Paul Schwarz und Ehefrau Dr. Carola gehören der sozialen Mittelschicht an, sie gelten modernsprachlich als DINKS (Double Income No Kids). Sie haben ein gutes Auskommen mit ihrer beider Einkommen; sie als niedergelassene Dermatologin, er als Autor unter dem Pseudonym Joe Black in einem Autoren-Pool für eine Heftreihe erfolgreicher Groschenromane. Eine ihrer bevorzugten Freizeitbeschäftigungen ist das Lesen. Hier haben sie eine ähnlich gelagerte Affinität zur Belletristik. Es sind vor allem die Romane bekannter Schriftsteller der Gegenwart, die die beiden regelmäßig lesen. Da Carola und Paul auch gerne reisen, haben sie eine spezielle Art der Festlegung von Reisezielen: Sie besuchen besonders gerne Gegenden und Orte, die mit ihren favorisierten Autoren in Verbindung stehen. Nachdem sie im letzten Jahr die Neuenglandstaaten in der Heimat John Irvings als Ziel gehabt hatten, ist aktuell der Schauplatz von Isabel Allendes Das Geisterhaus an der Reihe, im tiefen Süden Chiles gelegen.
Auf dem Weg dorthin machen sie einen Übernachtungstopp in der Regionalhauptstadt Temuco. Das Hotel, das sie ansteuern, erweist sich als ein ganz spezieller Ort. Wie sie dort erfahren, war dieses das bevorzugte Hotel des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda gewesen. Während seines Aufenthaltes hier, in Zimmer No.9, hat der Dichter einige seiner berühmten Verse verfasst. Die beiden Schwarz' haben von diesem Dichter zwar schon gehört, nur spielt die Lyrik in ihrem Leben keine bedeutende Rolle - bis dahin. Es ist ein angenehmes Zimmer, ausgestattet mit dem Originalmobiliar aus den Vierzigerjahren, liebevoll restauriert. Originalfotos und andere Exponate um den beeindruckenden Schreibtisch herum sind geschmackvoll in das Ambiente integriert, ohne dass das Ganze museal wirkt. Die beiden Bildungsreisenden erleben in dieser Atmosphäre zwar keine poetische Erleuchtung, aber doch verschafft dieses Flair eine Nähe zur Welt des Dichters.
Nach der Rückkehr von ihrer Reise klingt bei Paul Schwarz besonders der Eindruck des Dichterzimmers nach. Er beginnt, sich mit Lyrik und Poesie zu befassen, er, der Meister der trivialen Erzählungen. Mehrere Tage und Nächte verbringt er dichtend und reimend in seinem Arbeitszimmer. Dann betritt er wieder das Alltagsleben, um seiner Ehefrau seine ersten lyrischen Versuche vorzutragen. Sie hört aufmerksam zu. Dann folgt ein, “Paul, lass es, es ist nicht dein Metier.” Und Paul befolgt den Rat. Nur, von der Lyrik mag er nicht lassen. Wenn er schon nicht als Dichter tätig sein kann, so will er den gereimten Versen als Rezitator dienen. Er befasst sich mit der Kunst des lyrischen Vortrags und lässt dazu seinen sprachlichen Ausdruck schulen. Das, zusammen mit seiner angenehmen Bariton-Stimmlage, wird zum Markenzeichen seiner neuen Tätigkeit: Er tritt als Der Rezitator' öffentlich auf. Seine Auftrittsorte sind nicht die großen Säle oder Hallen, es sind kleinere, wie Cafeterias von Altenheimen, Veranstaltungsräume von Volkshochschulen, oder ganz selten, auch mal die Aula einer Real-Schule. Vorträge bei Richtfesten oder Beerdigungen bleiben die absoluten Ausnahmen. Dieses alles reicht nicht, um außerhalb seiner näheren Umgebung bekannt zu werden, er bleibt eine regionale “Größe” der Vortragskunst.
Doch Paul möchte mehr. Er verlässt das Gebiet der gängigen Gedichte und Balladen, nur Rilke und Fontane, das soll's nicht gewesen sein. Und er wagt sich an Größeres: Schillers Das Lied von der Glocke, Goethes mächtiges Vers-Epos in neun Gesängen, Hermann und Dorothea, sind nur Aufwärmetappen auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, die lyrischen Epen des klassischen Hellenismus'. Die Dramen von Aischilos, Sophokles oder Aristophanes will er vortragen. Goethes Faust mag dann irgendwann auch noch folgen. Aber Paul Schwarz hat sich überschätzt. Diese gewaltigen Textmengen auswendig zu lernen, gelingt ihm nicht. Er versucht, seine Merkfähigkeit zu steigern, indem er 'Hermann und Dorothea, rückwärts auswendig lernt. Er berichtet seiner Ehefrau davon. “Paul, lass es, es ist nicht dein Metier.” Und dieses Mal hört Paul nicht auf seine Frau. Kurze Zeit darauf erleidet er einen Nervenzusammenbruch und muss mit der Diagnose, 'Nervöses Erschöpfungssyndrom', in stationäre Behandlung.
Die anschließende Reha-Maßnahme bringt ihn wieder ins Leben zurück. Er hat während dieser Zeit der Ruhe begonnen, wieder Gedichte zu verfassen, alle sehr poetisch, emotional ansprechend. Dieses Mal sind seine Bemühungen von Erfolg gekrönt. Paul Schwarz wird zu einem der erfolgreichsten Lyriker der Gegenwart. Immer, wenn seine Frau sein Arbeitszimmer, das Zimmer des Dichters betritt, dann vernimmt dieser von ihr ein wohlwollendes, “Paul, das ist es, dies ist dein Metier.”
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.08.2024.
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