Susanne Kamlott

Alice

An langen Ketten hingen die aus Metall gefertigen Sitzkörbe und baumelten, vom Wind bewegt, in der Luft.

Ein einzelner Gast hatte in einem der pinkfarbenen Körbe Platz genommen. Der Mann trug einen grünen Pullover.
Um die Mittagszeit war es unerträglich heiß geworden. Die Luft stieg die Holztreppen des Karussells hinauf und ließ die Sitzkörbe rasselnd zusammenstossen.
Der Platz vor dem Karussell war leer und die wenigen Besucher hielten sich bei Bier und Schnaps in dem aufgeheizten Festzelt auf.
Zwischen den Buden trieb der Wind trockenes Zweigwerk vor sich her.
Aus den Boxen grölte das Lied verdammt, ich lieb dich, ich lieb dich nicht...
Alice hatte das Lied nie gemocht. Lautlos setzte sich das Karussell in Bewegung.
Die Ketten schwangen auf. Immer schneller und höher hoben sich die Körbe in die Luft und surrten um die mit einer in Pastellfarben bemalten Meerjungfrau Drehsäule.
Die pralle Sonne schien unerbittlich. Alice musste unter das Dach des Kassenhäuschen gehen, um der Hitze zu entfliehen.
Das Karussell hatte sich wieder verlangsamt und das Lied, verdammt, ich lieb dich, ich will dich nicht verlier`n, wurde immer leiser und mit einem schnarrenden Geräusch endete es abrupt.
"Möchten Sie fahren?" Die Stimme hinter Alice hatte einen osteuropäischen Akzent.
"Ich warte auf jemanden", antwortete sie kleinlaut. Instinktiv hatte sie gelogen.
"Ich schenke Ihnen eine Runde, sagte der Mann im grünen Pullover.
"Gehört das Karussell Ihnen?" fragte Alice.
"Könnte man so sagen." antwortete der Mann.
Unschlüssig standen sie zwischen den Kettenkörben, die im Wind hin und her streunten und rasselnd aneinanderstießen.
"Nehmen Sie den", der Mann hielt ihr einen Korb einladend entgegen.
"Der ist neu und nicht so hart wie die anderen", sagte er etwas unbeholfen.
Alice sah, dass der Korb aus einem anderen Material gefertigt war.
Einen Moment zögerte sie noch. doch dann stieg sie ein und hängte die Kette über ihren nackten Beinen in den Haken.
Der Wind hatte zugenommen und sauste durch ihr Haar. Alice lehnte sich zurück.
Hast du etwas Zeit für mich? Dann singe ich ein Lied für dich. Von 99 Luftballons. Auf ihrem Weg zum Horizont, schnarrte es laut aus den Boxen.
Das war eines ihrer Lieblingssongs. Das Karussell nahm Fahrt auf. Immer höher stiegen die Körbe. Alice war nun allein hoch oben in der Luft. Die Jahrmarktbuden zogen vorbei, dann die Häuser der Stadt, Bäume, Äcker, Windräder. Der Staub, der durch die trockenen Furchen der Landschaft wehte, stieg höher und höher und hinterließ milchgraue Schlieren am Firmament.
Nena und die Luftballons zogen unbeteiligt vorüber. In all das wollte sich Alice nur noch zurücklehnen. Sie schob ihre Hände an den Ketten empor, als wollte sie diese nie mehr loslassen.
Erst als die letzten Klänge von Nenas Song verstummten, merkte Alice, dass das Karussell bereits zum Stehen gekommen war.
Sie öffnete die Kette und stieg aus.
Der Mann hatte seinen grünen Pullover ausgezogen. Seine dunkle, auf den Armen mit Schlangen tätowierte Haut, glänzte in der Sonne.
Er stand jetzt dicht vor ihr und Alice sah weitere Tätowierungen durch sein verblichenes T-Shirt schimmern. Am Hals lugten zwei Drachenköpfe hervor, die sich bis zu den Ohren hinzogen.
"War es schön?" Seine Augen strahlten wie das eines Kindes.
"Ich muss gehen", sagte sie in einem Stakkato, dass ihr selbst fremd vorkam.
"Wohin?" Er schaute sie neugierig an.
Ja, wohin, das wusste sie auch nicht.
"Hier, nehmen Sie ein Schluck Wasser". Er reichte ihr ein Glas. Sie zögerte einen Moment. Doch dann ließ sie sich auf den Holzdielen nieder und lehnte sie an die Wand des Kassenhäuschen, dessen blaue Farbe an einigen Stellen schon abgeblättert war.
Er setzte sich neben sie und schlang einen Arm um ihre schmalen Schultern. Alice mochte seinen Geruch nach Tabak und Rasierwasser.
Um die Mittagszeit war es still geworden auf dem Platz.
Alice hörte seinen Atem. Ihr Herz pochte wild, wie das eines fliehenden Fohlens.
Er zog sie zu sich heran und küsste sie schüchtern auf den Mund. Sie wollte sich wehren, doch etwas in ihr ließ es zu. Alice mochte seine starken Arme, die sie festhielten und näher zu sich heranzogen.
Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus ihrer Handtasche und schaltete es aus.
"Your friend," fragte er. Sein Englisch hatte überhaupt keinen osteuropäischen Akzent, sondern klang ziemlich amerikanisch.
"Where are you from?" Ihr Englisch war nicht sonderlich ausgeprägt, dennoch war Alice neugierig geworden. Sein amerikanischer Akzent gefiel ihr. Er drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und reichte sie ihr einladend. Alice nahm einen tiefen Zug, obwohl sie nie rauchte.
"Rumänien", sagte er wieder mit einem osteuropäischen Akzent.
"Nicht Amerika"? Alice war enttäuscht.
"Meine Familie ist seit Generationen im Schaustellergewerbe tätig", sagte er lakonisch.
"Und das Amerikanische"? Sie merkte, dass das komisch klang.
"Oh, my dear," seine rauchige Stimme machte sie an und Alice spürte den unwiderstehlichen Drang mit ihm zu schlafen.

Sie hatten sich in der Enge des Kassenhäuschen geliebt. Alice hatte den Geschmack des filterlosen Tabaks noch auf der Zunge, hatte den Geruch des tätowierten Körpers, eine Mischung aus öligen Schweiß und Zimt, noch in ihren Haaren, als sie am Morgen die Vorhänge ihrer Dachwohnung zurückzog und ihre Augen vergeblich das Karussell mit den pinkfarbenen Körben und dem blauen Kassenhäuschen suchten.
Der Platz unten war jetzt leer. In der Nacht hatte es geregnet. Wasserlachen, in denen sich die Wolken spiegelten, hatten den Platz vereinnahmt.
Alice öffnete das Fenster und der Duft von wilden Hibiskusblüten strömte in ihr Zimmer.










 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.09.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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