellungen gegenüber Tieren.
1963 starb mein Vater an einem Schlaganfall. Ich war dabei und nicht sehr traurig, weil er ja meinen geliebten Dackel Lorchen ersäuft hatte. Ein Aquarium mit so 20 Fischen hatte er auch 1957 auf den Flur geschmissen, wegen meiner Zeugnisse und Versetzungsgefährdungen. Ich wurde versetzt und aus der Schule 1960 aus anderen Gründen entlassen. Kein Lehrer verkraftete mich damals. Die Lösung war, mich nicht sitzen bleiben lassen, sondern entfernen. Hatte ADHS, das wusste damals kaum jemand!

 

Kapitel 6: Oma Irma hat was zum Angeben

Opa war ja Experte in Sachen Hundeabrichtung, wozu er theoretisch mir manches beibrachte. Ich wusste, dass der Hund immer auf der linken Seite laufen sollte, denn traditionell wird ein Hund auf der linken Seite geführt, so Opa. Diese Konvention stammt ursprünglich aus der Hundetraining-Praxis, insbesondere aus dem Bereich des Schutzhundetrainings und des militärischen Hundetrainings. Der Grund dafür liegt darin, dass die meisten Menschen Rechtshänder sind und somit die rechte Hand frei haben, wenn der Hund links läuft. Dies ermöglicht es dem Hundeführer, die Leine bequem mit der linken Hand zu halten und gleichzeitig mit der rechten Hand andere Aufgaben auszuführen, wie zum Beispiel Türen öffnen, Gegenstände aufheben oder Signale zu geben. Im Hundesport, insbesondere beim Obedience-Training, ist das Führen des Hundes an der linken Seite ebenfalls die Norm. Dies stellt sicher, dass bei Wettbewerben eine Einheitlichkeit gegeben ist und die Richter die Leistung der Hunde leichter vergleichen können. Viel konnte man aber Dackel Oskar nicht beibringen, ob mit oder ohne Leine, Oskar lief trotzdem aus irgendeiner Gewohnheit immer auf der linken Seite, besonders auch mit Oma Irma, denn da gab es unterwegs bei ihren Besuchsstationen überall und immer was zu futtern! Oma Irma brauchte nur nach der Leine zu greifen, da positionierte sich Oskar sofort links und flitzte mit seinen kurzen Beinen neben Oma Irma her. Zuerst ging es zu Tante Martha neben der katholischen Kirche, die bei Pfarrer Eisenmann Haushälterin war. In der Küche hatte Tante Martha einige Schüssel-Einsätze, die in steinerne Weihwasserbecken eingelegt wurden. Da tunkten Kirchenbesucher ihre Zeigefinger rein und machten ein Kreuz. Pfarrer Eisenmann segnete aus lauter Faulheit nie täglich das Weihwasser, wie es eigentlich Vorschrift gewesen wäre, Pfarrer Eisenmann segnete den Wasserhahn in der Küche, aus dem seine Haushälterin mit der Aufgabe betreut wurde, täglich die beiden Weihwasserbecken der Andreaskirche mit heiligem Weihwasser aufzufüllen. Und so geschah es, dass Dackel Oskar bei Pfarrer Eisenmann in der Küche erst mal frisches Weihwasser zu saufen bekam, wozu Oma Irma meinte, wegen dem heiligen Weihwasser wird Dackel Oskar nie krank und wird auch nie von einem Auto überfahren. Dazu bekam er noch ein paar gefüllte heilige „Westplätzchen“ vom Bischof aus Fulda, die für den Religionsunterricht als göttliche vom Bischof geweihte Zugabe gedacht waren. Nach einer halben oder ganzen Stunde Quasseln mit Tante Martha ging es weiter zu Tante Bauerfeld an der Bauerfeldkreuzung. Oskar bekam dort immer Schweinerippchen, weil Tante Bauerfeld die Ehefrau von Fleischer Bauerfeld war. Tante Bauerfeld mochte das Geräusch, wenn Oskar die Rippchen zwischen seine gierigen Zähne nahm. Oskar zermahlte einen Rippchen-Knochen zu kleinen Krümeln und schluckte sie runter in seinen unersättlichen Magen. Danach machte er „Männchen“ und bekam noch einen Knochen. Das immer vor der Tür der Fleischerei, wozu Frau Bauerfeld meinte, das wäre nicht nur wegen der Hygiene. Der arme Hund bekäme im Laden eventuell einen Herzanfall wegen der köstlichen Gerüche nach frischem Fleisch und Räucherwurst. So zwanzig Minuten später war Oma Irma bei ihrer Freundin „Schlüpferkeilholz“. Tante Keilholz hatte am Markt einen Kurzwarenladen, wodurch sie diesen Namen von den Salzungen erhielt, denn es gab dort alle Schlüpfergrößen für Damen und für Herren. Für Oskar gab es dort eine Wiener Wurst, die Oma Irma vom Fleischer Bauerfeld sowieso mitgebracht hatte. Denn bei Tante Keilholz gab es auch eine Tasse Westkaffee! Danach trabte Oma Irma um den halben Salzunger See zum Rathenaupark. Dort musste sie Oskar anleinen wegen der dort befindlichen kleinen Kaninchen. An den dortigen Kaninchenbauen hätte er sowieso nur sinnlos herumgebuddelt. Sinnlos deswegen, weil er für einen Kaninchenbau zu groß war. Er hatte Fuchs- und Dachsbaugröße. Das wusste ich auch von Nachbar Malermeister Hornung, der letzte Wilddieb von Salzungen war und sich glänzend mit Jagdritualen auskannte! So, nach einem dicken Samstagnachmittag war Oma Irma kurz vor der Tagesschau wieder mit Oskar zurück, der sofort bei den Kindern zum Knuddeln abgeliefert wurde, denn danach wurden sie in die Betten befördert. Oskar duftete bei den Ausflügen mit Oma Irma selten nach Kuhscheiße, weil Oskar fast immer angeleint war und um Kothaufen herum geleitet wurde. Einen Tierarzt sah Oskar nur beim Kaffeeklatsch bei Tante Keilholz, wo manchmal die Frau Doktor Splettstößer zugegen war. Frau Splettstößer hatte ihre Praxis neben dem Salzunger Schlachthof, wodurch sie nach der täglichen Fleischbeschau nach dort abgemurksten Tieren duftete. Für Oskar musste sie wie ein lebendiges Schweineschnitzel erscheinen!

Kapitel 7: Kommen Sie doch bitte mal kurz mit!

Es klingelt, und vor der Tür bellt Oskar. Trude fragt: „Wie kommt der Hund an die Klingel?“ Ich öffne die Tür und sehe Horst aus der Honigbach, einen Strick in der Hand. Am anderen Ende des Stricks ist der schwanzwedelnde Oskar, der mich freudig begrüßt. „Kommen Sie doch bitte mal kurz mit und sehen sich was an, ich habe alles fotografiert!“ ruft Horst lautstark. Horst hat im Einfamilienhaus-Wohngebiet neu gebaut und führt mich dorthin. Unterwegs schimpft er über eine Sauerei, die ein Nachspiel haben würde. Sein Schwager, ein Anwalt, sei auch gleich da. So war es dann auch. Vor seinem schicken, nagelneuen Haus empfangen mich seine Ehefrau und der Anwalt im feinen Nadelstreifenanzug aus dem Westen. Am Zaun zeigt er mir einen ausgehobenen Graben und zwei ausgegrabene Rosenpflänzchen. Der Höhepunkt jedoch ist die massiv eichene Haustür, die im unteren Bereich völlig zerkratzt ist. Sein kleiner Sohn Ernst hatte die zweijährige Zwergpudelhündin Märie rausgelassen, die läufig war und von Oskar sofort besprungen wurde. Ernst rief nach Vater und Mutter, da er sowas noch nie gesehen hatte. Der Vater erklärte seinem Sohn die Angelegenheit mit einem alten Witz: „Zwei Hunde sind auf der Straße und einer deckt die andere. Die Kinder fragen den Vater, was die Hunde dort machen. Der Vater, peinlich berührt, antwortet schnell: „Der eine Hund ist müde, und der andere schiebt ihn über die Straße!““ Märie wurde also von Oskar durch den Garten „geschoben“. Wenn Märie Bastarde werfen sollte, hätte das ein Nachspiel. Das erste Nachspiel begann mit einer Rechnung für einen Kleinbildfilm ORWO NP20 und die Entwicklung der Bilder: ORWO, Bestellbeutel und Verpackung der entwickelten Fotos. Kosten: Negativ-Entwicklung vom ORWO Color NC 21 = 2,50 M, 1 Farbfoto im Format 7x10 cm = 1,70 M, Gesamtkosten für 27 Fotos = 48,40 M (der DDR). Im Schreiben lagen 4 Beweisfotos und zwei Rechnungen. Die weitere Rechnung war vom Gärtner Dötling, der zwei neue Rosenbüsche für je 7,00 DDR-Mark eingepflanzt hatte, inklusive Arbeitszeit und Fahrtkosten 75,35 DDR-Mark! Damit ging ich dann zum Versicherungsmenschen, der nur die Negativentwicklung und 4 Fotos anerkannte. Das waren etwa 15 Mark der DDR. Die Dötling-Rechnung wurde voll erstattet. Nach etwa 4 Wochen kam das Geld von der Versicherung als Verrechnungsscheck. Inzwischen war auch eine weitere Rechnung vom Tischler Anschütz da, der die massive Tür voll anschleifen und neu lackieren musste. Das hat auch die Versicherung voll bezahlt. Es waren etwa 400 Mark der DDR! Horst maulte jedoch noch wegen der Differenz zu den Gesamtkosten für 27 Fotos = 48,40 M. Ich meinte, ich würde zahlen, wenn ich den Film und die entwickelten anderen Fotos bekomme. Da das private Familienfotos waren, bekam ich die natürlich nicht. Vom Anwalt kam wieder Post. Mit einer Beratungsrechnung für Horst. Ich erkundigte mich beim Salzunger Gericht, wo man meinte, ein Anwalt wird erst bezahlt, wenn es am Gericht verhandelt wurde. Das habe ich mir schriftlich geben lassen und hatte erst mal Ruhe. Nach fünfundsechzig Tagen bekam ich wieder Post für eine mehrmalige Nachuntersuchung beim Tierarzt. Märie hatte geworfen und ein Nachbar erzählte mir, Horst habe die Welpen am gleichen Tag in der Regentonne ertränkt. Danach hatte die Hündin Probleme mit einer Zitzenentzündung, weil sie diese blutig geleckt hatte. Wieder zur kostenlosen Rechtsberatung geeilt, bekam ich bestätigt, dass sowas nicht bezahlt wird. Basta!

 

Kapitel 8: Salzinger Pilzgeheimnis

Die Idee war von Thea. Thea hatte keinen Garten, kein Grundstück und absolut keine Möglichkeit zu ernten, was sie mal angepflanzt hatte. Die DDR in den späten Siebzigern und Achtzigern hatte massive Versorgungsprobleme, auch mit Gemüse und Obst. Heute, wo man sich im nächsten Supermarkt um die Ecke alle Obstsorten der Welt zu jeder Jahreszeit kaufen kann, gibt es kaum solche verrückten Aktionen, von denen ich hier berichte: Thea saß eines frühen Frühlingssonntages auf der Bank am Schanzbaum und genoss die sanfte Landschaft der Kleinstadtwiesen und -felder. Ihr Blick ging auf einige Hektar Wintergetreide, welches kniehoch um einige Hochspannungsmasten dem Sommer entgegen reifen sollte.Die Traktoren hatten um die Hochspannungsmasten unbearbeitete Inseln des Feldes übrig gelassen, und Thea kam auf die Idee, dieses Stückchen Feld in einen Bearbeitungszustand zu versetzen, der ihr nützen konnte. Sie wollte sich gesund ernähren, und dazu gehört nun mal Gemüse und Obst. Möglichst viel und möglichst kostenminimierend. Wenige Tage später schnappte sich Thea einen Spaten, einen Rechen und einige Tüten Bohnen für wenige DDR-Mark. Sie buddelte den Boden um, säte verschiedene Sorten Bohnen aus und verschwand wieder. In der folgenden Zeit kamen Erbsen in ein vergessenes Stück Feld, welches vom Spaziergänger-Publikum wenig oder selten frequentiert wurde. Bis Ende Mai hatte Thea umfangreich Saatgut und Pflanzen in fremder Leute Erde auf Feldern, Waldrändern, Waldlichtungen und Ackerrainen rund um Salzungen gepflanzt, die eine zwei Tonnen Ernte erahnen ließen.

Fast wurde es eine Manie. Thea pflanzte Erdbeeren, Brombeeren, Radieschen, alle möglichen Kohlsorten, Salat, Feldsalat und Rapunzel. Von einem Gärtner erbettelte sie sich krumme unverkäufliche Pflaumenbäumchen, Kirschen- und Apfelbäumchen. Mit den Bäumchen zog sie zu Langenfelder und Kaltenborner Waldlichtungen.
Die Ernte war dann so riesig, dass Thea davon abgeben konnte, ja musste. Thea wurde mit ihren Obst- und Gemüselieferungen an Freunde, Kollegen und Bekannte ganz schön beliebt.Zu dieser Zeit, als Thea pflanzte und erntete, hatte ich ein kleines Problem. Mein Problem war mein Appetit auf frische Pilze, die es in der DDR und in Thüringen um Weihnachten herum damals kaum gab. Von Verwandten aus dem Westen gab es mal ab und zu ein Büchschen Champignons übelster Qualität von Aldi. Im DDR-Handel waren frische Pilze fast ein Fremdwort. Was blieb einem da übrig? Man musste selber in die Thüringer Wälder ausschwärmen, um diesen Gelüsten Tribut zu zollen. Nur kaum im Dezember, wo es nur für Kenner lilastielige Rötelritterlinge zu finden gab. Ich wusste nicht immer, wo es die gab! Ich hörte von Theas Aktionen und gelangte zu der Idee, Theas Aktivitäten abzukupfern. Ich brauchte nur Pilze irgendwo hin zu säen und hätte das Problem gelöst, dachte ich. Eventuell werde ich damit ein wenig wohlhabend. Mit Braunkappen oder Riesenträuschlingen fing ich im eigenen Garten an, die ich erst einmal in einem Mistbeet züchtete. Die Pilzbrut gab es für ein paar Mark bei Chrestensen in Erfurt (heute www.chrestensen.de). Die Ernte war sehr mager. Anschließend wagte ich Versuche mit Austernseitlingen. Ich besorgte mir zwanzig Dekamon-Sprengstoffsäcke aus Merkers und stopfte in die Säcke Stroh. Dann wurden die strohgestopften Säcke für vierzehn Tage unter Wasser gesetzt. Nachdem das Wasser abgelassen wurde, schnitt ich Löcher in die Kunststoffsäcke und beimpfte diese Löcher mit Pilzbrut. Inzwischen war der Schornsteinfeger da, der mit rotem Gesicht bei mir in der Küche einschlug und stotterte, ich dürfe doch nicht Sprengstoffsäckeweise hinter den beiden Heizöfen lagern. Ich tröstete ihn und erklärte, was ich da mit den Merkerser Sprengstoffsäcken so anstellte. Nach zwei Monaten, im Oktober, war die Pilzbrut, das Myzel, durch das Stroh gewachsen, und ich konnte die Kunststoffhaut entfernen und die Strohballen in eine schattige Ecke stellen. Kurz vor Weihnachten ging es los. Die Austernseitlinge wuchsen kiloweise aus dem Stroh. Jeden Tag konnte ich ernten, und wir hatten erstmals bis Ende Januar Pilze, Pilze, bis wir das Zeug nicht mehr sehen, geschweige denn essen konnten. Den Rest nahm mir ein Kneiper in Oberhof für 200 Mark ab, und ich sinnierte, wie ich die Pilzernte im nächsten Jahr erhöhen konnte. Theas Methode war hier die Lösung. Die Pilzbrut aus meinen Strohballen stopfte ich im kommenden Sommerausklang in riesengroße alte vergammelte Strohmieten, welche damals hunderteweise in Thüringen und der Rhön auf den Feldern der LPGs, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, herumstanden. Mit meinem Skoda schlich ich durch die Gegend, oft mit einigen Kilo Pilzbrut im Kofferraum. Immer an der abgewandten Seite zur Straße der Strohmieten impfte ich sorgfältig, und wenn eine kranke Buche in der Nähe stand, bekam sie auch ein wenig Pilzbrut ab.Um Weihnachten herum musste ich krank feiern oder Urlaub nehmen, um mit der Pilzernte hinterherzukommen. Es war der blanke Wahnsinn, was ich da mit meiner Pilzimpfmethode angerichtet hatte. Tagelang verstaute ich Austernseitlinge in den kleinen Kofferraum des Skodas und auf die Rücksitze. Mit meiner Ernte klapperte ich Kneipen und Restaurants in der Meininger, Suhler, Gothaaer und Oberhofer Gegend ab. Ab und zu waren meine Strohmieten zwar geplündert, aber da ich so viele beimpft hatte, war dieser Schwund erträglich. Im darauf folgenden Jahr war die Ernte praktisch null. Es klappte nicht mehr. Entweder das Wetter hat nicht mitgespielt, oder die Pilzbrut war krank. Meine „Pilzkunden“ riefen oft an, nur ich konnte nicht mehr liefern. Meine illegale Pilzfarm war eingegangen. Zwei Jahre später habe ich es noch einmal versucht, es klappte nicht mehr. Lediglich im Rathenaupark auf Buchenbaumstümpfen wachsen heute noch manchmal ein paar Austernseitlinge im Spätherbst. Kaum jemand kennt diese Pilze und denkt, die wären giftig. Ich bin nicht mehr dort und überlasse die Ernte den Käfern und Ameisen.
In den Ereignissen dieser bisherigen Pilzgeschichte erzählte Tante Hilde aus dem Westen von Trüffelhunden und Trüffelschweinen aus dem Périgord, wo sie mit dem VW Käfer hingekutscht sind, weil ich erzählte, Dackel Oskar hat im Garten alle Nelkenschwindlinge ausgebuddelt und nicht mal aufgefressen. So Herbst 1984 fing ich an, Oskar an eine lange Leine zu binden und ihm Hallimasch und lilastielige Rötelritterlinge zum „Anduften“ zu geben. In einem Buch von Bernd Krewer war nachzulesen, wie man Schweißarbeit macht. Es war simpel. Pilze schnuppern lassen, dann loslaufen, erst mal zu bekannten Stellen und belohnen. Es klappte aber fast nur mit den erwähnten Ritterlingen und Hallimasch. Mit Steinpilzen, Pfifferlingen und Austernseitlingen klappte es nicht. Trotzdem habe ich wie mit einer Fuhre Pressluft vor Freunden angegeben. Ossi und einen Freund in den Skoda geladen, die lange Leine geschnappt, Jägerhut mit Gemsbart aus dem Westen aufgesetzt und im Oktober über Langenfeld hoch zur „Abspann“ gefahren. Manchmal hat Ossi nix gefunden, manchmal war in einer halben Stunde ein dicker Korb voll und die vielen Pilze wurden überbrüht und eingekocht. Wenn dann Gäste da waren und wir Pilze servierten, konnte ein weiteres Mal angegeben werden! Inzwischen nennt sich die Methode von Thea „Guerilla Gardening“, was ich hier in Berlin auch ein wenig mit Pfefferminz noch ziemlich erfolglos betreibe. Irgendwelche Viecher fressen mir meinen wild ausgepflanzten Pfefferminz regelmäßig ab!

Kapitel 9: Wachhund für Maibockkäufer!

Radeberger Pils gab es ja mal ab und an in den Achtziger Jahren im Treppenkonsum in Bad Salzungen für 67 Pfennig für die 0,33 l Flasche. Eine halbe Liter Flasche kostete im Konsum damals 1,08 DDR-Mark. Im Delikat kam man auf die Idee, 0,5 Liter „Delikat Bier“ für 1,90 Mark zu verkaufen. Anfangs kam das Bier wirklich aus Radeberg. Dann hatte ein Genosse eine pfiffige Idee. Man könnte das Bier aus der Klosterbrauerei dort verkaufen. Nur, Pilsner ging da wohl nicht. Die nächste Pilsbrauerei war in Meiningen. Da gab es das Pilsner für 0,92 DDR-Mark der halbe Liter. Also wurde dazu noch eine Mark addiert und das ehemalige „Rennsteig-Pils“ wanderte für 1,90 DDR-Mark als „DELIKAT BIER“ in den DELIKAT LADEN.

Bei dieser Gelegenheit passierte aber folgendes. Meinigen hatte noch das „HELL BOCK“ - Starkbier, für 1,08 M/pro halber Liter. Geliefert wurde mit eigenem W50-Laster aus Meiningen. Die Pils-Plärre in den Delikat und Rennsteig-Bock in den Konsum. Mein Schwager Fritz Trübenbach, der Lagerleiter im Treppenkonsum war, rief mich an, wenn Ende Mai an einem Freitagnachmittag der Bockbiersegen in Bad Salzungen einschlug. Einen alten Skoda S100 hatte ich damals, wo vorne gerade mal zwei Kisten 0,33 Bier reinpassten. Aus dem Westen hatte ich eine Klappschubkarre, wo die Kästen gerade so drauf passten. Das Auto habe ich damals nie abgeschlossen, wenn ich zu Fritz Bier holen ging. Im Auto lag auf dem Rücksitz Oskar von Viernau. Der passte auf. Der ABV (Abschnittsbevollmächtigte) von der Kurhausstraße kontrollierte damals, ob auf dem Kirchplatz alle Autos ordentlich abgeschlossen waren. Mein Skoda nicht, weil ich ja Oskar dabei hatte. Also öffnete der ABV die Fahrertür und griff in Richtung Zündschloss, ob da noch ein Schlüssel befindlich wäre. Er kam nicht mal in die Nähe, weil Oskar vom Rücksitz mit einem Sprung sich im ABV-Arm energisch verbissen hatte. Der dicke Uniformstoff war eigentlich die Rettung, wenn da nicht um das Auto herum Passanten gewesen wären, die diese Aktion über dem ABV recht lästerlich kommentierten: „Was steckst du auch deinen komischen Polizistenkopf in anderer Leute Auto! Das geschieht dir recht!“ Das Ende war, dass ich dem ABV drei Flaschen Meininger Bock spendierte. Seitdem wusste der ABV von der Kurhausstraße, dass es jedes Jahr zwischen dem 3. Mai und 3. Juni der 80er Jahre im Salzunger Konsum MAIBOCK vom Feinsten gab! Am 1. Juli 1990 wurden alle Konten von DDR- auf D-Mark umgestellt. Das war auch das Ende der alten Preise und die Aktion mit dem Meininger Bockbier! Ab da gab es die Plärre aus Oberfranken und Oskar war da schon eine Weile im Dackelhimmel.

 

Kapitel 10: Bockwurscht bei „Luthersch Hein“

Die Kleinstadt Bad Salzungen war noch in den 80er Jahren vollgepflastert mit Kneipen, Restaurants und Ausflugsgaststätten. Der Hang im Norden der Stadt gehört zum Thüringer Wald und war mal ein Weinberg. Zu Zeit des Biedermeier hat die Reblaus alle Weinstöcke aufgefressen und ehemalige Straußwirtschaften mutierten zu Glas-Bier-Geschäften. So wie hier am Sportplatz am Haad um 1981 im Winter mit Dackel „Ossi“. Auf „Ossi“ hörte er zwar auch nicht aufs Wort, aber manchmal hörte er. Wenn Hundescheiße in seiner kurzbeinigen Reichweite war, hörte er nie! Ossi hatte eine schreckliche Eigenart – er wälzte sich in jedem Hundescheißehaufen, den er unterwegs fand. Hier ist ein höchst seltenes historisches Ereignis abgelichtet, wo er mal ohne Hundeleine dabei war. Das war Absicht – weil wir hoch zu Luthersch Hein wollten, wegen der dicken heißen Bockwürschte und der fetten Fleischbrühe. Als wir die Bockwürschte mampften und die Fleischbrühe löffelten, setzten sich weitere Gäste an einen Nebentisch. Eine Frau sprach dann zu ihrem Mann: „Hier stinkt es nach Scheiße, oder hier hat einer einen „Mörderlichen gelassen!“ Ossi saß optimal stinkend unter unserem Tisch und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte wohl vor kurzem einen Haufen erwischt!

 

Kapitel 11: Tröpfchen?

Ich sitze grübelnd mit mir allein am Abend im Büro meiner kürzlich gegründeten Einmann-Designagentur „rhebsdesign“ in der kleinen Stadt und sinniere über den vergangenen Tag. Was hat er gebracht? Nix hat er gebracht. Ich bekam einen Auftrag für 1000 Visitenkarten aus Unterbreizbach, wozu ich eine halbe Stunde mit dem Kunden palavern musste, eine geschlagene Stunde hab ich am Atari mit dem DTP-Programm Calamus verbracht, damit die Visitenkarten so toll werden, dass ich von dem Kunden späterhin auch mal fettere Aufträge bekomme. Fünfundzwanzig Kilometer bin ich deswegen in die Druckerei gefahren. Da waren wieder drei Stunden weg. Zwei Stunden Fahrt durch die Rhön und eine Stunde Quatschen mit dem Drucker über die schlechten Geschäfte. Am späten Nachmittag eine Präsentation für ein Hackfleischdosenetikett mit nochmals drei Stunden Zeitverschwendung in einem Dorf bei Meiningen. Mein Etikett hat dem Fleischer nicht gefallen, hat er gesagt. Nicht gesagt hat er mir, dass ich ihm zu teuer bin und seine Tochter nun die Etiketten selber am Computer entwirft. Alles in allem war dieser Tag für die Katz. Ich werfe mir eine grüne Jacke über, rufe meinen Dackel Oskar, der unter dem Fernseher pennt, und laufe den halben Kilometer zur Gaststätte am Schwimmbad. „Ein Bier, ein Korn“, sage ich zur Elli, und Elli sagt, „...es gibt jetzt wieder Rhöntropfen“. Rhöntropfen war ein süßer Kräuterlikör aus Meiningen. Der war zu DDR-Zeit Bückware. Nach der Wende dauerte es ganze drei Jahre, bis die Rhöntröpfchen wieder in dieser Kneipe den angestammten Platz im Schnapsregal fanden„ Gut“, sage ich, „trinke ich auch noch einen Rhöntropfen“. Elli meint, „...die Rhöntropfen werden jetzt wieder ganz dolle getrunken“. Ich nicke und sehe, in der Flasche steht der Flüssigkeitsstand noch hoch über dem Etikett. Denke, ich bin der Zweite, der diesen Rhöntropfen aus dieser Flasche kostet. Der Koster oder wie es heute heißt, die Kosterin vor mir, war Elli. Oskar wedelt freundlich mit dem Schwanz, als ich die Rhöntröpfchen schlürfe. Oskar freut sich, wenn ich ihn mit in die Kneipe nehme. Elli kommt sicher gleich mit Essensresten oder Keksen aus der Küche. Das weiß der Oskar schon. Der zieht immer an der Leine, wenn es Richtung Kneipe geht. Seine Wege lohnen sich für ihn, immer gibt es irgendwo was. Einen Wurstzipfel, Kekse, ein paar Nudeln mit Soße. Mir selbst brachte der heutige Tag rein gar nichts Vergleichbares, um vor Freude mit dem Schwanz zu wedeln. Keine Wurstzipfel, keine Kekse, keine Nudeln mit Soße. Die hab ich mir heute nicht verdient. Dieser Tag war, wie viele hier in der Kleinstadt, ein Tag mit einem Minuszeichen am Ende, ein Minus-Tag: Strom, Sprit, Zeit, alles für die Katz. Eigentlich kann ich mir das Bier und die zwei Schnäpse gar nicht leisten. Und die Zigaretten, die ich nachher aus dem Automaten ziehe, schon gar nicht. Elli kommt mit Wurstzipfel, Keksen und ein paar Nudeln mit Soße. „Hallo“, sage ich, „gleich alles und so viel auf einmal? Was ist los heute, warum bist du so spendabel?“ „Der arme Hund“, sagt Elli, „der kommt doch kaum raus bei dir! Immer hängst du im Büro herum oder bei deinen komischen Kunden! Komm doch wieder mal bei mir vorbei“, sagt Elli und schmollt mit dem Mund. Dabei krault sie den Oskar, der die guten Gaben blitzschnell runtergeschlungen hat. Oskar legt sich sogar unterwürfig auf den Rücken und lässt sich den Bauch kraulen. „Guck doch mal“, sagt die schwarzhaarige Elli, „wie lieb der ist“. Ich denke an mein Spritstand im Tank und rechne mir aus, falls ich zu Elli fahre, würde ich damit nicht wieder nach Hause kommen. Kein Geld für eine neue Tankfüllung, auch muss ich ja das Bier, den Schnaps und die Zigaretten noch bezahlen. Ich knalle das Geld auf den Tresen, da der Wirt schon arglistig schaut. Normalerweise habe ich bei Elli unrückzahlbaren Kredit. Elli bescheißt ihn ein bisschen bei der Abrechnung meinetwegen. Die Elli mag mich. Ich mag sie auch.
Aber weil Elli zu viele wie mich mag, mag ich die Elli nicht gar zu sehr. Ich hätte die Elli eben nicht alleine. Und wer will das schon. Oskar würde das sicher nichts ausmachen, aber ich habe da eben meine Probleme. Ich sage zu Elli: „Kannst ja mal bei mir vorbeikommen, wenn ihr hier dicht macht“. Zwei Stunden später steht Elli frisch gekämmt in meinem Büro, wo ich zu später Stunde noch Entwürfe für die folgenden Tage mache, für ebenso windige Kunden wie die heutigen. „Du arbeitest noch?“ fragt Elli, „du musst doch steinreich sein bei dem, was du so arbeitest. Immer, wenn ich nach Hause zum Bahnhof gehe, brennt bei dir im Büro oder in der Schmuckwerkstatt noch Licht. Und das ist immer weit nach Mitternacht.“

Ich nehme Elli an der Hand und gehe durch eine Schiebetür in mein Wohnzimmer, das seit einem Jahr mein Beratungsraum für Kunden ist. In einem Alkoven steht eine gut gepolsterte Liegewiese. Ich bugsiere Elli zu der Liegewiese und Elli holt dabei aus einer Plastiktüte eine angefangene Flasche Rhöntropfen. Wir packen uns auf dieses praktische Möbelstück, qualmen ein paar Zigaretten, trinken Rhöntropfen aus der Flasche und quatschen und lieben uns. Ich gebe der Elli meine Tropfen und Elli gibt mir ihre Tropfen. Sie gibt mehr, als ich ihr geben kann. Dabei zappelt sie schön und heftig, verwuschelt ihre glänzenden schwarzen Haare und sieht mich hungrig zwischendurch mit ihren dunklen Augen an, wenn es ihr kommt. Dabei kreischt sie sehr laut und nebenan im Büro heult der Oskar, der wahrscheinlich an Kekse und Nudeln mit Soße denkt. Als wir so fertig sind, hole ich Oskar mit auf die Liegewiese und Oskar freut sich mehr als ich. „Der ist ja allerliebst“, sagt Elli, „den könnte ich jeden Tag knuddeln“. Das kaufe ich ihr unbesehen ab, denke ich. Mit dem Hund könnte sie das – aber nicht mit mir. Elli hat noch mit Ende Dreißig so fast um die „90-60-90“ und ist nun mal ein Magnet für Männer im Umkreis von zwanzig Kilometern. Wer die sieht, will die haben und Elli kann bei vielen nicht nein sagen. Schade, denke ich, was soll ich damit.
Inzwischen ist die Flasche Rhöntropfen zu Dreiviertel leer und wir beide sind mittelprächtig angeheitert von dem süß-herben Magenbitter. Ehe wir fix und matt einschlafen wollen, huscht Elli noch einmal ins Bad, Tröpfchen abwischen und verschmiertes Make-up entfernen. Ich stöbere ein wenig in der Tageszeitung herum und entdecke einen klitzekleinen Artikel, wo geschrieben steht, dass die Stadt Produkte für das Stadtmarketing sucht. In meiner Stadt gibt es kein einziges typisches Andenken außer Postkarten, irgendeinen kleinen Schnickschnack für Touristen, Badegäste und für die Bürger, zum Mitnehmen und Verschenken. Und da kommt mir in diesem Moment die Idee: Man bräuchte was mit Salz. Heißt doch Salzungen, diese Stadt – nur die Sole, die für Bäder und Inhalationen genommen wird, kann man nicht als Andenken in Flaschen abfüllen, das wäre zu profan. Ich sehe auf die fast leere Schnapsflasche mit den Rhöntropfen und habe damit schon die Idee in mir konkret geboren: Ein Magenbitter mit Salz. Das ist es! Das braucht man! Das mache ich! Morgen – ach nein, heute schon. Als Elli halbtot und äußerst müde aus dem Bad kommt, bin ich hellwach. Jetzt kommt Elli nicht zum Einschlafen. Begeistert erzähle ich ihr meine kreative Idee, wäge dies und das ab und bekomme mit meinem Gequatsche und Gefummel die Elli wieder munter zu einem weiteren Tröpfchentausch. Elli gehört ja zu dem Typ von Frauen, die nichts abschlagen können, und so bricht der neue Tag an, den der Oskar vor der Liegewiese mit wedelndem Schwanz bewacht. Was der Oskar kann, kann ich schon nicht mehr und schlafe endlich ein.

 

Kapitel 12: Katzenwolf oder wie mal ein Kölner Dom in Bad Salzungen war!

„Schau dir doch mal diese Plautze von Oskar an! Der hat sicher Blähungen, obwohl er kaum was frisst“, meinte mal meine Frau Trude. Tagelang ging Oskar kaum an das „Goldi“ aus dem Glas oder an die Hundetrockennahrung „Bello“. Manche Tierhalter, wie wir auch, praktizierten damals das sogenannte „Barfen“. Man holte Fleischreste wie den Vormagen der Kühe, den Pansen vom Metzger und Schlachthof oder nutzte Küchenabfälle. Im Vergleich zu den unzähligen heutigen Fertigfuttersorten erscheint diese einfache, natürlichere Ernährungsweise rückblickend nicht immer gesünder und unkomplizierter. Irgendwann meldete sich der Nachbar Artur Wolf mit der erschrecklichen Information, Oskar klaut seinen Katzen das Futter. Das war manchmal praktisch, weil Katzenwolf bei trockenem Wetter die Katzen in vielen Schüsselchen im Garten mit feinstem Rinderhackfleisch versorgte. Katzenwolf war in mehrerer Hinsicht ein „Original“. Vielen Salzungern war Artur unbekannt, weil er allein, sehr zurückgezogen und finanziell gut abgesichert unauffällig lebte. Beschäftigt war er, als er noch berufstätig war, bei der Deutschen Reichsbahn. Anfangs der Fünfziger Jahre als Telegraf. Ein Telegraph bei der Deutschen Reichsbahn hatte die Aufgabe, Informationen über den Betrieb der Eisenbahn zu übermitteln. Dazu gehörten beispielsweise Informationen über den Fahrplan, Verspätungen, Zugbewegungen und Unfälle. Der Telegraph war verantwortlich für die Übermittlung dieser Informationen an andere Bahnhöfe und Zentralen entlang der Werratal-Strecke, damit der Betrieb reibungslos ablaufen konnte. Der Beruf des Telegraphen wurde jedoch im Laufe der Zeit durch die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung im Bereich der Eisenbahn überflüssig und ist heute nicht mehr existent. Die Berufsbezeichnung Telegraph kam noch von der Kommunikation per Morsealphabet aus den Anfangszeiten der Werratalbahn.

Heute würde man Artur wahrscheinlich den Sonderlingen zuordnen und sonderlich war er schon einmal durch seine tiefe Gläubigkeit, die er anders auslebte als ganz normale Christen. Fast jedes kirchliche Fest wurde von Artur Wolf vorgefeiert, gefeiert und nachgefeiert. Er konnte von seinem lieben Gott einfach nicht genug bekommen. Obwohl er in der katholischen Gemeinde zu den eifrigen Besuchern der Gottesdienste zählte, reichte ihm das nicht, um seinen Glauben auszuüben, und er baute sich an sein kleines Häuschen in der oberen damaligen Richard-Eyermann-Straße eine kleine Kapelle an. Diese klitzekleine 5x5 Meter Kapelle war komplett wie eine katholische Kirche ausgestattet. Sie hatte einen klitzekleinen Kirchturm mit Glocke, einen Hauptaltar und mehrere Nebenaltare. In der Ecke des ca. 25 Quadratmeter großen Raumes war eine Kanzel angebracht und unterhalb der Kanzel befand sich ein Beichtstuhl. Jeder Quadratzentimeter der Wände war mit Heiligenbildern, Wandkandelabern und Wandteppichen prunkvoll dekoriert. Neben einem Harmonium, auf dem ein riesiges altes Radio stand, auf einem Podest ein ca. zwei Meter hoher geschnitzter Modellbau des Kölner Doms aus feinstem Lindenholz. Die Schnitzereien waren außerordentlich filigran und wenn er ein Seitenschiff zur Seite klappte, konnte man mit einem umgebauten Theaterglas in das Kirchenschiff hineinsehen, wo sich ebenfalls sämtliche Altare und Sitzbänke wie im Original befanden. Die Heiligenbilder waren zum Teil beschnittene Briefmarken und kleine Taschenlampenbirnchen beleuchteten die ganze Pracht. Alles funktionierte. Die Kirchturmuhr, das Glockengeläut und die Orgel. Die Glocken und die Orgel spielten mit einem einfachen Trick. Das Vorkriegsradio hatte einen der ersten elektrischen Schallplattentonabnehmer und war mit dem ganzen Haus verkabelt. So hatte eben der Kölner Dom auch einen Lautsprecher, und es war für Artur Wolf keine Kunst, den Papst über Radio Vatikan oder über eine Schallplatte in seinem Kölner Dom predigen zu lassen. Wenn Artur mal ganz gute Laune hatte (Kinder konnte er ansonsten außer mir nicht leiden), machte er mit den Kindern der Nachbarschaft eine Multimediashow zu Zeiten, wo man das Wort Multimedia noch nicht kannte. Zuerst hielt er uns von der Kanzel im vollem Talar eine Strafpredigt, wen wir alles nicht ärgern sollten. Dann machte er das Licht in seiner Kapelle aus und der Kölner Dom begann zu läuten. Danach öffnete er den Dom, zündete einen klitzekleinen Weihrauchbehälter an und die Orgel begann zu spielen. Ein alter Schmalfilmprojektor ratterte los und der Papst zelebrierte in vollem Ornat eine Messe. Der Projektor stand vor dem Hauptportal und vor dem Hauptaltar spannte er einen Bogen Papier auf, auf den das Kinogeschehen projiziert wurde. War die Vorstellung beendet, wurde er unfreundlich und jagte uns vom Hof.
Mir fiel Katzenwolf auf, wegen seines unheimlichen technischen Wissens, seinen technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie seiner Liebe für historische Malerei und viele Antiquitäten. Er hatte dicke Bildbände mit Ansichten zur christlichen Ikonografie, die er mir zum Durchblättern gab. Ich hatte ganz gute Karten bei ihm, weil ich Ministrant in der katholischen Kirche war und weil in unserer Wohnung Bilder von El Greco hingen. El Greco hing bei ihm auch als mehrfache Kopie an der Wand. Dass ich absolut nicht an Gott glaubte und nur wegen meiner Mutter Ministrant wurde, verriet ich ihm nie! Der Grund war nicht philosophisch, in der St. Andreas Kirche war es Mitte der 50er Jahre eiskalt! Artur Wolf war ein großer Tierliebhaber und da war er ebenfalls extrem. So 10 Katzen hatte er ständig, manchmal waren es auch 30 oder mehr. Wenn er vor seiner Kapelle im Sommer saß und Kaffee aus einer vergoldeten Barock-Tasse aus Meißen schlürfte, welchen er grundsätzlich selber röstete. Die Katzen hatten seltsame Namen. Da gab es Albert Einstein, den dürren Konrad Adenauer, Churchill, den fetten Hermann Göring, Kaiser Wilhelm, Goethe, Schiller, Marlene Dietrich, es gab aber auch Heinerle und Mutzi und Schnupsi. Nonames gab es bei Katzenwolf nicht. Nur duftlos war es bei Artur nie! Es hat mörderisch gestunken!

Die Katholische Kirche in Bad Salzungen feiert einmal im Jahr „Fronleichnam“, welches mein protestantischer Vater immer in „Merry skeleton“ oder so ähnlich übersetzte und meine katholische Mutter dazu „fuchsteufelwild“ wurde. Aber das Fronleichnamsfest ist ein Hochfest im Kirchenjahr der katholischen Kirchen, mit dem die bleibende Gegenwart Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird. Dazu wurde immer eine Prozession durch den Rathenaupark organisiert. Unterwegs wurden mehrere Altäre aufgebaut, an dem ein extralauter Posaunenchor blies, dazu wurde abwechselnd lautstark oder leise gesungen und gebetet. Ein Altar von Katzenwolf stand an der Kurve zur Schanzbaum, wozu es innerhalb der katholischen Gemeinde ein paar Problemchen gab, denn der Altar war prächtiger als alle anderen. Mit vergoldeten Kandelabern, dicken Kerzen, einem geschnitzten mehrflügeligen Gemäldealtar, ähnlich dem Agilolphusaltar. Dazu riesige Vasen mit fulminanten Blumensträußen, und, und, und. Man meinte dann: „Diese schwule Sau hat den größten und schönsten Altar - das ist einfach impertinent!“. Ich erlebte hier als kleiner Junge schon sehr frühzeitig Bigotterie vom Feinsten, als ich zu Hause im Fremdwörterbuch nachblätterte, was Impertinenz eigentlich bedeutet! In Katzenwolfs von riesigen Akazien umsäumten Garten konnte man vor lauter Grünzeug kaum treten. Lulatsch-lange Bohnengerüste mit dicken komischen unbekannten Bohnen und riesige Kürbisse waren das Ergebnis des Düngens mit Hühnerkot und Katzenscheiße. Wenn meine Mutter mal keine Zwiebeln mehr hatte, musste ich bei Katzenwolf welche holen. Ich konnte in jeder Hand gerade mal je eine Zwiebel halten, für mehr war kein Platz. In seinem Garten duldete er aber niemanden, weil die Leute in seinen Augen alles Trottel wären und in seiner Pfefferminze herumtrampelten und Majoran für Unkraut hielten. Ein weiteres Faszinosum war, dass Artur mit einem Fahrrad „Dürrkopp kettenlos“ in den ersten von mir gesehenen blauen West-Niet-Hosen herumfuhr, welches keine Kette hatte. Artur hatte ein Fahrrad mit Kardanwelle und der Schlossermeister Rauscher raufte sich die Haare, weil er die gebrochene Kardanwelle reparieren musste. Schlosser Zwenger an der Bauerfelkreuzung hat dann irgendwann ein LKW-Ventil umgeschmiedet, bei der Firma Erbe wurden die Zahnradritzel dran gefräst, welches nun endlich hielt. Also feinste Werkstätten-Koordination gab es in den 50ern in Bad Salzungen einfach nur perfekt! Aber in den fünfziger Jahren war Homosexualität in einer Kleinstadt wie Bad Salzungen ein absolutes Tabuthema und ich bekam von meinem Großvater einmal ein paar hinter die Ohren, als ich ihm erzählte, dass der „Kirchopa“, so nannte ich Katzenwolf, in einem langen Kleid und einer großen Kittelschürze in seinem Garten herumsaust, Männerbesuche auf den Mund küsst und ein entlaufenes Huhn einfangen wollte. Ich sollte da nicht hin, denn der „Spinner“ wäre ihm nicht geheuer. Mein Vater dagegen lachte und sagte, es gäbe halt Männer, welche Frauen nicht leiden können und deswegen jede Frauenarbeit selber machen. So wurde man in den 50ern über Homosexualität aufgeklärt! Deswegen hätte er auch bei unserer Mutter ein wenig ungarisch kochen gelernt und züchtete in seinem Garten dicke fette Maiskolben, Melonen und Paprika, weswegen wir rechtzeitig auch die Paprika-Pflänzlinge und bunten Mais für die Aussaat hatten. Aus allen Ecken Deutschlands kamen ab und zu im Jahr seine „lieben Freunde“, um besonders an Fronleichnam seine Suppen oder Braten zu kosten, denn er war auch als Koch nicht unbekannt in seinen Kreisen. Ich fand es eben nur putzig, wenn er mit hoher Fistelstimme Hermann, Albert, Schnupsi und Marlene zum Abendessen rief. Mitte der 80er Jahre verstarb plötzlich Artur Wolf. Ein Konditormeister hatte Grundstück, Haus und Kirche gekauft. Als ich mal neugierigerweise bei ihm meine Aufwartung machte, war er nicht sehr nett zu mir. Der Grund war simpel. Seine vorzüglichen „Baisers“! (Baiser ist ein Schaumgebäck aus Eischnee und Zucker, das er oft zum Abkühlen in ein Fenster der Konditorei stellte). Ich machte einen langen Arm und erwischte nach der Schule manchmal ein bis fünf Stück. Ohne Bezahlung natürlich.
Die Katzen von Artur Wolf waren in alle Winde zerstreut – trotzdem schlüpfte Oskar aus alter Gewohnheit durch den Zaun. Da hat irgendwann unser Dackel Oskar einen „mittelschweren“ Rinderbraten bei ihm „abgeholt“, als der zum Ausdampfen auf einem Mäuerchen lag. Fakt war auch, dass der Kölner Dom und das komplette Kircheninterieur in einem Sperrmüllcontainer verschwanden. Eventuell steht der „Kölner Dom“ noch irgendwo in Bad Salzungen auf einem Dachboden! Mehrere Interessen brachte mir die Begegnung mit „Katzenwolf“, die es in meiner Familie weniger gab: Interesse für bildende Kunst, Antiquitäten, Kunst- und Kulturgeschichte. Ein seltsames zerfleddertes Buch habe ich heute noch von ihm in meinem Besitz: Dr. Schürer-Waldheim: CHEMISCH-TECHNISCHES REZEPT_TASCHENBUCH, A.HARTLEBEN`S VERLAG Wien und Leipzig, 1921. Ein abgegriffenes Lesezeichen gab es zum Abschnitt: Liköre!

 

Kapitel 13: Wildente Kagar und komische Schrippen zum Frühstück


Hatte Bad Salzungen eine Kolonie? Ja! Zu DDR-Zeiten, Anfang der 80er Jahre! Es war eine Ferienkolonie, der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung der Kreisverwaltung Bad Salzungen in Flecken Zechlin/Kagar bei Rheinsberg. Sicher erinnern sich jetzt ältere Lehrer, Erzieher, Angestellte der Volksbildung an einen Urlaub in Kagar. Ich war mehrfach mit Familie und Dackel Oskar dort und einmal aus Nostalgie-Gründen auch. Es hat sich viel verändert. Schicke Hotels sind dort entstanden, Marinas, Campingplätze und wilde komische Bungalowsiedlungen, genauso wie zu DDR-Zeiten. Einiges wurde Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre ohne Baugenehmigung dort fix und unkompliziert hochgezogen. Ich war auch wegen „Lost-Places-Fotos“ dort … aber auch wegen meiner alten Geschichten. Egal, wann und wo ich mal Enten in meinem Leben gegessen habe, so erinnere ich mich immer wieder an ein Entenbruzzel-Ereignis an einem See in Brandenburg vor vielen, vielen Jahren. Anfang der Achtziger in der DDR. Im Sommer war es. Anfang Juli im Konsum neben dem Ferienobjekt der Gewerkschaftsorganisation Unterricht und Erziehung des Kreises Bad Salzungen im Bezirk Suhl aus Thüringen eine lebendige Ente zu ergattern, war so sinnlos wie der sinnlose Wunsch nach Bananen. Es gab keine Enten, es gab keine Bananen zu dieser Zeit in der DDR. Im Sommer fast nie! Manchmal gab es sowas um die Weihnachtszeit. Enten manchmal ausreichend, Bananen aber kaum! Die Lösung, Enten im Sommer zu besorgen, brachte das Vorbild einer kleinkriminellen Wildereraktion der Fischer oder Angler für den eventuellen plötzlichen Wunsch und Bedarf nach gebratener Ente. Man warf ein paar Schrippenbröckchen vor im Wasser plätschernde Enten und dann ein altes Netz über ein – zwei Enten. Ich hatte das einem Angler am großen Zechliner See einige Tage vorher abgeschaut. Die Methode, die Ente vom Leben zum Tode zu bringen, brachte mir meine ungarische Großmutter aus Szombathely Ende der Sechziger beim Schlachten von Hähnchen für den Sonntagsbraten bei. Man wirbelte die Ente am Kopf angefasst mittels Armkreisen heftig drei bis vier Mal durch die Luft. Dann klemmte man sich die plötzlich verendete oder ohnmächtige Ente zwischen die Knie. Der Hals der Ente wurde nach oben gebogen und mit einem scharfen Messer dreiviertel durchtrennt. Nachdem die Ente quasi geschächtet war und das Blut die Ente komplett verlassen hatte, begann der unangenehmere Teil dieser aus heutiger Sicht archaischen Schlachtzeremonie. Das Vieh musste ja noch gerupft werden. Das Rupfen startete ich hinter dem Bungalow des Nachbarn mit zwei bis drei Litern kochendem Wasser, das man über das Gefieder der Ente in einem alten Eimer goss. Es stank fürchterlich. Mit drei bis fünf Flaschen Bier und zwei, drei Doppelkorn vorher wurde die Nase schwach besänftigt. Meine Frau fragte: „Was willst du mit dem kochenden Wasser bei Nachbar Paul?“ „Das erklär ich dir später“, erwiderte ich leicht angesäuselt und ließ sie in der Hängematte vor dem Bungalow weiterschaukeln. Sie schaukelte weiter und meckerte: „Nehme dir ein Beispiel an Paul, der hat heute am frühen Morgen schon frische knackige Schrippen mit dem Paddelboot drei Kilometer über den See von der Bäckerei Janke aus Flecken Zechlin geholt – wir aber, unsere Familie muss mit den zähen Konsumbrötchen vorliebnehmen – und du trinkst dazu noch Bier am frühen Morgen! Du bist mit heute Frühstück dran! Sowas ist nun mein Urlaub!“ Pauls Frau nebenan hatte inzwischen die zwei von mir am Vortag abgemurksten Enten auf ihrem Elektrokocher in einem großen Topf weich gekocht. Das war notwendig, weil es im Bungalowdorf Kagar keinen Backherd für Entenbraten gab. Sie war mal Köchin und hatte eine andere praktische Lösung in petto. „Entenbröckchen im Bierteig!“. Die beiden Enten wurden klein geschnippelt, gewürzt und nach dem Schwenken im Bierteig in heißem Öl frittiert. Dazu gab es als „Sättigungsbeilage“ die schon erwähnten knusprigen Schrippen vom Bäcker Janke aus Flecken Zechlin. Ich holte meine Frau aus der Hängematte und meinen Sohn vom Spielplatz nebenan zu diesem opulenten Frühstück ab. „Es gibt Sommerente nebenan bei Paul! Die Schrippen sind von Paul erpaddelt, die Ente hab ich besorgt“, tönte ich lautstark. Stolz wie ein Spanier ließ ich meiner Frau gegenüber durchblicken, dass ich die Enten im Kagar-Konsum mit viel Beziehungen und Einfluss besorgt hätte. Selbst gewildert und selbst ermordet, hätte ich ihr damals nicht offenbaren können – sie hatte es nicht so mit der Kleinkriminalität. Alle mampften nun die frittierten Entenstückchen mit frischen Schrippen vom Bäcker Janke. Oskar futterte die Reste und zermalmte auch die Geflügelröhrenknochen zu Staub. Die Pointe dieser Geschichte hat aber kaum was mit den frischen Schrippen zu tun. Paul paddelte am frühen Morgen nie und nimmer nach Flecken Zechlin, Paul paddelte gerade mal dreihundert Meter. Dann verschwand er mit dem Paddelboot im Schilf rechts in Richtung Konsum des Kagar-Bungalowdorfes. Paul hatte seit zwei Jahren im Sommerurlaub ein vierzehntägiges Verhältnis mit der Verkäuferin aus dem Konsum, die ganz früh die Schrippen beim Bäcker Janke in Flecken Zechlin für ihn persönlich vor Ladenöffnung besorgte. In ihrem Laden gab es ansonsten nur die Konsumbrötchen der Großbäckerei aus Rheinsberg. Anettchen wohnte wenige Häuser neben dem Bäcker in Flecken Zechlin. Die Konsumverkäuferin war vorsichtshalber wegen Paul auf Ovosiston eingestellt. Ovosiston war die Antibabypille der DDR. Paul kam „total schweißgebadet“ von seiner „Paddeltour“ zum „Bäcker“ zurück – mit frischen Schrippen und der Gewissheit – Ovosiston schützt ihn, Alimente zahlen zu müssen. Schützt ihn genauso wie meine Verschwiegenheit wegen den Enten, die ich damals abmurkste. Sieben Jahre ist die Verjährungsfrist für Wilddieberei! Wie Paul die Schrippen erpaddelte, ist wohl nicht verjährt, wenn seine Frau das hier mal lesen sollte. Daraus entwickelte sich dann eine Tradition, als wir wieder zu Hause waren. Es gab eine in der Röhre gebratene Sommerente im Garten, wenn rundherum bei den Nachbarn am Wochenende gegrillt wurde. Die Ente wurde bei einem Bauern in dem Dorf Wildprechtroda vollkommen legal gerupft und ausgenommen besorgt.

Kapitel 14: Der Rammler!

Diese komische „Hunde“-Geschichte von einem Besamer aus Urnshausen erzählte mir eine inzwischen verstorbene Salzungerin (Petra L.) vor 2011. Irgendwann habe ich sie auch in einer ähnlichen Variante als Büttenrede gehört. Viel Spaß beim Lesen!

Heinz, der Besamer aus Urnshausen in der Thüringer Rhön, der die Trächtigkeit der Kühe schon vor dem Stall riechen kann, kommt an einem verregneten Sommerabenddonnerstag kurz vor der Tagesschau mit schmierigen Reifen nach Hause gefahren und fährt rückwärts auf sein Grundstück mit seinem schweren Jeep.
Heinz ist gedrungen, 1,65 m groß, hat breite und massige Schultern, jedoch nicht plump. Seine voll abgerundete Hinterpartie wackelt beim Laufen wie bei einer italienischen Diva auf dem roten Teppich. Sein Nacken ist kräftig und kurz; der Kopf ist ohne sichtbaren Hals dicht am Rumpf angesetzt. Fast wie bei seinem Hund Pluto. Er muss aufpassen beim Rückwärtsfahren. Sein großer Rottweiler-Rüde Pluto hat vor der Garage so etwas wie einen großen grauen Lappen in der Schnauze und schüttelt den Lappen wie irr hin und her in der Luft und durch den Dreck des unbefestigten Hofes. Heinz steigt aus, eilt ärgerlich zum Hund, der ihm beim Fahren in die Garage im Wege steht und entwindet dem Hund ein lebloses Tier mit großen Ohren aus seiner großen Schnauze. Heinz nimmt den Gartenschlauch von der Wand neben der Garage und spritzt das komische große Tier ab. Die Zeit wird knapp für Heinz, denn Heinz rammelt freitags nach der Tagesschau nach einem seit der Hochzeit festgelegten Ritual regelmäßig seine Frau, die regelmäßig dabei so schreit, dass es durch die Wände des alten Bauernhauses bis zum Nachbarn Hansi tönt, der stets zu diesen Lauten den Vorwurf seiner Frau vorgebrezelt bekommt: „Nehme dir ein Beispiel an deinem Nachbarn Heinz!“
Nachbar Hansi, der vier Söhne wie kräftige Orgelpfeifen hat, ist immer regelmäßig sauer darüber, denn Heinz, der gleichaltrige Besamer, hat keine Kinder, „nicht mal eine mickrige Tochter“, sagt regelmäßig der lange dürre schmallippige Hansi zum Kommentar seiner Frau. Hansi züchtet Deutsche Widder, wildfarben, seit mehr als 20 Jahren. Zur Zucht nimmt er nur Tiere mit einem Gewicht von über 6 kg. „Dies ist sehr wichtig, da die Tiere sonst durch die Linienzucht sehr schnell zu klein werden“, meint er. Seine preisgekrönten Deutschen Widder erreichen fast immer etwa 8 kg, manchmal zehn. Ärgerlich hat er kürzlich deshalb über den Hasenkäfig seines oft prämierten Spitzenrammlers mit großen Nägeln ein großes Schild mit der Aufschrift „Hasenheinz“ genagelt. Hasenheinz heißen in Thüringen oft die besten Rammler.
„Hasenheinz“, ist ein Deutscher Widder. Sein Körper ist gedrungen, breit und massig, jedoch nicht plump. Der Rumpf erscheint kurz und breitschultrig mit ausgeprägter, voll abgerundeter Hinterpartie. Die Zugehörigkeit zum Typ der großen Rassen kommt mehr durch die Rumpfbreite als durch die Länge zum Ausdruck. Der Nacken ist kräftig und kurz; der Kopf ist ohne sichtbaren Hals dicht am Rumpf angesetzt. Die Läufe sind verhältnismäßig kurz, sehr kräftig und werden gerade aufgesetzt. Der Körperbau seiner Häsinnen ist etwas feiner als beim Rammler, doch haben sie einen ebenso massigen Rumpf und eine gut geformte Wanne. Der Rücken verläuft ebenmäßig bis zur Blume in einer gleichmäßig abgerundeten Linie. Die Brustpartie ist gut ausgebildet und voll gerundet. Gut gewölbt erscheint die Rippenpartie. Die Hinterschenkel liegen fest am Körper an. Der Hals tritt nicht in Erscheinung. Die Blume ist geschmeidig; sie ist gerade, aufrecht und an den Hinterkörper angelegt. Der Körper der Hasen mit den überlangen Ohren ist frei vom Boden von kräftigen und geraden Läufen getragen. Die Schulterblätter liegen fest am Körper an und schieben sich bei der Bewegung nicht auf und ab. Die Hinterläufe stehen parallel zum Körper, die Schenkel sind fest angelegt. Das leblose Tier, das von seinem Pluto mit den großen Zähnen malträtiert wurde, ist „Hasenheinz“, der Rammler vom Nachbarn Hansi. Heinz ist furchtbar erschrocken über die Untat seines großen Hundes und steigt in der Nacht über den Zaun zu Nachbarn, nachdem er den Hasen mit dem Fön seiner Frau gründlich trocken gefönt hat. Er öffnet die Box und legt das leblose Tier auf das noch frische trockene Heu des Stalles und steckt dem Hasen eine sich noch dort befindliche Möhre in das Maul. Am nächsten Tag, am Freitagvormittag, scheint die Sonne wieder und Besamer Heinz sieht Hansi auf seinem Hof Zigaretten rauchend in hektische Selbstgespräche vertieft hin- und herlaufen. Mit einem begründetem schlechten Gewissen ruft er scheinheilig über den Zaun: „Hansi, bas ist da los bei deu?“ Hansi kommt zum Zaun und sagt ganz verzweifelt: „Gestern ist mein bester Rammler verreckt, ich habe ihn hinter dem Haus auf dem Acker vergraben. Na ja, fast elf Jahre war er, es war abzusehen, ich habe ihn nicht vorher schlachten können – es war mein bester Rammler! Vorhin will ich in seine Box einen jüngeren Rammler verlegen, da sitzt der alte tote Rammler wieder drin und frisst eine Möhre!“

© 18.05.2024 Richard Hebstreit 

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