Angie Pfeiffer

Regenträume

Seit drei Tagen Dauerregen und kein Ende abzusehen! So habe ich mir die schwer erkämpften freien Tage auf dem Campingplatz nicht vorgestellt. Ich träumte von Sonnenstrahlen, die mich wach kitzeln, dem ausgedehnten Frühstück auf der kleinen Terrasse, Eiskaffee am Nachmittag und lauen Abenden mit Rotwein und Kerzenschein – das ist Glück.
Frustriert mache ich mich während einer Regenpause für die nachmittägliche Pflichtrunde mit den Hunden fertig. Heute bin ich schon zweimal richtig nass geworden, denn ich habe, Optimistin, die ich bin, beim Gassi gehen auf einen Regenmantel und die Gummistiefel verzichtet. Das passiert mir nicht noch einmal, also ab in die Regenkluft und los geht’s. Die Dackel schauen mich missmutig an, denn selbst sie scheinen keine Lust zu haben im Regen herumzutappen. Doch darauf werde ich keine Rücksicht nehmen und nach einem kräftigen Ruck an der Leine folgen sie mir unwillig durch die kleine Pforte auf den düsteren Waldweg. Hier tropft es von jedem Ast, von jedem Blatt und selbst die Bäume sehen traurig aus. Im Gehen sinniere ich: Wieso bin ich nur auf die dämliche Idee gekommen, ausgerechnet hier Urlaub zu machen. Das ist ja wieder typisch. Kaum bin ich da, regnet es in Strömen. Was will ich eigentlich in diesem kleinen Kaff mit seinen spießigen Einwohnern und was will ich auf einem Campingplatz?
Ich wollte einmal die Welt erobern, wollte alle großen Städte sehen, jeden Tag Action haben und mich niemals langweilen. Wollte von der Golden Gate Bridge spucken, sehen, wie der Sonnenuntergang den Ayers Rock blutrot färbt, wie Marilyn im gelben Regenmäntelchen unter den Niagarafällen posieren, und wie in einem Agatha Cristie Roman stilgerecht auf dem Nil kreuzen. Die große weite Welt erobern und dort mein Glück suchen. Und jetzt sitze ich im Harz in einem verdammten Regenloch!
Wir sind an einem kleinen, verschwiegenen See, mitten im Wald angekommen. Ganz in Gedanken habe ich einen unbekannten Weg eingeschlagen, hier war ich noch nie. Wie friedlich es ist. Eine kleine Holzbrücke führt über das Wasser. Ich bleibe mitten auf der Brücke stehen, lehne mich an das Geländer und versinke weiter im Selbstmitleid. Ich wollte die Welt sehen, jeden Tag Action haben – das ist Lebensqualität!
Plötzlich geschehen mehrere Dinge auf einmal: Die Wolkendecke reißt auf und ein glitzernder Sonnenstrahl lässt das Wasser silbern glänzen. Gleichzeitig spiegeln sich die umliegenden Bäume darin, bewegen sich sanft in den kleinen Gluckerwellen, die auf dem See schaukeln. Ein dicker Karpfen steckt sein rundes Kussmaul aus dem Wasser, er scheint mir zuzuzwinkern und eine Entenmama kommt mit ihren puscheligen Küken unter der Brücke hervor. Die Kleinen scheinen die ersten Schwimmversuche zu machen und bemühen sich ganz dicht bei der Mutter zu bleiben, purzeln fast übereinander. Unwillkürlich muss ich lächeln, schaue erst auf das Schauspiel und dann fällt mein Blick auf die Dackelgang. Die Zwei sitzen nah zusammen, schauen zu mir hoch und lächeln mich an, jedenfalls sieht es so aus.
Und plötzlich weiß ich, dass ich alles richtig gemacht habe. Sicher ist es aufregend und toll, die große, weite Welt zu sehen, aber das hier ist meine kleine, heile Welt, mein Ruhepunkt im manchmal so hektischen und aufreibenden Alltag – und das ist mein ganz persönliches Glück!

Nachtrag:

Von der Golden Gate habe ich nicht gespuckt (weil ich mich das nicht getraut habe). Alles andere habe ich erlebt.
Trotzdem schließe ich mich Dorothy an, wenn sie sagt: „Am Schönsten ist es doch daheim.“

…und rote Schuhe habe ich auch…

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.09.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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