Wie an jedem zweiten Sonntag im Monat traf sich Heinz auch heute mit seiner Mutter zu Kaffee und Kuchen in Mutters Stammcafé. Hierhin hatte Heinz sie schon begleitet, als er noch ein Kind war. Seit Jahrzehnten saßen sie an dem extra reservierten Tisch. Mutter mit dem Blick zum Fenster, Heinz ihr gegenüber. Nie schien sich hier etwas zu verändern. Heute allerdings saß Tante Kiki auf seinem Stuhl. Seine Mutter winkte ihm gutgelaunt zu. „Schau, mein lieber Junge. Deine Tante ist auch hier. Sie will allerdings gleich gehen. Onkel Willi wartet zu Hause auf sie. Er kann ja nicht mehr so recht, der Arme.“
Heinz setzte sich dazu. Ehe er den Mund aufmachen konnte, bestellte seine Mutter bereits für ihn. „Ein Kännchen Kaffee und ein Stück Buttercremetorte für meinen Sohn.“ Sie wandte sich ihm zu. „Buttercreme magst du doch so gern, mein Junge, nicht wahr.“ Ohne seine Antwort abzuwarten wandte sie sich ihrer Schwägerin zu. „Heinz war ein unglaublich dickes Kind. Wie es mir nur gelungen ist ihn auf die Welt zubringen, ist mir bis heute schleierhaft. Was waren das nur für Schmerzen! Damals gab es ja keine Schmerzmittel. Aber ich hätte so etwas niemals genommen, dem Kind zuliebe. Es war die Hölle, die reine Hölle. Aber das kannst du nicht beurteilen, Kiki. Du hast ja keine Kinder.“
„Besser ist es“, murmelte die Tante griesgrämig. Sie schien sich für das Thema nicht erwärmen zu können, was Heinz Mutter nicht bemerken wollte. Unbeirrt fuhr sie fort: „Ganz rosa war er, als er schließlich rauskam. Wie ein Ferkel. Was war der Heini doch für ein hässliches Kind. Ich habe einen gehörigen Schrecken bekommen.“ Hier maß sie ihren Sohn mit einem prüfenden Blick. „Ein Glück, es hat sich verwachsen.“
Heinz richtete sich empört auf. „Mutter“, sagte er. „Ich bin über 50 Jahre alt. Musst du die alten Kamellen immer noch herausholen?“
Tanke Kiki rührte energisch in ihrem Kaffee: „ Heinz, du musst es akzeptieren. Deine Mutter hat dich unter Schmerzen geboren, das sind keine alten Kamellen, das ist eine Tatsache. Du solltest ihr auf ewig dankbar sein.“ Sie trank ihren Kaffee aus. „Jetzt muss ich aber los. Willi wartet sicher schon auf mich. Komm doch einmal mit deiner Mutter vorbei, lieber Junge.“ Sie fuhr Heinz über das spärliche Haupthaar und strebte dem Ausgang zu. Eine alte Tante weniger am Tisch. Der liebe Junge sah ihr erleichtert nach.
„Heini, du wirst auch immer dünner und blasser. Kocht sie nicht vernünftig?“, hörte er die Frau, die ihn unter Schmerzen geboren hatte.
„Sie hat einen Namen, Mutter“, erwiderte Heinz genervt. „Und sag nicht immer Heini zu mir“, fügte er hinzu.
„Ich weiß, dass sie einen Namen hat. Und ich weiß, dass sie dich nicht verdient hat.“
„Tatsächlich, das weißt du? Welche Frau hätte mich denn verdient? Nur mal aus Neugier.“
Seine Mutter setzte sich kerzengerade hin. „Die Mutter ist die einzige Frau im Leben eines Sohnes. Jedenfalls sollte das so sein.“
„Ach wirklich? Das hätte aber fatale Folgen auf die Erhaltung der Art...“
„Was redest du da für ein Zeug, Heini! Du klingst schon wieder so eingebildet!“
Heinz war empört. „Wie jetzt, eingebildet. Sag so was nicht. Und sag nicht immer Heini zu mir!!!“
Seine Mutter gönnte sich einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortete. „Also das ist nicht von mir. Dass du eingebildet bist, hat eine gewisse Person neulich am Telefon gesagt. Er ist ganz schön eingebildet. Das hat sie gesagt, deine Frau.“
„Das glaube ich nicht. Sicher hat sie etwas anderes gemeint ...“
Seine Mutter unterbrach ihn genüsslich. „Sie sagt du bist eingebildet und du lässt den Klodeckel immer auf. Sag mal, puscht du etwas im Stehen?“
Heinz verschluckte sich an seinem Kaffee. „Also wirklich, Mutter. Es gibt Grenzen des guten Geschmacks.“
„Junge“, erklärte seine Mutter mit erhobenem Zeigefinger, „du solltest dir angewöhnen im sitzen zu puschen. Das ist eine Frage der guten Erziehung. Und habe ich dich nicht perfekt erzogen? Wie kannst du nur!“
„Wunderbar. Hat sie etwa noch mehr aus dem Nähkästchen geplaudert?“
„Nun, wo du es ansprichst. Sie hat so ganz nebenbei erzählt, dass du am Abend immer müde bist und dass du nicht mehr deinen Mann stehst. Wenn ich das mal so ausdrücken darf.“
„Na hör mal, ich bin über 50 Jahre alt. Also nicht mehr der Jüngste. Wen meint sie geheiratet zu haben? Casanova?“
„Schon gut mein Junge. Vielleicht kann ich helfen. Ich habe ein kleines Buch, das deinem Vater und mir sehr viel Freude bereitet hat.“ Seine Mutter kicherte verschämt. „Es ist das Buch ‚Die Freuden der Ehe’ von Doktor Julius Mümmelmann. Wenn du es einmal haben möchtest. Alt genug dafür bist du ja.“
Heinz holte tief Luft. „Das Buch habe ich schon mit 12 gelesen. Ihr hättest es besser verstecken sollen.“
Seine Mutter lächelte maliziös. „Tatsächlich? Dann solltest du aber wissen, wie es besser geht. Vielleicht solltest du dir das Buch doch noch einmal ausleihen. In deinem Alter kann man schon vergesslich werden.“
„Mutter, ich will nicht darüber reden! Überhaupt geht dich das nichts an!“
Sie zuckte mit den Schultern. „Dann sollten wir das Thema beenden. Was du auch immer erzählst, Heini. Lass das bloß nicht deine Frau hören.“ Sie wandte sich an die Bedienung. „Herr Ober, zahlen bitte.“
„Sehr wohl, Rechnung kommt gleich.“
Die Mutter wandte sich verschwörerisch ihrem Sohn zu. „Der Ober ist ein Grieche. Er kommt aus Istanbul.“
„Türkei, Mutter. Istanbul liegt in der Türkei.“
„Sagte ich dir, dass du ziemlich eingebildet bist? Aber das meine nicht nur ich.....“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2024.
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