Sie kam nur mühsam zu sich. Alles um sie herum schien verzerrt, verschwommen. Erschöpft schloss sie die Augen, doch der Schmerz holte sie wieder an die Oberfläche zurück. Dumpfer Schmerz, überall.
„Können Sie mich hören“, im Hintergrund redete jemand. „Können Sie mich ansehen?“
Flatternd öffnete sie die Augen. sah chromblitzendes Weiß. Eine Krankenschwester stand an ihrem Bett, schaute sie prüfend an. Langsam kam die Erinnerung wieder. Die Operation war überstanden.
Wieder überrollte sie eine Welle des Schmerzes. Sie schloss die Augen, versuchte ihre Atmung in den Griff zu bekommen. Diese Anstrengung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Entschlossen konzentrierte sie sich weiter auf den Atemvorgang. Langsam wurde der Schmerz etwas erträglicher. Sie tauchte aus der merkwürdigen Unwirklichkeit auf. „Mein Mann“, flüsterte sie.
„Er hat sich bis jetzt noch nicht gemeldet, sicher ist er gleich bei Ihnen“, beruhigte die Krankenschwester.
„Wie spät …“, sie konnte sich daran erinnern, dass sie am frühen Morgen in den Operationsraum gekommen war.
„Es ist jetzt 18 Uhr.“
Sie schnappte nach Luft, was eine unerträgliche Schmerzwelle auslöste.
Die Schwester legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ganz ruhig“, und erleichtert, „da ist Ihr Mann.“
Wirklich stand er plötzlich neben dem Bett, schaute sie prüfend an. „Alles gut überstanden!“
Das Antworten übernahm die Krankenschwester. „Ihre Frau hatte während der OP einen Herzstillstand. Sie sollten mit dem Arzt reden.“
„Ich soll …“, der Gedanke an ein klärendes Arztgespräch schien ihn zu beunruhigen. „Vielleicht später. Ich habe nicht viel Zeit.“
Sie schloss wieder die Augen, blendete ihn aus, fiel schließlich zurück in den Dämmerzustand, in dem sie die Schmerzen ertragen konnte.
Jahresanfang, die Routineuntersuchung bei ihrer Gynäkologin war wieder einmal fällig. Sie hatte sich schon gedacht, dass dieses Mal nicht alles so reibungslos wie sonst verlaufen würde, denn sie hatte in letzter Zeit heftige Schmerzen im Unterbauch. Nach einer Reihe von Untersuchungen riet man zu einer Hysterektomie, der sie mit gemischten Gefühlen entgegensah, im Gegensatz zu ihrem Mann. „Gut, dann kannst du wenigstens keine Kinder mehr kriegen“, war sein lapidarer Kommentar. Sie sagte wie immer nichts dazu, denn sie hatte sich schon vor langer Zeit abgewöhnt, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das brachte sowieso nichts und führte nur zu unnötigem Stress.
Am Tag vor der Operation fuhr sie allein zum Krankenhaus. Er begleitete sie nicht, war, wie üblich, nicht abkömmlich. Sie sollte gleich früh am nächsten Morgen operiert werden. Bei dem Gedanken daran wurde ihr mulmig. Sie nahm den Telefonhörer ab, sollte sie ihn um seine Gesellschaft bitten? Seufzend legte sie wieder auf, er würde sowieso nicht kommen, einen fadenscheinigen Grund für sein Nichterscheinen finden.
Nach einer langen Nacht und einer noch länger erscheinenden Wartezeit am Morgen kam sie schließlich an die Reihe. Die Operation sollte mit einer Periduralanästhesie durchgeführt werden. Der Narkosearzt hatte sie dazu gedrängt, obwohl sie eigentlich lieber eine ganz normale Narkose gehabt hätte: Einschlafen und nach der OP wieder aufwachen, ohne etwas mitbekommen zu haben. Der Narkosearzt schilderte die von ihm vorgeschlagene Methode als sehr sicher, redete lange auf sie ein. Schließlich willigte sie ein.
Im Operationssaal setzte sie sich auf die Liege. Der Narkosearzt werkelte an und in ihrem Rücken herum. Desinfizierte, betäubte die vorgesehene Einstichstelle, legte eine Kanüle.
Ihr wurde übel. „Das ist sicher die Aufregung“, sagte sie sich.
Einer der Ärzte schaute sie prüfend an. „Du meine Güte“, meinte er, „Sie werden ja ganz blass um die Nase.“
In ihrem Kopf begann es zu summen, erst leise und dann immer lauter, während es ihr speiübel war. „Ich muss mich hinlegen“, stammelte sie. Das Summen übertönte alle Geräusche um sie herum, nahm den ganzen Raum ein. Dass letzte was sie registrierte, waren Hände, die sie stützen, dann wurde mit einem Schlag alles um sie herum totenstill und pechschwarz.
Als sie das nächste Mal wach wurde, befand sie sich schon in einem ganz normalen Krankenzimmer. Eine junge Frau lächelte sie vom Nachbarbett aus an. „Sie waren aber ganz schön weggetreten. Geht es jetzt?“
Mühsam erwiderte sie das Lächeln. „Ja, schon. Wie lange bin ich hier im Zimmer?“
„Wissen Sie das denn nicht? Seit gestern Abend, jetzt ist es“, ein Blick auf die Uhr, „fast Zeit für das Mittagessen.“
Wie auf Kommando öffnete sich die Zimmertür und eine routinemäßig lächelnde Krankenschwester balancierte Tabletts.
Sie winkte müde ab. „Ich kann nichts essen, wenn Sie gleich etwas gegen die Schmerzen hätten.“
Die Schwester zuckte die Schultern. „Wie Sie möchten, ich komme gleich noch einmal und gebe Ihnen ein Schmerzmittel in den Tropf.“
Später kam der Narkosearzt mit einem Kollegen vorbei, um ‚nach ihr zu schauen‘, wie er es ausdrückte. „Sie bekamen während der Periduralanästhesie einen Herzstillstand. Aber keine Sorge, wir hatten alles im Griff. Die Operation ist wie geplant durchgeführt worden.“
Sie hörte die Worte wie durch einen Vorhang, das Schmerzmittel wirkte endlich. Eigentlich war ihr alles egal, sie wollte nur schlafen und keine Schmerzen haben.
„Es wird Zeit, dass du dich wieder hier blicken lässt. Ich habe kein sauberes Hemd mehr im Schrank.“
Sie musterte ihren Mann kurz und ging an ihm vorbei. Heute war sie aus dem Krankenhaus entlassen worden. Natürlich hatte er sie nicht abgeholt.
„Termine, die Arbeit ist eben wichtiger, das musst du doch einsehen, schließlich lebst du von meinem Geld.“
So war sie allein nach Hause gefahren, hatte sowieso nicht mit ihm gerechnet.
„Wieso sagst du gar nichts, ist irgendetwas?“ Ihr Schweigen schien ihn zu irritieren. Offensichtlich hatte er mit Vorwürfen gerechnet.
„Was soll ich sagen?“ Wieder wandte sie sich ab.
Während des recht langen Krankenhausaufenthaltes hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ein Satz hatte sich in ihrem Hirn eingenistet. Erst war er klein gewesen und leise. Doch je weiter der Genesungsprozess fortschritt, umso mehr wuchs dieser Satz, bis er riesig geworden war und laut.
„Was wäre gewesen …“
Was, wenn ihr Leben im Operationssaal beendet gewesen wäre?
Sie hatte keine grünen Wiesen gesehen, keine blühenden Landschaften und schon gar kein Licht. Da war nichts, nur undurchdringliche Schwärze, Leere, Kälte und Vergessen. Sie war immer lebensbejahende Frau gewesen, hatte viel gelacht, Spaß an allem und jedem gehabt. War wissbegierig und neugierig. Wollte so viel erleben und ausprobieren. Irgendwann war diese Frau verschwunden. Zurück blieb eine Person, die allen Konflikten aus dem Weg ging, die versuchte alles recht zu machen. Die ständig hinterher lief und doch niemals ankam. Sie hatte lange nachgedacht und plötzlich war ihr klar, dass sie eine zweite Chance bekommen hatte. Das sie endlich wieder leben konnte, so wie sie es wollte. Dass sie es ihm niemals recht machen würde und es deshalb auch gleich lassen konnte.
„Ich habe nachgedacht“, begann sie zögernd.
„Ach, das ist ja mal ganz was Neues.“
Plötzlich packte sie die Wut. So zornig war sie seit Jahren nicht mehr gewesen und irgendwie genoss sie es. „Ich werde dich verlassen. Ich will so nicht mehr leben und jetzt verschwinde und lass mich einfach in Ruhe!“, schrie sie ihn an.
Verblüfft musterte er sie, drehte sich dann auf dem Absatz um und verließ das Zimmer.
Sie blieb einige Minuten reglos stehen. Dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Erst ganz zaghaft und dann lachte sie laut los. Entschlossen schaltete sie das Radio ein.
„Tja, mein Junge, dann wirst du wohl lernen müssen, wie man seine Hemden selbst wäscht und bügelt!“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2024.
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