Carrie Winter

Tagebuch einer Schülerin

TAG 1

Gedanken kreisen durch meinen Kopf wie verrückte Vögel. Picken mit ihren scharfen Schnäbeln in mein Herz und lassen mich langsam verbluten. Weiß nicht mehr, was ich tun soll. Kann das alles nicht mehr ertragen. Alles scheint nur noch mehr Schmerz hervorzurufen und mich ein Stück näher zum Abgrund zu stoßen. Jeder Schritt, den ich gehe, führt weiter ins Verderben. Bin in einem Kreis gefangen. Keine Chance, zu entkommen. Ich flehe Gott an, dass er Jemanden schickt, der mich rettet.

TAG 2

Wachte heute nacht schreiend auf. Hatte wieder diesen schrecklichen Alptraum, den ich vor ein paar Monaten immer hatte. Er ist zurück gekehrt. Heftiger, als jemals zuvor. Diesmal habe ich alles gesehen. ALLES! Ich konnte das Mädchen schreien hören und, glaub mir, noch nie in meinem Leben habe ich so etwas schreckliches gehört. Jedesmal wenn ich heute einen Moment der Ruhe hatte, ging dieser Schrei durch meinen Kopf. Ich flehe Gott an, dass ich mich morgen nicht mehr daran erinnern kann.

TAG 3

Fühle mich sonderbar. Als ich vorhin Tim traf, dachte ich, die Wunden würden wieder aufreißen und ich würde mich wieder in den Schlaf weinen müssen. Aber so war es nicht. Er hat mich angelächelt und ich hab zurück gelächelt und auf einmal schien es wieder wie früher zu sein. Wir haben uns unterhalten. Seit wir uns damals getrennt haben, hat sich einiges in seinem Leben geändert. Stell dir vor, er nimmt keine Drogen mehr! Er hat einen Entzug gemacht und ist jetzt wieder völlig gesund! Er hat sogar einen richtig guten Job gefunden! Weiß zwar noch nicht, welchen, aber morgen treffen wir uns und da sagt er es mir. Freu mich darauf. Andererseits habe ich auch Angst.
Ich bin mir nicht sicher, ob er noch weiß, was damals passierte. Nicht das er betrunken gewesen wäre oder so, aber er hatte schreckliche Entzugsschmerzen...Ich glaube, man weiß schon noch, was man alles getan hat, während man auf Entzug war. Trotzdem hoffe ich das Gegenteil!

TAG 4

Schreibe diese Zeilen während ich im Bett liege. Und jetzt rat mal, wer neben mir liegt! Tim!
Unser Treffen heute war einfach wunderbar! Es war wirklich genauso wie unser erstes Date!
Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin!
Weißt du, es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich ernsthaft daran zweifelte, ob ich Gefühle habe. Aber dieser Abend hat mir bewiesen, dass ich voller Gefühle bin! Fantastischer Gefühle!
Und Tim hat sie alle hervorgeholt!
Gott muss mich gehört haben, als ich ihn darum bat, mir Jemanden zur Rettung zu schicken!

TAG 7

Ist mein letzter Eintrag wirklich schon drei Tage her? Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug!
Früher wusste ich nicht, wohin mit den Minuten und heute vergehen Tage ohne das ich es merke!
Das Leben mit Tim ist so...Es gibt keine Worte dafür. Mein schönster Traum ist wahr geworden!
Wir lieben uns wieder so wie am ersten Tag und werden jetzt nie mehr auseinander gehen!
Solange er bei mir ist, bin ich gerettet! Seine starken Arme halten mich, bevor ich in den Abgrund falle...

TAG 9

Ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll. Ich brauche nur irgendetwas, womit ich mich jetzt beschäftigen kann. Ich bin so aufgeregt! Was ist, wenn Tim etwas passiert ist? Er ist jetzt schon seit zwei Stunden weg! Und dabei wollt er doch gleich wieder kommen! Ich hab schon daran gedacht, seine Freunde anzurufen und zu fragen, ob er bei einem von ihnen ist, aber mir ist aufgefallen, dass ich seine Freunde gar nicht kenne. Ich weiß nicht mal, ob er Freunde hat. Das sollte mich nachdenklich machen - ich weiß! Aber ich bin viel zu sehr in Sorge, um über etwas anderes nachzudenken! Bitte Gott, lass Tim nichts geschehen sein!

TAG 10

Warum hört Gott auf mich? WARUM? Warum hat er Tim nicht bei einem Autounfall drauf gehen lassen können? Warum hat er ihm nicht die gleichen entsetzlichen Schmerzen zugefügt, wie er mir!
Ich bin so ein Idiot! Wie konnte ich nur glauben, dass er sich geändert hat? Ich hasse ihn!

TAG 11

Das ganze Leben ist so sinnlos. Hab nur noch den Wunsch, tot zu sein. Fühle mich innerlich leer, als wäre meine Seele abgestorben. Hätte ich die Kraft, würde ich mir Schlaftabletten holen. Aber ich schaffe es nicht, aufzustehen. Mein ganzer Körper ist wie gelähmt. Kraft gibt es nicht mehr.
Die Vögel sind wieder da. Und diesmal hacken sie unerbitterlicher als je zuvor. Vielleicht schaffen sie es jetzt endlich, mich umzubringen. Ich bete zu Gott, dass er mich zu sich nimmt.

TAG 13

Der Alptraum...Ich hatte ihn völlig vergessen. Jetzt war er wieder da. Hat mir gezeigt, wie das Mädchen gequält und missbraucht wurde. Ihre verdammten Schreie...Ich kann das nicht mehr!
Ich kann einfach nicht mehr! Wenn ich noch ein einziges Mal sehen muss, wie ihr Gesicht sich vor Schmerz verzieht und das Blut über ihre Schenkel läuft, drehe ich durch!

TAG 14

Ich weiß nicht, ob es jemals jemand verstehen wird. Kann sich jemand vorstellen, wie es ist, ICH zu sein? Was für Schmerzen es gibt? Der Alptraum lässt mich nicht mehr in Ruhe. Ich hab meinen letzten Anker ausgeworfen und habe mit meiner Mutter darüber gesprochen. Sie hat gesagt, dass ich mit der Erinnerung leben muss. Schließlich sei es doch gar nicht so schlimm und sie verstehe nicht, was für Probleme ich habe. Ja, sie versteht es nicht. Sie weiß nicht, wie das ist, wenn man gedemütigt, misshandelt, gefoltert...Ich kann nicht damit leben.

TAG 15

Ob sie an meinem Grab stehen werden? Ob Tim bereuen wird, was er mir angetan hat?
Ich weiß es nicht. Ich werde es nicht erleben.
Weißt du, es ist kein Egoismus. Ich verurteile die anderen nicht für das, was sie getan haben.
Ich meine...Es ist doch nicht ihre Schuld. Es ist meine Schuld. Vielleicht könnte ich wirklich mit dem allen leben und weiterkämpfen. Aber ich bin zu schwach. Ich war schon immer schwach.
Ich kann nichts durchhalten. Ich gebe auf. Ein letztes Mal sage ich dir, wie ich mich fühle.
Ein letztes Mal streicht meine Hand über deinen Einband. Wenn es Jemanden gibt, der mich versteht, dann bist du es. Aber du bist nur ein Buch. Und du kannst mich nicht davon abhalten, damit aufzuhören. Deswegen bleibt mir nur, mich von dir zu verabschieden und das Messer zu begrüßen.
Die Adern...Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn sie durchgeschnitten sind. Es ist egal.
Nichts kann schlimmer sein als das.


*Wirklich nicht?*

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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