Norbert Wallner

Weihnacht in Wien

Jessica hatte ihre Mutter schon seit fast einer Woche nicht mehr gesehen. Vielleicht lag es daran, dass Mum sehr wenig Zeit zu Hause verbrachte, aber das war keine Entschuldigung. Immerhin SIE kam zumindest täglich nach Hause, was man von ihrer Mutter nicht unbedingt behaupten konnte. Und wenn, dann war sie oft so betrunken, dass Jessica kein vernünftiges Wort mit ihr sprechen konnte. Das ging nun schon seit Jahren so, ja eigentlich seit der Trennung von ihrem Vater vor fünf Jahren. Elf war sie gewesen, und es war nie eine Frage, dass sie bei ihrer Mutter bleiben musste. Immerhin blieb ihnen die große Wohnung, vier Zimmer. Viel zu groß eigentlich. Ihr Vater zog zur Anderen in deren Zweizimmerwohnung. Vielleicht war das der Grund, warum sie nie bei ihrem Vater war. Anfangs hatte er sie noch regelmäßig abgeholt, da war sie auch hin und wieder mit ihm in seiner Wohnung, gemeinsam mit der Anderen. So einer kleinen, dünnen, blonden, unscheinbaren. Jessica hatte sie nie gemocht, obwohl de immer sehr freundlich zu ihr war, sich immer sehr für sie interessierte und versuchte, sich bei ihr anzubiedern. Ja, anbiedern, das war der richtige Ausdruck dafür, fand Jessica. Und sie hasste das. Es gab nichts, was sie ihr vorwerfen konnte, außer natürlich, dass sie ihr den Vater weggenommen hatte. Und dass Mutter deswegen zu trinken begonnen hatte. Und dass Mutter seit zirka zwei Jahren anfing, weg zu bleiben. Manchmal zwei, drei Tage. Nachmittags, wenn Jessica von der Schule zu Hause war, rief sie dann an, dass es spät geworden wäre. Mehr nicht. Keine Entschuldigung, keine Erklärung.
Und irgendwann dann kam eben Jessica auch nicht nach Hause. Sie hatte den Eindruck, dass es ihrer Mutter nicht einmal auffiel. Und wenn, war es ihr egal. Sie war ihrer Mutter überhaupt egal. So mit dreizehn, vierzehn hatte sie noch oft gestritten mit ihrer Mutter, das war ungefähr auch die Zeit, als sie ihr Vater nicht mehr abholte. Jedes Mal wenn ihre Mutter sagte, geh lass mich in Ruhe, war sie explodiert und hatte ihre Mutter angeschrieen, aber mit der Zeit gab es selbst dazu immer seltener Gelegenheit. Sie sahen einander auch nicht eben häufig. In der Früh, wenn Jessica das Haus verließ, schlief ihre Mutter noch, und Gott behüte sie versuchte sie zu wecken, weil sie irgendetwas von ihr brauchte. Geld zum Beispiel. Ja, Geld. Meist ging es um Geld. Unterschriften brauchte Jessica nicht mehr von ihrer Mutter, sie fand, ihr gelang die Unterschrift schon besser als der Mutter.

Mit fünfzehn war auch dieses Problem beseitigt, von da an bekam sie ja Geld vom Mike. Sie half bei Mike’s abends aus, den Job hatte ihr Bill vermittelt. War eines Tages bei ihr aufgetaucht und hatte gemeint, sie wäre doch immer knapp bei Kasse, ob sie nicht bei Mike’s aushelfen wolle, sie kenne ja den Mike. Ja, natürlich, mindestens zwei, drei Mal die Woche war sie ohnehin dort. Also sagte sie ja. Bill war an diesem Abend besonders zärtlich zu ihr, es war ihr nicht klar, ob das einen Zusammenhang hatte, und was eigentlich Mike von ihr erwartete.
Bill war überhaupt ein Sonderfall. Es war Jessica nicht klar, wie sie zu ihm stand. Nein, er war nicht ihr erster Mann. Er war auch nicht ihr einziger. Irgendwie mochte sie ihn, aber sie kam sich jedes Mal wie ein kleines Mädchen vor, wenn sie zusammen waren. Jedes Mal kam sie sich wie entjungfert vor. Bill war schon etwas älter. Vielleicht lag es daran. Er konnte sehr zärtlich sein. Meistens. Und sie genoss das Schlafen mit ihm. Sie hatte auch nichts dagegen, wenn er mal etwas schneller zur Sache kam, wenn er meinte, pah, ihm kämen die Hormone schon bei den Ohren raus. Ihm verzieh sie so etwas, sie konnten auch immer offen über alles reden. Und wenn sie ihm über ihre anderen Männerbekanntschaften erzählte, diskutierte er auch darüber sehr ernsthaft mit ihr. Nun gut, manchmal lächelte er vielleicht etwas spöttisch oder meinte, huch, jetzt hätte er aber auch wieder Lust bekommen. Dann kam sie sich zwar etwas schmutzig vor, aber die Gier aufeinander war dann doch stärker als kleinliche Bedenken. Zumindest war Bill schweigsam und redete unter Freunden oder im Chat nicht blöd herum. Und dafür war sie ihm sehr dankbar. Sie hatte ohnehin nicht den besten Ruf und galt als Vamp. Obwohl sie der Meinung war, dass sie nicht mehr Männer hatte als andere Mädchen ihres Alters. Jessica redete halt nicht von Liebe wie die anderen. Hieß ja nicht, dass sie nicht auch öfter so richtig verliebt war. Doch richtige Liebe empfand sie seit der Geschichte mit Hans nicht mehr. Das war das einzige Thema, worüber sie mit Bill nie gesprochen hatte. Mit niemandem hatte sie jemals darüber gesprochen. Nicht einmal mit Cosima. Aber das war lange her.
Jedenfalls ging sie tags darauf zu Mike.
„Ach, dich schickt Bill,“ meinte er. „Gut, hat er dir gesagt, was ich von dir will?“
Jessica dachte, in den Erdboden versinken zu müssen, Mike sah sie auf unverschämte Art und Weise an. Er war so etwas wie ein Traummann, zumindest was das Aussehen betraf. Sie traute sich nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Den besten Ruf hatte er ja nicht gerade, er war bekannt dafür, dass er so ziemlich jedes Mädchen schon mal hatte, es auch nicht gerade sehr genau nahm, in keiner Weise übrigens, es war ihm völlig egal, wie alt das Mädel war oder ob es einen Freund hatte. Er musste viele Feinde haben, schoss es Jessica durch den Kopf, als sie an diesem Tag vor ihm stand und so etwas wie Ekel empfand. Sie wusste, sie würde nicht widerstehen. Er sah ganz einfach zu gut aus, und ach, geizig war er auch nicht gerade, so viel sie gehört hatte. Sie bereute, dass sie sich etwas aufreizend angezogen hatte, nun ja, es war Sommer. Aber sie wollte nicht, dass es so aussah, als hätte sie es darauf angelegt.
Jedenfalls grinste Mike sehr breit und sehr lange.
„Du schaust so aus, als möchtest du vernascht werden.“
Als Jessica kurz aufblickte, sah sie gerade noch, wie er sich genießerisch mit der Zunge über seine Oberlippe fuhr. Sie zog es vor, ihren Blick wieder zu senken.
„Ich werd ganz geil, wenn ich dich anschau, Süße.“
Jessica war es zum Heulen zu Mute. Wenn Bill so etwas zu ihr sagte, musste sie üblicherweise lachen, doch bei Mike war es anders.
„OK.“
Seine Stimme klang auf einmal sehr offiziell.
„Ich werd dich nicht ficken. Nicht einmal angreifen. Ist das klar? Ich möchte, dass du mir bedienen hilfst. Du g’fallst mir und ich find dich lieb. Und ich könnt mir vorstellen, dass du bei den Gästen auch beliebt bist. Also würd ich’s gern mit dir probieren, wennst magst. Ich zahl gut und erwarte dafür absolute Ehrlichkeit. Wenn das passt, steh ich voll hinter dir, wenn dich einer gegen deinen Willen blöd anquatscht oder dir am Hintern greift, hau ich ihn persönlich durch die geschlossene Tür, klar? Meine Mitarbeiter sind für mich heilig.“
Er sagte doch tatsächlich Mitarbeiter, soweit sich Jessica erinnerte, arbeiteten ausschließlich Mädchen für ihn. Unwillkürlich musste sie grinsen. Offensichtlich fasste er ihr Grinsen falsch auf.
„Aber wennst mich bescheißt,“ fuhr er mit scharfer Stimme fort, „bist im Arsch, wennst verstehst, was ich meine!“
Ja, sie konnte sich recht gut vorstellen, was er meinte. Sie sagte nichts.
„Und?“
„Wann?“
„Was: wann?“
„Wann ich anfangen soll. Und wie viele Stunden.“
„Ach so, richtig,“ grinste er. „Wennst magst heute noch. Die Lisa ist mir ausgefallen. Schwarz bis am Ende des Monats. Die paar Tage halt. Inzwischen holst dir den Stempel am Gesundheitsamt. Fünfzehn bist ja schon, hat mir der Bill gesagt. Vorerst offiziell von sechs bis zehn. Wennst willst, jeden Tag. Außer Montag natürlich. 70 Schilling die Stunde plus 10% vom Umsatz, den du machst. Trinkgeld teilt’s euch auf. Also wennst anzahst, kommt ganz schön was zusammen.“
Jessica hatte keine Ahnung, wie viel da zusammen kommen sollte, aber es klang erst einmal nach Unabhängigkeit. Also sagte sie zu.
Das war jetzt eineinhalb Jahre her, mittlerweile arbeitete sie meist bis zur Sperrstunde. Und Mike hatte Recht, sie verdiente wirklich gut. Bill meinte manchmal, sie hätte mehr als er. Nun ja, das hielt sie für ein Gerücht. Aber immerhin. Sie brauchte nichts mehr von ihrer Mutter, die Wohnung hatte sie meist allein für sich und ihre Freunde. Ihre Mutter kam entweder vor sechs nach Hause oder sie war den Rest der Nacht nicht zu erwarten. In der Schule kam Jessica so halbwegs mit, und mehr interessierte ihre Mutter nicht.

Seit sechs Tagen war die Mutter überhaupt nicht mehr erschienen. Das letzte Mal hatte sie vor drei Tagen angerufen und gemeint, es wäre ihr zuwider, jeden Tag nach Hause zu fahren. Sie hatte doch wirklich gesagt, JEDEN Tag! Sie fragte nicht, ob Jessica allein zurecht käme. Noch nie hatte sie das gefragt, wenn sich das Jessica so recht überlegte. Sie hätte verhungern können, oder umgebracht werden können, ihrer Mutter wäre es egal gewesen. Sicher wäre sie sogar froh gewesen, sie los zu sein. Die ersten Jahre nach der Trennung vom Vater erwähnte sie immer wieder, welche Belastung Jessica sei, dass sie ihr das ganze Leben versaut hätte, und jetzt das auch noch. Und sie wäre eh ganz der Vater und sie fragte sich, warum der nichts von ihr wissen wollte. Wahrscheinlich, weil sie noch ärger wäre als er.
Dann sperrte sich Jessica in ihr Zimmer ein, kroch unter die Decke und ertränkte Timmy mit ihren Tränen. Timmy war ihr kleiner Stoffhund, das einzige Wesen, dem sie alles erzählte. Timmy erzählte sie sogar die Sache mit Hans. Und er verstand. Und tröstete sie. Oft durfte Timmy auch mit in die Schule. Heute noch. Er war so klein, dass er im Rucksack nicht auffiel.
Timmy nickte heute auch nur traurig, als Jessica ihm wieder erzählte, dass sie niemanden hatte. Ja, zum Schlafen, das schon. Das war ja immerhin etwas. Aber die meisten Jungs hatten nur Spass mit ihr, denen war sie egal. Und bei Bill wusste sie es nicht. Sie vermutete, dass sie für ihn auch nur Spielzeug war. Er fand auch nichts dabei, ihr von den anderen Mädchen zu erzählen, die er hatte. Und sie ließ halt auch immer wieder irgendwelche Jungs in sich hinein. Und sie wusste, dass Bill es wusste, also machte sie kein Geheimnis daraus. Nein, er liebte sie nicht, da war sie sich sicher. Es gab noch Cosima, die war ihre beste Freundin. Aber seitdem Cosima das Kiffen nicht mehr reichte, und seitdem sie mit Bill bumste, hatte Jessica nicht mehr so viel Kontakt mit ihr. Eigentlich meldete sich Cosima nur mehr bei ihr, wenn sie Geld für Stoff brauchte. Jessica bot ihr dann zwar an, sie könnte kiffen kommen, wenn sie wollte, aber sie wollte dann nicht, das genügte ihr nicht. Das war der Grund, warum Jessica seit Wochen ihr Handy nicht mehr eingeschaltet hatte. Ins Mike’s kam Cosima nicht, seitdem sie Mike etwas unsanft auf die Strasse gesetzt hatte. Die Sache mit Cosima war auch der Grund, warum Jessica zum Treffen nach Tirol fahren wollte. Aber Mike hatte gemeint, jetzt vor Weihnachten bräuchte sie nicht weg zu fahren. Dann könnte sie gleich dort bleiben, wenn sie ihm das antäte. Also blieb sie. Der einzige, den Jessica wirklich liebte, war ihr Daddy. Jetzt mal abgesehen von Hans, dem Schwein. Und von Bill. Sie hatte zwar schon seit Monaten nichts mehr von ihrem Vater gehört, aber sicher war er voll im Stress.
Die letzten zwei Wochen nahm Jessica immer den Weg über die Schnellbahnbrücke zur Schule. Das war zwar ein kleiner Umweg, aber er führte am Haus ihres Vaters vorbei. Sie hoffte, ihn zufällig zu treffen. Dann würde sie ganz lang mit ihm reden.
Anläuten traute sie sich nicht, nachdem er sie das letzte Mal hinaus geworfen hatte.
Aber bis jetzt hatte sie ihren Daddy noch nicht getroffen. Am Heimweg ließ sie sich besonders lang Zeit. Und jedes Mal blieb sie dann auf der Schnellbahnbrücke stehen und sah den Zügen zu, die unter ihr durchbrausten. 80 Stundenkilometer, schätze sie. Aber es war schwer zu schätzen, es mochten sicher zehn Meter bis zu den Geleisen sein. Hin und wieder warf sie kleine Steinchen hinunter und zählte die Sekunden. Sie ertappte sich beim Gedanken, ob sie länger oder kürzer nach unten brauchen würde als die Steinchen. Kopf voraus, wie vom Zehnmeterturm im Bad, Hände an den Körper gepresst, müsste sie eigentlich schneller unten sein als die Steinchen. Sie rechnete aus, wie lange bevor ein Zug kam, sie losspringen müsste.
Aber ihr Daddy liebte sie, das war sie sich sicher. Schon Anfang November hat sie ein wunderschönes silbernes Feuerzeug gekauft und gravieren lassen.
„Jessy“. Nur „Jessy“ hat sie eingravieren lassen, und immer blitzten ihre Augen glücklich auf, wenn sie sich vorstellte, wie er jedes Mal, wenn er sich eine Zigarette anzündete, „Jessy“ lesen würde. Bestimmt würde er dann öfter anrufen. Und sie sich dann öfter treffen. Wenn er im Stress war, rauchte er ja besonders viel, das wusste sie. Und seitdem das Baby da war, war er sicher noch mehr im Stress. Vor zwei Wochen schon hatte sie das Päckchen gemacht. Drei Mal hat sie es inzwischen schon wieder ausgepackt, in die Hand genommen, „Jessy“ gelesen, und noch schöner eingepackt.

Ganz vorsichtig steckte sie nun das Päckchen in ihren Rucksack, direkt neben Timmy, der heute mit durfte. Es war ja Heiliger Abend. Mutter war nicht zu erwarten. Bill war auch nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich war er beleidigt, weil sie nicht aufs CT gekommen war. Aber Mike hatte sie gebraucht. Und ihr Handy war abgeschaltet. Vielleicht kam Bill überhaupt nimmer. Wenn sie sich die Sache recht überlegte, kam er sicher nicht mehr. Seit dem Tod von Cosima war sie auch nicht mehr im Chat. Sie hätte nicht gewusst, wie sie auf das Gerede und die Fragen reagieren hätte sollen.
Aber heute war das egal. Heute wird sie Timmy die Züge zeigen. Und er wird mit ihr beim Daddy sein können.
Jessica zog sich ihre schönste Jacke an. Es war schon stockfinster. Und kalt war es. Warum war es nur so kalt? Sie hängte sich ihren Rucksack um und verließ das Haus.

Kaum war sie ums Eck gebogen, betrat Bill das Stiegenhaus. Er wusste nicht, wie knapp er sie versäumt hatte. Drei Mal läutete er. Dann legte er ein Päckchen und eine rote Rose vor Jessicas Tür. Er würde vielleicht später noch einmal vorbei schauen. Heute war doch Heiliger Abend, und er hatte beschlossen, Jessica einmal zu sagen, dass er sie liebte und nicht verlieren wollte, und wie blöd er bis jetzt war, dass sie sich bestimmt immer wieder kränkte wegen ihm, und dass alle anderen Mädchen eigentlich keine Bedeutung hatten. So richtig reden konnte er nur mit ihr, eigentlich war sie genau die Art von Mädchen, die Art von Frau, die er sich an seiner Seite vorstellen konnte. Das und noch viel mehr wollte er ihr heute sagen.

In der Mitte der Schnellbahnbrücke blieb Jessica stehen und beugte sich über das Geländer. Nein, ihr Daddy wird sie sicher in seine Arme schließen. Trotzdem wollte sie Timmy die Geleise zeigen. Eben als sie in den Rucksack greifen wollte, hörte sie Schritte. Jedes Mal wenn sie in der Nacht Schritte hörte, brach ihr kalter Schweiß aus und sie hörte das hohle Lachen von Hans. Die Schritte kamen näher. Jessica war wie gelähmt. Zirka einen Meter neben ihr stoppten die Schritte plötzlich. Jessica schauerte und sie traute sich nicht, auf die Seite zu blicken.
„Frohe Weihnachten!“ sagte eine männliche Stimme neben ihr. Es klang sehr sanft. Langsam wendete Jessica ihren Blick nach links und sah einen älteren Mann neben sich stehen. Er hielt sich am Geländer fest und musterte sie mit wachem Blick.
„Frohe Weihnachten!“ erwiderte sie zögernd.
„Ganz allein unterwegs, schönes Fräulein?“
„Hm.“
„Noch weit nach Hause?“
Jessica betrachte den Herrn näher. Er war gut gekleidet und hatte weiße Haare. Warum hat er keinen Hut auf in dieser Kälte, fragte sie sich. In ihrer Vorstellung hatten alle alten Männer Hüte auf. Aber sie sah sich natürlich eher selten ältere Männer an. Irgendwie fasste sie Vertrauen zu dem Alten.
„Gleich da drüben“, und sie deutete in Richtung Haus ihres Vaters.
„Und was machst du dann hier auf der Brücke?“
„Ich schau den Zügen zu.“
„Die brausen ganz schön, stimmt’s?“
„Mhm.“
„Und warum schaust ausgerechnet am Heiligen Abend?“
Zweifelnd blickte sie der Alte an.
„Magst dich ein bisschen unterhalten mit mir?“
Gerne hätte sie jetzt ja gesagt. Sehr gerne. Der Alte sah so aus, als könnte man sich unterhalten mit ihm. Fast hätte sie ihm von ihrer Mutter erzählt. Und von Cosima. Von Bill. Ja, vielleicht sogar von Hans.
„Wir könnten auch in das Café dort drüben gehen, die haben heute offen, und dort ist wärmer“, schlug er vor, da sie nicht antwortete.
„Mein Vater wartet auf mich“, sagte sie fast flüsternd, aber sie war sich sicher, er verstand sie. Ja, er verstand sie. Er sah ihr tief in die Augen. Es waren traurige Augen, die er sah. Und sie schimmerten verdächtig im Schein der Straßenlaterne.
Aber er wusste, es würde nichts nutzen, wenn er den fehlenden Schritt zu ihr machte, sie würde es nicht zulassen, dass er den Arm um sie legte. Also unterließ er es.
„Wenn du willst, kannst du mich heute noch anrufen. Ich bin immer sehr lange auf. Alte Leute brauchen nicht viel Schlaf.“
„Danke, das ist lieb von ihnen, aber es wartet wirklich mein Vater auf mich. Und mein kleiner Bruder.“
Traurig sah sie der alte Mann an. Er ahnte Vieles, aber die volle Wahrheit blieb ihm verborgen. Sonst hätte er wohl auf der Brücke ausgeharrt.
„Dann wünsch ich dir ein frohes Fest. Mach’s gut, Mädchen!“
„Frohe Weihnachten“, antwortete sie, indem sie sich schnell umdrehte und fast fluchtartig davon eilte.
Lange blickte ihr der Alte nach, bevor auch er sich auf den Weiterweg machte.

Jessica nahm immer zwei Stufen auf einmal, als sie die zwei Stockwerke zur Wohnung ihres Vaters hinaufeilte, so als wollte sie sich keine Gelegenheit zum Überlegen geben.
Bevor sie den Klingelknopf drückte, nahm sie Timmy das Päckchen für ihren Vater weg.
Die Andere öffnete die Tür. Mit rot verquollenen Augen. Jessica beachtete das aber nicht sonderlich.
„Jössas, die Jessy, Kleines! Die Jessy ist da!“, rief sie nach hinten in die Wohnung.
„Was macht denn DIE da?“
Die hünenhafte Gestalt ihres Vaters erschien im Vorzimmer und drängte die zarte Gestalt seiner Frau auf die Seite.
„Was fällt dir denn ein, dass du unangemeldet da erscheinst? Hat man denn nicht einmal zu Weihnachten Ruhe? Dich hat bestimmt dein Schlampen gschickt, weil’s schon wieder Geld braucht. Oder bettelst du jetzt auch schon?“, schrie er sie mit hochrotem Gesicht an.
„Bist eh der gleiche Schlampen, was man so hört!“
Aus einem Zimmer hinten hörte sie das Baby stoßweise schluchzen.
Wortlos drehte sich Jessica um. Nein, er sollte nicht ihre Tränen sehen. Niemand sollte jemals mehr ihre Tränen sehen. Auch Timmy nicht.
Langsam ging Jessica die Treppe hinab. Im Halbstock legte sie das Päckchen auf den Treppenabsatz.

© NoWall 2002

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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