Für manche ist Briefmarkensammeln langweilig. Das empfindet Timo Harms ganz anders. Seit er als kleiner Junge sich zusammen mit seinem Großvater intensiv mit dessen Sammlung beschäftigt hat, sind ihm diese bunten, gezackten Schönheiten vertraut. Nicht allein die große Anzahl der Marken hat ihn fasziniert, es waren auch die Geschichten, die sein Opa zu vielen Motiven zu erzählen hatte. Er mochte sie sehr, diese Erzählungen in dem ruhigen Ton, in einer angenehm altmodischen Art der Sprache vorgetragen. Das formte Timos Gedächtnis für Sprache. Ein Teil seines Weltbilds ist auf diese Weise auch entstanden ebenso eine unterschwellige Sammlerleidenschaft.
Nach dem Tod des Großvaters erbte Enkel Timo die umfangreiche Briefmarkensammlung und hielt sie in einem guten Zustand. Die Sammlung so akribisch weiterzuführen wie der Alte, das vermochte er allerdings nicht, er fand ohne sein Vorbild nicht den gleichen Zugang zu dieser Leidenschaft. Eines hatte er sich aber vorgenommen, er würde einen Teil der Sammlung komplettieren. Der Großvater hatte irgendwann begonnen, die Sammelobjekte einzugrenzen. Übrig blieben nur die Oberbegriffe 'Deutschland' und 'DDR', damit war er ausgefüllt. Die Unterteilung der Sammlung in zwei deutsche Staaten hatte Timo erst nach der Wende 1989 so richtig verstanden, als die DDR 'abgewickelt' wurde; es kamen ganz einfach keine neuen Briefmarken mehr auf den Markt - ein genialer Umstand für Sammler. So konnte man es schaffen, ein Land komplett in einer Sammlung zu haben. Die wenigen Lücken von DDR-Marken in Opas Sammlung konnte Timo nach einigen, aufwändigen Recherchen schließen und beendete damit einen Teil des philatelistischen Ziels seines Großvaters und für sich das Thema Briefmarkensammeln. Die Neigung zum entspannten Dasein, wie er es in der bunten Welt der Briefmarken immer geschätzt hatte, wo sich alles ohne überflüssige Worte sowie ohne abgedroschene Floskeln ergab, übernahm er in sein Leben. Das Wenige, das zu sagen war, musste für ihn immer kurz und prägnant sein. Seine Sammelleidenschaft ging allerdings weiter, ohne dass er sich dessen bewusst war. Er sammelte nichts Gegenständliches, es waren immaterielle 'Sammelstücke', spezielle Worte und Redewendungen, die an ihm haften blieben. Auf einen korrekten Umgang mit der deutschen Sprache hatte Timo Harms schon immer Wert gelegt. Die im modernen Sprachgebrauch inflationär verwendeten Sprachhülsen und andere rhetorische Unarten, waren für ihn kaum zu ertragen. Er konnte sie einfach nicht mehr hören, die ständigen Formulierungen, “nicht wirklich”, “alles gut, alles gut”, das eingesungene “okayeeeh”, das allgegenwärtige 'mega' oder das Ankündigen eines Fazits, mit einem geschmeidigen “und am Ende des Tages...” u. a. m.. Dass in einer Sprache auch Plattitüden gelebt werden, damit konnte er umgehen. Aber dass in kurzen Abständen immer wieder überflüssige Redewendungen zum Kult erkoren wurden, und sich wie eine Epidemie ausbreiteten, das störte Timo Harms gewaltig.
In seinem Beruf als Studienrat für Deutsch und Geschichte konnte er weitgehend den Jugendjargon seiner Schüler akzeptieren. Handelte es sich dabei aber um Denglisch' wurde er schon mal ungehalten. Noch schlimmer erging es ihm mit seinen Kollegen. Bis auf wenige Ausnahmen waren diese alle mit einem Mischmasch aus deutschen Worthülsen und Denglisch unterwegs; kaum zu ertragen. Und im Privaten ging es weiter. Es gab bald keine Talkshow mehr, in der nicht mit solchen rhetorischen Krücken gearbeitet wurde. Waren mehrere Teilnehmer in einer lebhaften Gesprächsrunde versammelt, wirkte das auf Timo wie eine außer Kontrolle geratene Kakophonie; bei längerem Zuhören wähnte er sich wie in einer Horde logorrhoischer Schimpansen. Das Resultat, er vermied es, längere Interviewformate zu verfolgen. Beruflich traf es sich gut, dass Timo in dieser Phase das interessante Angebot erhielt, als Lektor in einem Verlag für historische Bücher tätig zu werden. Er nahm es an und fühlte sich hier besser aufgehoben. Die Wortverunstaltungen, die ihm dort begegneten, traten seltener auf.
Aber seine Befindlichkeit verschlechterte sich dennoch. Anlässlich einer privaten Feier, bei der auch viel gesabbelt und getrunken wurde, verlor er die Kontrolle über sich, als die Gesprächsrunde zunehmend chaotischer wurde und ständige Wiederholungen von Plattitüden die Runde dominierten. Er, der überwiegend zurückhaltend im Umgang mit anderen Menschen gewesen war, brach aus und verfiel als Reaktion auf das unsortierte Gesülze in einen kaum zu bremsenden Redeschwall und war in dieser Situation zu keiner normalen Konversation mehr fähig. Die von ihm konsumierte Menge Alkohol hatte das sicherlich befeuert, war aber nicht die ausschließliche Ursache für seinen polyphrasischen Anfall. Alle Anwesenden waren zunächst belustigt, dann aber mehr und mehr entsetzt. Seine Mutter, eine erfahrene Logopädin, kannte solche Erscheinungen. Es betraf zwar nicht ihr ureigenes Fachgebiet, sie besaß jedoch ausreichend Erfahrung, um erkennen zu können, dass hier die Linie zum pathologischen Verhalten überschritten worden war. Sie empfahl ihrem Sohn später, belastende Gesprächsrunden zu meiden und beruflich kürzer zu treten. Seine Vorgesetzten zeigten Verständnis für sein Ansinnen, eine Auszeit nehmen zu wollen. Sie bewilligten ihm ein Sabbatical von einem Jahr - schon wieder so ein Unwort für Timo, aber immerhin, er fühlte sich auf dem richtigen Weg. Sein Plan war es, dem massiven Missbrauch von Sprache aus dem Weg zu gehen, indem er einen Aufenthalt in einem fremdsprachlichen Land anstrebte. Frankreich war sein Ziel. Das Land sprach ihn an und die Sprache beherrschte er ziemlich gut, aber wohl nicht gut genug, um die dort vermutlich auch vorkommenden Sprachhülsen als Fremdsprachlicher auf Anhieb zu erkennen.
Nach einigen entspannten Wochen auf touristischen Pfaden im Nachbarland, ließ er sich einer attraktiven Frau zuliebe im südfranzösischen Narbonne nieder. Seine frische Liebe, die Schauspiellehrerin und Choreographin Simone, leitete an der dortigen Schauspielschule das Ressort Natürliche Bewegung und Bühnentanz. Timo nutzte oft die Gelegenheit, den Übungsstunden seiner Partnerin zuzusehen. Bald war er von dieser Kunst der Darstellung so fasziniert, dass er Kurse an der Akademie belegte, und zwar im Fach Pantomime. Und das mit großem Erfolg. Dabei lernte er, wie man sich auf eindrucksvolle Art ausdrücken kann, ganz ohne Worte. Timo Harms fand seine Bestimmung in der wortlosen Kunst der Pantomime. Unter dem Künstlernamen TISAMO, für Timo sans Mots, verwirklichte er sich als pantomimischer Clown.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Horst Radmacher).
Der Beitrag wurde von Horst Radmacher auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.08.2024.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Horst Radmacher als Lieblingsautor markieren
Sommerzeit - Rosenzeit: Hommage an die Königin der Blüten
von Eveline Dächer
Mit einer Hymne auf die Rose überrascht uns die Autorin
Eveline Dächer in ihrem neuen Lyrikbändchen. In zarten und feurigen
Bildern dichtet sie über eine dunkelrote Rose, die einen bisher
unbekannten Duft ausströmt, oder von gelben Rosen, die wie
Sonnenschein erstrahlen. Sie erzählt von Rosen, die auf Terrassen,
Balkonen und in Gärten blühen, und von einem besonders schönen
Rosenstrauß, einem Geschenk des Liebsten, der auf ihrem Lieblingstisch sie täglich erfreut und Sehnsucht schürt. Und da die Rose
das Symbol der Liebe schlechthin ist, lässt sie aus deren Blätter
eine Liebesstatt entstehen, die duftend weich und zart Zeit und
Raum vergessen lässt.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: