Der Küchenboden war eiskalt. Trotzdem blieb ich sitzen und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Es stürmte und der Regen peitschte an die Scheibe.
Schnell wischte ich stumme Tränen aus meinem Gesicht. Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit tobten in mir, wie der Sturm draußen. Ich nahm einen weiteren Schluck aus der Weinflasche. Der innerliche Sturm beruhigte sich ein wenig. „Wie konnte ein Mensch nur so bösartig sein“, dachte ich. Ich trank einen weiteren Schluck. Ich wäre eine versoffene Psychopathin, die es noch nicht mal schafft, ihr Kind lebend zur Welt zu bringen, hat sie im Ort rum erzählt.
Mein Kind ja, wie wäre es geworden? Wie hätte es ausgesehen? Hätte es meine Augen gehabt, wäre es genauso quirlig und lebendig, chaotisch wie ich geworden? Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Bei allem, hätte ich dieses Kind bedingungslos geliebt und in allem unterstützt. Geborgenheit, Wärme und Sicherheit gegeben.
Wieder rollten dicke Tränen über meine Wangen.
Auf allen Vieren kroch ich zur Schublade, öffnete sie und nahm ein Teelicht heraus. Ich zündete es an und stellte meine kleine Schutzengelfigur daneben. „Egal, wo du jetzt bist, egal wie du damals entstanden bist, hätte ich gewusst, dass es dich gibt, wäre ich ganz anders mit meinem Körper umgegangen. Es tut mir leid. Ich liebe dich.“
Der Schmerz traf mich mit voller Wucht. Ich krümmte mich auf dem kalten Boden, bekam kaum Luft.
Langsam richtete ich mich schließlich auf und schaltete das Licht in der Küche aus.
Aus dem Kühlschrank nahm ich eine weitere Flasche Wein und öffnete sie. Der große Schluck beruhigte mich.
Vor drei Jahren sind wir beide in das gemeinsames Mehrfamilienhaus eingezogen. Sie mit ihrer kleinen Tochter und ich alleine. Schnell hatten wir uns angefreundet. Nach und nach, hatten wir angefangen, uns gegenseitig persönliche Dinge zu erzählen.
Ich konnte froh sein, dass nach drei Jahren eine andere Nachbarin den Mut gefunden hatte, mir zu erzählen, was diese Person hinter meinem Rücken trieb, auf meine Kosten.
Jetzt wusste ich, warum mich keiner mehr grüßte, Menschen im Ort teilweise die Straßenseite wechselten, wenn sie mich sahen.
Stumm starrte ich in den Kerzenschein und spürte gar nichts mehr. Eine elende Leere.
Ich saß in meinem dunklen Kinderzimmer. Es war kalt. Ich hatte Angst. Ich hatte etwas Böses getan. Mama wird bestimmt gleich kommen, um mich zu bestrafen. Irgendetwas krachte draußen. Ich schreckte hoch. Mein Körper zitterte unaufhörlich.
Ich betrachtete meine Hände, ja, es waren meine, das wusste ich. Wie in Trance zog ich mich an der Arbeitsfläche hoch und zog die Besteckschublade auf. Ich sah das Messer in meiner Hand. Mit der Klinge schnitt ich in meinen linken Unterarm.
Ich spürte den Schmerz, sah wie Blut auf die Fliesen tropfte.
„Verdammt noch mal!!! War denn alles umsonst?!“ Was hatte ich in er Traumatherapie gelernt? „Na toll, anderen Menschen vertrauen“, schimpfte ich. Und was hatte ich jetzt davon. Kompletten Rückfall! „Ich kann doch nie wieder vor die Tür, du verdammtes Miststück!“, brüllte ich zur Decke. „Warum bin ich auf dich unmenschliches Wesen reingefallen?!“
Ich faltete meine Hände. „Lieber Gott, bitte hilf mir, gib mir die nötige Kraft. Bitte.“
Die Zeit verstrich, nach einer weiteren leeren Flasche Wein und erloschenem Teelicht, krabbelte ich unter meine Bettdecke und zog diese übern Kopf.
„So liebe Mitmenschen, NICHT mit mir!“
Als ich am nächsten Morgen erwachte, brummte mir der Schädel. „Na toll, das hast du nun davon“, schimpfte ich mit mir.
Die genommene Dusche tat gut und erweckte einigermaßen meine Lebensgeister.
Ich machte mich hübsch zu recht, so gut es ging und ging raus.
Jedem dem ich begegnete grüßte ich fröhlich und ähm ja herzlich.
So machte ich das jeden Tag, bis auch ich wieder auf die gleiche Weise zurück gegrüßt wurde und meine Mitmenschen sich sogar mit mir unterhielten.
Auch wenn man unverschuldet an einer psychischen und dadurch an einer Sucht erkrankt, heißt es noch lange nicht, dass wir schlechte Menschen sind. Nichts passiert ohne Grund. Für das Umfeld mag es nicht leicht sein.
Aber für uns Betroffene umso schwerer. Das Umfeld kann sich abwenden und gehen. Aber versuchen Sie mal von sich selber weg zu gehen…..
Es bedeutet wahnsinnig viel Kraft, gegen solche Menschen, wie meine Nachbarin und gleichzeitig gegen so eine Krankheit zu kämpfen und zu leben.
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tanja Schwabe).
Der Beitrag wurde von Tanja Schwabe auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.09.2024.
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