Schon immer habe ich mich gefragt, wie Frauen es anstellen, mit nur einem einzigen Lächeln, so viel Hoffnung zu verbreiten!
Es ist dieses junge Mädchen, beinahe eine Frau, im roten Kleid, das mich so bezaubert. Das Mädchen, das in diesem Moment ihr volles Augenmerk, weg von ihrem Begleiter, rüber zu dem Kirchturm richtet und somit dem dumpfen schlagen der Mittagsglocke, ihre gesamte Aufmerksamkeit widmet. Es besitzt diese unbekümmerte Leichtigkeit, wie es meist nur jungen Mädchen vorbehalten ist. Und wie ein kleines Mädchen kichert es einfach so drauf los. In einer erstaunlichen Unbekümmertheit, lüpft es mit beiden Händen den Saum ihres Kleides und beginnt zu laufen. Hin zum Kirchturm. Ich höre ihr helles lachen und bewundere in diesem Moment diese kleine schlanke Person um nichts mehr, als um diese, so leicht hingeworfenen, klaren Töne, welche sie in ihrer unbändigen Freude in die Welt hinaus stößt.
Ein derart harmloses und wunderbares Geschöpf. Aus allen Poren meines Körpers beneide ich es um die Attribute eines bezaubernden Wesens. Es ist wie ein beißender Schmerz in meinem Magen. Den dieses junge Mädchen zeigt mir, mit aller härte, die Grenzen und völlige Sinnlosigkeit, meines lebenslangen Bestrebens auf.
Wie würde ich selbst in diesem Kleid aussehen. Ein satt glänzendes Burgunder rot, mit tiefem Einschnitt am Busen und kleinen schwarzen Ornamenten an der Hüfte. Ein Kleid designed, um zu verführen - ganz offensichtlich. Aber wie würde ich nun aussehen in diesem Kleid? Eine Frage, der ich bereits Zeit meines Lebens hinterher laufe.
Im klaren Licht der Sommersonne glänzen die Zeiger der Kirchturmuhr. Es ist kurz nach zwölf Uhr. Vor Jahren wünschte ich mir, Gott würde in dieser Kirche ein Zeichen setzten, würde Stellung beziehen. Blitz und Donner wären, ein mehr als probates Mittel dazu gewesen. Ein Sturm in Biblischen ausmaß. Er sollte sie alle hinwegfegen und mich damit aus meinem Gefängnis befreien.
Könnte ich nur der letzte Mensch auf dieser Erde sein, so dachte ich damals, so wäre ich als dieser, in meiner Art, wohl auch wieder der erste und einzige.
Eine “Geschlechtsidentitätsstörung“ so wurde diagnostiziert. Doch das erfolgte erst Jahre später. In den siebziger Jahren wählten betroffene Menschen Transgender als Selbstbezeichnung. Der Begriff Transgender sollte jene Menschen beschreiben, die ihr biologisches Geschlecht als nicht zutreffend empfinden und denen es nur äußerst schwer fällt, sich mit ihrem eigenen Geschlecht zu identifizieren. Häufig spricht man von transsexuellen Menschen. Doch ist dieser Begriff eine völlig falsche Bezeichnung. Bei Menschen wie mir geht es nicht um die sexuelle Orientierung, es geht um die Identität.
Mehr als dreißig Jahre sind seither vergangen und die Kirche dort drüben, unweit von meinem Platz, ist bis zum heutigen Tag in meinem Kopf ein Symbol ...
Warum ich jetzt nach so vielen Jahren zurückgekommen bin? Es ist der Tod meiner Mutter.
In einem kleinen Dorf zu leben, oder gar aufzuwachsen, kann für manche Menschen die wahre Erfüllung sein. Für andere hingegen, ist es die reinste Qual. Auf jeden Fall aber war es die Hölle, für einen pubertierenden Jungen meiner Art.
Für mich, den im Dorf als etwas “sonderbar” benannten Jungen, war das Leben in dieser so bigotten und mitleidslosen Enge kaum zu ertragen.
Das Haus, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, galt lange Zeit als vorbildlichst geführter Hof im Dorf. Das war wichtig, den der Schein war alles was es sich in einem Ort, wie dem unseren zu erarbeiten und zu bewahren galt - zumindest für meinen Vater. Er war in Gesellschaft der netteste eloquenteste und geselligste Mensch, den man sich vorstellen kann. Zu Hause, abgeschirmt von den eigenen Wänden, war er kalt, gehässig und brutal. Da zeigte er sein so begehrenswertes Lächeln nur, wenn er es nach langem drangsalieren geschafft hatte meine Mutter zum Weinen zu bringen.
Zeit meines Lebens habe ich meine Mutter bewundert. Sie erwartete keine Erklärung warum ich so bin wie ich bin, sie haderte nie - weder für mich noch für sich selbst.
Sie hatte ganz einfach ein einziges Mal in ihrem Leben die falsche Wahl getroffen. Das war´s. Mehr gab es daran, für sie, nicht zu rütteln. Und wie oft in meinem Leben, hatte sie mir versichert, wie glücklich sie doch sei, mit der Entschädigung dieser falschen Wahl. Und immer, so bald sie es einrichten konnte, stahl sie uns ein paar Stunden, in dem wir uns in den Zug setzten, um in die Stadt zu reisen.
„Dort wirst du leben, wenn du erst alt genug bist," beteuerte sie jedes Mal aufs neue. Ich konnte es kaum erwarten, für immer, in die Anonymität einer Großstadt einzutauchen . .
Diese Reisen waren immer etwas Besonderes. In der Intimität der Zugabteile fand ich eine unerschöpfliche Quelle für meine Studien. Denn immer wählte ich, mit dem Einverständnis meiner Mutter, Abteile in Gesellschaft weiblicher Mitreisender.
Im eigentlichen Sinne interessierten mich an diesen Frauen weder Beine, Hüften, oder gar die Brüste. Ob diese Brüste groß oder klein hervorstachen, war mir völlig einerlei. Im einfallenden Licht der Sonne und mit dem schaukeln des Zuges konnte ich beobachten wie die Brüste, je nach schwere, leicht Vibrierten oder einfach nur fest widerstanden, und allein, was ich angesichts dieser vielfältigen Pracht verspürte - war Eifersucht.
Züge haben diese hervorragende Annehmlichkeit, dich nach gewisser Zeit, dieses wohligen Schaukelns, in eine Art von Dämmerzustand zu versetzten. Wenn alle um mich herum dem Halbschlaf erlegen waren, konnte ich so ganz ungeniert mit meinen Lehrstudien beginnen.
Schick und modisches Auftreten dieser Damen, waren in meinen Forschungen immer nur zweitrangig. Priorität hatte, und hat bis zum heutigen Tag - das Erforschen der weiblichen Körpersprache.
Ich wollte erlernen wie Frauen gehen, wie sie sie ihren Körper bewegen, wie sie ihren Rücken durchdrücken und wie sie ihre züchtig geschlossenen Knie immer seitwärts stellen, wenn sie einem gegenüber sitzen. Ich wollte deren verführerische Eleganz erreichen, mit der sie so anmutig und so scheinbar unbewusst eine Locke aus der Stirn streichen. Wie sie dich mit sittsamen Augenaufschlag mustern um deine Absichten zu hinterfragen. Wie sie, in einer grausam unschuldigen Art, mit der Zunge über die Lippen lecken - nur ganz zart - und nur mit der Spitze – natürlich. Wenn sie dir zur Begrüßung die Hand reichen, dann tun sie dies immer mit dem Handrücken nach oben. Wobei sie dir stets, mit scharf geführtem Lidschlag bezeugen, diese dargebotene Hand – tunlichst - so sanft zu umfassen, als wäre sie ein zartes Küken. Ich war derart wissbegierig, dass ich bereits dort im Zug begann die beobachteten Bewegungen zu üben und nachzuahmen. Hin und wieder brachte mir dies äußerst scharfe Blicke ein. Manches mal auch ein verständnisvolles Lächeln.
Und da war er dann, dieser magische Moment: Denn schon immer habe ich mich gefragt, wie Frauen es anstellen, mit nur einem einzigen kleinen Lächeln so viel Hoffnung zu verbreiten.
Die Überlegungen und Abwägungen gingen bis in den Sommer 1972 hinein. Es war ein Sommer mit wenig Schlaf, viel Geschrei, Schule und Arbeit bis in den späten Abend. Auf einem Bauernhof gibt es keine Faulenzerei. Es gibt nur Arbeit, Engstirnigkeit und Mief. Man lebt mit der ständig präsenten Realitätsverweigerung und fast kultisch verehrten Vergangenheit. Dieser dörflich, schizophrene Wahn gegen die Andersartigkeit, tief eingebettet in manisch, religiöse Überzeugung, würde mich niemals in meiner Person Unterstützen.
Ein Mädchen gefangen im Körper eines Jungen - einfach lächerlich!
Und doch – in jenem Sommer war ich überzeugt das Richtige zu tun. Ich ging auf die fünfzehn zu und traf eine unverblümte Entscheidung.
Ich verschwendete keinen Gedanken daran, wie hart man reagieren würde. Aber ich war bereit es zu wagen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es tatsächlich so einen großen Unterschied ausmachen würde, ob ich, wie bisher als Junge, oder eben als Mädchen, in die Kirche kommen würde.
Obwohl meine Mutter es nicht gutheißen, aber es doch letztendlich absegnen würde, kleidete ich mich an jenem Tag aus der Fülle ihrer Sachen. Einer neugierigen Katze gleich, stöberte ich bereits Stunden zuvor in ihrem Schrank herum und entschied mich zu guter Letzt, für ihr himbeerrotes Chasuble Kleid. Wie ich so dasaß mit dem Profil zum Spiegel, den Rücken durchgedrückt, die Knie eng aneinandergepresst, das Kinn stolz erhoben und die strubbeligen Haare unter Mamas weiß rot gepunkteten Sommerhut versteckt, da gab es keinen Zweifel mehr: Ich war, was ich immer sein wollte und sein werde - ein Mädchen, eine Frau!
Als ich die Kirche betrat, begrüßte mich unser Herr Jesus. Ich erkannte wie er leicht den Kopf aus seiner schrägen Position zu mir herüber drehte. Wie er aufmunternd lächelte und mir, mit dem einen Auge,beschwichtigend zuzwinkerte.
In den vorderen Bankreihen ging ein Raunen durch die Menschen. Noch nie zu vor hatte sich Jesus bereit erklärt ein derartiges Zeichen der Zustimmung zu geben. Ein gleißender Lichtstrahl in den buntesten Farben breitete sich vor mir am Boden aus, leitet mich mit seinem schillernden Gewirr meines Weges nach vorne.
Dann sah ich in die Gesichter, der in der Kirche versammelten Gemeindemitglieder. Jene Gesichter, die mir nahe waren, schienen Respekt zu zeigen und brachten vor Begeisterung den sperrangelweiten Mund nicht mehr zu.
Richtiggehend gefesselt, starrten sie mich alle an. Mein Kopf glühte vor Aufregung, als ich langsam, immer weiter nach vorne schritt. Meine Ohren brannten - grade so wie bei Mama, als sie mir im Winter immer die rot gefrorenen Ohren warm rubbelte.
Alle hatten die Hände im überschwänglichen Gebet zusammen gepresst und bei manchen zuckten die Gesichtsmuskeln und wollten nicht mehr zur Ruhe kommen. Ein schluchzen konnte ich hören und das Stöhnen eines kleinen Kindes. Meine Mama war da. Wie sie so da vorne saß, mich anschaute und mir mit Tränen in den Augen zulächelte, da konnte auch ich mich nicht mehr zurückhalten und fing zu weinen an – vor Freude.
Auch mein Vater war da und als ich so voller Lebenslust in sein Gesicht sah, da bemerkte ich, dass alles nur ein Traum ist.
Jesus hätte nie der Versuchung nachgegeben den Kopf zu drehen - mich anzublicken. Warum auch? Er hing dort oben, genau da, und genau so, wie man ihn hingehängt hat. Erbarmungswürdig dem Schmerz ergeben als ewiges Leitbild für uns Menschen. Niemals würde er mir von da oben zulächeln, oder gar zu zwinkern. Es wäre ganz einfach nicht sein Niveau.
Vorne, am Tabernakel bekreuzigte sich unser, sonst so besonnener, Herr Pfarrer - er bekreuzigt sich einige Male und zischte durch das Oval:
„Kommst du um zu lästern oder um zu verhöhnen? Ehrest du deine Eltern nicht? Die Kirche nicht? Ist es dass, was euch diese unsäglich, teuflische Rock Musik einschärft?“
Auch andere bekreuzigten sich in einer mitleidslosen katholische Geste der heiligen Dreifaltigkeit.
Mein Vater trat aus der Reihe heraus. Er stand mir gegenüber. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Die tiefhängende Hutkrempe war mir im Weg.
Der Schlag kam wie aus dem nichts. Als ich fiel, war es ein Sturz ins Leere.
„Und kein Engel wird dich begleiten!“
Ich lausche der Stimme. „Was?“
Irgend etwas - oder jemand - stößt mich an. Nur langsam kann ich wieder einen klaren Gedanken fassen. Etwas warmes Weiches tätschelt mein Gesicht. Mein Kopf droht dabei zu zerplatzen und aus, weiß Gott wie vielen Kilometer Entfernung, wiederholt sich die Stimme die sagt: „Kein Engel wird dich begleiten.“
Ich wälze mich zur Seite. Das kostet mich etwas an kraft, aber ich schaffe es und beginne zu überlegen, wo ich mich befinde.
Über mir steht mein Vater.
„Gütiger Herr Jesus,“ flüstere ich und versuche mich irgendwie zu orientieren. Ich rieche eine Mischung aus uringetränktem Stroh, Kuhscheiße und frischem Heu. Ich befinde mich also in unserem Stall - ein langer Weg von der Kirche hierher - aber mein Vater verfügt über schier unmenschliche Kräfte und ich zähle für ihn nicht einmal zum Fliegengewicht.
„Jesu und alle anderen haben sich von dir abgewendet,“ sagt mein Vater. Ich höre wie er tief die Luft durch seinen Mund einzieht und sie mit einem tiefen, grollenden Laut wieder ausstößt. Er bringt sein Gesicht ganz nah an meines. Es ist wie eine Explosion in meinem Kopf, als er mich anbrüllt: „Wer bin ich?“
Ich fühle, wie Blut aus meiner Nase über meine Lippen runter zum Kinn läuft und von draußen höre ich das wilde Hämmern von Fäusten an der Stalltüre. Meine Mutter - sie kreischt und weint sich die Seele aus dem Leib - wegen mir!
„Wer bin ich?“, schreit er noch einmal.
„Du bist mein Papa“, antworte ich zögerlich und versuche die Tränen aus meinen Augen zu blinzeln.
Da ist eine unsichtbare Wand zwischen uns, welche ein gegenseitiges Verstehen unmöglich macht. Mein Vater schreit: “Mein Blut und du weißt nicht wer ich bin?“
Und nun, voller Trotz, brülle ich, in einem Anfall von Zorn zurück: „Wenn du nicht mein Vater bist, wer bist du dann? Bist du etwa Gott?“
„Du hältst das wohl für komisch“, stößt er zwischen den Zähnen hervor und packt dabei das schöne Chasuble Kleid meiner Mama am oberen Teil und reißt es mir, mit einem Ruck, vom Leib. Zerfetzt es in seiner Kraft, wie ein wild gewordener Hund es mit seiner Beute tut.
Ich erschrecke derart über diesen Ausbruch von Gewalt, dass ich völlig unkontrolliert zu zittern beginne. Irgendwie erschlafft mein Körper. „Ich habe nichts getan. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich bin so, wie ich bin“, wimmere ich vor mich hin und wische mir das Blut und den Rotz aus dem Gesicht..
„Schuld ist deine Mutter“, fährt mein Vater fort. „Sie hat dich zu verweichlicht. Sie hat mich daran gehindert, dir beizubringen was härte ist.“
„Mama trifft keine schuld“, bäume ich mich auf, „ niemand hat schuld, nur ich bin es, ich ganz allein.“
Und dann sagt er etwas so Schreckliches.
„Eine kleine schwule Drecksau hab ich groß gezogen. Und stolziert noch vor all den Leuten auf und ab. Nur, um mich zu demütigen. In der Kirche - du lästerst Gott, Jesus und all den Engeln, die an seiner Seite sitzen. Du lästerst mir - deinem Vater - und du lästerst all den Gottestreuen Bürgern dieses Ortes.“
Ich überschlage, was er da alles sagt. Das Denken fällt mir so schwer. Ich erkenne einfach die Zusammenhänge nicht.
„Du verstehst es nicht“,sage ich, „du verstehst einfach überhaupt nichts. Nie hörst du zu. Wir hätten darüber reden sollen - es wäre längst an der Zeit gewesen darüber zu reden.“
„Zu reden? Zu reden, über was? Reden darüber das mein eigener Sohn ein Homo ist?“ Er stieß das Wort „Homo“ so heraus, als würde es sich in seinem Mund in Fäulnis verwandeln, wenn er es nicht schnellstens ausspucken könnte.
Von draußen hörte ich immer noch meine Mama, wie sie abwechselnd gegen die Tür und gegen die geschlossenen Holzbarren an den Fenstern schlägt.
Bis auf die Unterhose nackt, rolle ich mich zusammen und versuche auf die Knie zu kommen. Der Steinboden ist nass und kalt. Ich setzte mich zurück auf meine Fersen und wie ein wildes Raubtier lasse ich plötzlich all meine Wut aus mir heraus. So als hätte ich von einer Sekunde auf die andere meine Kindheit abgelegt, lehne ich mich auf und in all meinem jahrelangen Schmerz, der Unsicherheit, des Versteckens und Unterdrückens, schreie ich meinem Vater entgegen:
„Ich - bin - nicht - schwul - ich bin nicht schwul - habe ich nicht das Recht so zu sein wie ich fühle. Macht es mich zu einem schlechteren Menschen, nur weil ich nicht fühle wie ein Junge. Weil ich nicht so stark bin wie ein Junge. Ich möchte doch nur sein, was tief in mir drin ist – ein Mädchen!“
Mein Vater steht da, steht da und ist ganz ruhig - für eine Weile.
Er steht da und starrt mich an..
„Ein Mädchen?“,fragt er ganz verwundert. Es dauert einen Moment bis dieser neue Gedanke zu ihm vordringt. Ein Gedanke über eine Tatsache, die für ihn so abwegig ist, als würde ihm jemand erklären, dass morgen früh die Sonne nicht mehr aufgehen würde - nie mehr. Und das wäre doch schließlich völlig ausgeschlossen.
Für meinen Vater sind Gewohnheiten das Maas aller Dinge. Und Normen sind dazu da, strickt eingehalten zu werden. Jedes Ding, jedes Lebewesen, das nicht der allgemein gültigen Norm entspricht, hat unweigerlich beseitigt zu werden. Ein Ferkel mit nur einem Auge, unsere Katze Minki, der in den Feldern, beim Mähen das Bein abgetrennt worden ist, das kleine Kälbchen, das von seiner Mutter vernachlässigt wurde und es kaum über den Winter schaffen würde. Einfach zu schwach für diese Welt. Warum sich erst bemühen etwas zu retten, dem es ohnedies nicht bestimmt ist zu überleben. Alles, dass den gesunden Ablauf am Hof durcheinanderbringen könnte, muss weg. Das war immer so - bei uns am Hof.
Und dann - einfach so - ohne der kleinsten Andeutung, springt mein Vater auf mich zu. Er packt mich an dem einen Oberarm und zieht mich daran über die wenigen Meter von meinem Platz, rüber zur Schweinebox. Bessy grunzt aufgeregt und versucht schnüffelnd durch die Gitterstäbe hervor zu lugen. Beinahe muss ich lächeln - die liebe Bessy - sie könnte niemanden etwas zu Leide tun, hat aber trotzdem, im letzten Jahr, ihr eigenes Ferkel aufgefressen.
Kurz vor der Box lässt mich mein Vater los und so geschickt und geschwind könnte ich niemals reagieren, wie er meine Hände packt und sie mit einem dünnen Strick an den in die Wand eingelassenen Eisenring fesselt.
„Ein Mädchen? Mit allem drum und dran? Nun - so schwer ist das nicht“, sagt er ganz ruhig.
Er ist verrückt, denke ich in meiner Panik - völlig verrückt geworden. Die einzige Frage die ich mir, da in diesem nach Schweine und Kuhscheiße, stinkenden Loch stelle ist, wie weit wäre er bereit zu gehen.
Mein Vater sagt: „Vier Hektar Wiesen, acht Hektar Wald, zehn Kühe, über achtzig Schweine und noch so einiges an Hühner und Kleinvieh. Einen Hof mit vierhundert Quadratmeter Wohn - und Stallfläche. Und jetzt frage ich dich - wo wohnst du?“
Ich sehne mich danach, dies hier und jetzt beenden zu können, habe aber doch so viel Trotz und Wildheit in mir drinnen, das ich provokant sage: „Im Paradies?“ Und dabei auch noch ein Lächeln zustande bringe.
Mein Vater stößt einen grunzenden Laut aus, so seltsam, dass ich nicht mit Sicherheit behaupten kann, ob er von ihm oder von Bessy kommt. Mein Vater hebt die Hand und schlägt mir noch einmal mit der Innenfläche ins Gesicht. Mein Kopf knallt gegen die Wand und ich begrüße die Sterne um mich herum.
„Findest du lustig, nicht wahr? Alles findest du lustig. Gleich wird’s noch besser, wart mal ab. Also frage ich dich ein letztes Mal, wo wohnst du?“
Alles an mir tut höllisch weh. Ich lasse meinen Widerstand fallen und schreie es geradewegs heraus: “Ich wohne auf dem Sauschneiderhof - ich lebe hier, ich schlafe hier, ich spiele und arbeite hier, ich esse hier und ich scheiße auch noch hier - hier auf dem Sausschneiderhof!“
Noch einmal knallt mir mein Vater eine gegen das Gesicht, dieses Mal aber nicht ganz so fest. „Ganz recht“, sagt er, „das alles bekommst du am Sauschneiderhof , nun - und jetzt die Frage noch mal - wer bin ich?“
„Du bist der Bauer am Sauschneiderhof „, antworte ich, „du bist der Sauschneiderbauer.“
„Der bin ich“, sagt er ruhig - er lächelt, dreht sich weg und geht rüber zu Werkzeugkommode.
Dann kommt er zurück und mit sanfter Stimme sagt er: „Weißt du, manche Dinge sind nicht so unveränderbar, wie man vielleicht glauben möchte.“
Er hält einen Hut in der Hand. Er setzt ihn nicht auf, hält ihn nur so, dass ich ihn gut zu sehen bekomme.
Bessy neben mir hat sich etwas beruhigt und grunzt nur noch leise vor sich hin. Auch von meine Mutter, da draußen, ist nichts mehr zu hören. Später würde sie mir erklären, wie sie versucht habe Hilfe zu holen - aber das würde noch etwas dauern.
„Kennst du diesen Hut?“,fragt mich mein Vater, ich sage: „Nein - ich kenne ihn nicht.“
„Siehst du diesen Adlerflaum hier am Band ?“„Ja, ich sehe ihn.“
„Weißt du was dieser Adlerflaum bedeutet?“ „Nein ich weiß es nicht.“
„Ein hoher Hut mit eben so einem Adlerflaum - durch diesen Hut mit dem Flaum oben drauf, waren sie schon von weitem zu erkennen – die Sauschneider. Ein trachtiger Überrock, den aufgerollten Schurz um die Lende, feste Hosen und Schuhe. Über die Schuhe noch Ledergamaschen. Ein Sauschneider, so wie mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater einer war, war oft wochenlang auf Wanderschaft bis er sein Gai erreicht hatte. Gai - so hießen die Gebiete in der Fremde, dass der Sauschneider zu betreuen hatte. Als Sauschneider hatten sie einen eigenen Pass - eine amtliche Bestätigung - der sie legitimierte dieser Tätigkeit nachzugehen ...“
Mein Mund ist trocken und der Schweiß rinnt mir in strömen den Rücken runter.
„Siehst du dass hier?“, fragt mein Vater und zieht dabei ein Messer aus seiner Hosentasche.
„Dieses Messer ist mehr als hundert Jahre alt und wurde von meinem Großvater an meinen Vater und von ihm an mich vererbt.“
Das Messer ist in etwa zehn Zentimeter lang - vielleicht auch ein wenig kürzer. Der Griff ist aus dunklem, polierten Holz. In dieses Holz ist eine, etwa Zeigefinger lange, Klinge eingearbeitet.
Um den Griff ist mehrmals eine Schnur gewickelt und in dieser Schnur steckt ein dünnes Klammer ähnliches Stück Metall.
„Das Sauschneidermesser“, sagt mein Vater und hält es mir, in beiden geöffneten Handflächen entgegen - grade so, als sei es eine heilige Reliquie.
Unruhig rutsche ich auf meinen Platz umher. Ich zerre an meiner Fessel und versuche frei zu kommen. Meinen Vater kostet das kaum ein schmunzeln.
„Ich erkläre dir, wie so etwas abläuft. Das junge, ahnungslose - männliche - Schweinchen, wird aus dem Stall geholt und auf einen mit Stroh eingestreuten Platz gezogen. Der Sauschneider nimmt das Ferkel an den Hinterbeinen und klemmt sich das Tier zwischen seine Beine. Eine zweite Person hält das Ferkel fest. Es geht aber natürlich auch alleine. Der Sauschneider nimmt das frisch geschliffene Messer in die eine Hand und mit der anderen Hand packt er die Hoden des Schweines. Ein gut gesetzter, schneller Schnitt - ein Quicken und fertig. Wichtig ist, die Hoden nicht einfach so abzuschneiden, das ist die Kunst an der Sache. Nur einschneiden. Die Hoden muss man abdrehen, verstehst du? Um spätere Entzündungen vorzubeugen wird ein Löffel Schmalz in die Wunde gestrichen – manchmal verwendeten wir auch ein Brenneisen - um die Wunde zu schließen. Weißt du, warum man das alles macht?“ Er wartet erst gar nicht auf meine Antwort. „Um das Fleisch von ungeliebten und derart stark riechenden Geschlechtshormonen frei zu halten. Schon die alten Germanen ließen ihre Schafböcke kastrieren um deren Fettgehalt zu steigern. Hengste wurden kastriert um sie zu zähmen. Dazu zerschlug man ihnen mit einem Steinhammer die Hoden. Den Rindern zerquetschte man die Hoden ganz einfach. Erschreckend, nicht wahr? Ist jetzt nicht gerade angenehm - so der Gedanke, kein Mann mehr sein zu wollen - was meinst du?“ Mein Vater schiebt mit einem Fuß meine Beine auseinander, stellt sich dazwischen und beugt sich, das Messer fest in seiner Hand, ganz nahe zu mir herunter.
QUiiiiiiiii – ich quicke wie Bessy es macht, wenn sie Angst hat.
Mein Vater ist ganz ruhig. Der völlig fokussierte Gesichtsausdruck, diese strenge Aufmerksamkeit ist von einem so vollständig, leeren Blick begleitet, dass ich keine Sekunde an seinem Vorhaben zweifle. Er sieht mir tief in die Augen und sagt „Schrein brauchst du nicht, immerhin behandle ich dich wie ein Ferkel, oder habe ich etwa einen Steinhammer in meiner Hand.“
Wie ein kleines Baby pisse ich mich voll.
„Merk dir eines“, fährt mein Vater fort, „wie am Fließband, aber immer in der Art eines Chirurgen hab ich meine Arbeit verrichtet. Also pass gut auf was jetzt passiert du - Mädchen.“
Mit einem schnellen Schnitt ritzt er meine Unterhose und reißt sie mir runter, wirft sie zu Bessy in den Trog. Völlig nackt, die Hände über meinen Kopf gefesselt, liege ich hilflos vor ihm.
„Du hast keine Ahnung wozu ich im Stande bin“ ,fährt mein Vater fort. Ich sehe ihn an, mit all meinem Hass. Sein schweißnasses Haar klebt an seinem hochroten Kopf. Und er sagt:
„Es gibt keine Worte um dir zu erklären, wie glücklich ich war. Damals, bei deiner Geburt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dieses Glück hätte zeigen sollen, damals nicht und auch heute nicht. Ich wurde einfach nicht dazu erzogen, Gefühlen freien lauf zu lassen. Die Buben vom Sauschneiderbauern waren immer wilde Hunde. Deine Großmutter ließ sich kaum erweichen, wenn es darum ging, uns Kindern zu zeigen was Kraft und Härte ist. Gefühle waren für sie nichts weiter, als eine Belastung, eine schreckliche, unnütze Wucherung in uns drin. Die nagt und frisst und dir den Kopf vernebelt. Arbeit, Schmerz und Glaube ist der wahre Lebenssinn. Niemals sind es Gefühle, die uns leiten sollten. Es ist die Stimme meiner Mutter, deiner Großmutter - Gott hab sie selig – die mich treibt. Verstehst du dass?“
„Verstehst du dass!“ Schreit er mir noch einmal entgegen und verwundert sehe ich wie ihm die Tränen das Gesicht runter laufen.
In diesem dämmrigen Stall wo die dumpfe Luft vibriert, so voller Erregung, Hass, und Gewalt ist. Wo der komplett überbordende Eklat auf einer, im wahrste Sinne des Wortes, Messers Schneide hängt, ist es unmöglich, diese so plötzlich auftretende Stille wahrzunehmen. Eine von Adrenalin und überbordender Kraft gereinigte Stille. Mit einem letzten, alles aus sich heraus heulenden Wutschrei, wirft mein Vater das Messer zu Bessy in die Box. Irgendwie verliere ich auf einem Schlag all meine Muskelkraft. Ich sacke zusammen und kann nur noch wimmern. Ich höre wie das Messer im Steintrog aufprallt und denke: Ob Bessy nur nichts Abbekommen hat und das sie sich dieses mal wohl besser zurückhalten solle mit ihrer Gier alles in ihrem Bereich herumliegende, einfach so, zu verschlingen.
Jetzt erinnere ich mich noch daran, wie mein Vater langsam und leise denn Stall verlassen hat. Wie meine Mutter gekommen ist, mich losgebunden hat. Beide saßen wir für einige Zeit, in inniger Umarmung, einfach so da und weinten.
„Mama“, höre ich vorsichtig eine Stimme hinter mir und eine kleine zarte Hand legt sich auf meine Schulter - „können wir gehen?“
„Ja Schatz“, sage ich, „ich bin bereit.“
„Meine Tochter dreht sich von mir weg. Ihr rotes Kleid schwingt dabei um ihre Beine und in dem sie eine Hand als Schutz vor der Sonne über ihre Augen legt, hält sie Ausschau nach ihrem Freund.
Ich bin glücklich, trotz allem, bin ich glücklich. Von hinten drücke ich meine Tochter, wie ich sie noch nie zuvor gedrückt habe. Sie lacht laut auf, weil ich ihr beinahe die Luft abdrücke, aber das macht nichts. Sie wird so viele Liebe schon aushalten. Denn im Gegensatz zu meinen Vater, der nie etwas anderes als Hass und Missachtung vorgelebt bekommen hat, habe ich meiner Tochter nie etwas anderes gezeigt als ein offenes Herz . Und warum auch nicht. Schließlich bin ich ihre Mutter - oder - nun ja - ihr Vater.
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Walter Strasser).
Der Beitrag wurde von Walter Strasser auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.08.2024.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Walter Strasser als Lieblingsautor markieren
Repuestos: Kolonie der Verschleppten
von Marianne Reuther
Die letzte Unterrichtsstunde war zu Ende, das Wochenende stand bevor. Studienrat Edmund Konrad strebte frohgemut auf seinen blauen Polo zu. Hinterm Scheibenwischer steckte der Werbeflyer eines Brautausstatters, und indem er das Blatt entfernte, fiel ihm beim Anblick des Models im weißen Schleier siedend heiß ein, daß sich heute sein Hochzeitstag zum fünften Mal wiederholte.
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