Viola Huber

Wenn Schutzengel Fehler machen...

Ich sitze im Gras und starre ins Wasser des Baches, der vor mir seinen Weg durch die grüne Wiese windet. Nicht weit entfernt von mir ist sie, die dicke Nebelwand. Eine Grenze; nein, ein Vorhang. Doch ich kann hindurch sehen, in eine andere Welt.
Ich kann sie sehen, mein Menschenmädchen. Sie, die ich mit aller Macht beschützen wollte, und der ich so viel Leid gebracht habe. Sie sitzt in ihrem Zimmer und grübelt, während ich hier, weit entfernt von ihr, dasselbe mache...

Ein ganzes Jahr ist es nun her, seit wir uns damals trafen. Ich suchte sie auf, eine Tat, die unsereins verboten ist. Trotzdem tat ich es. Heute weiß ich, weshalb es verboten ist. Heute weiß ich, es war leichtsinnig, aber zu der Zeit wollte ich Freundschaft mit ihr. Damals sagte ich ihr, ich sei weder Engel noch Geist: „Ich bin einfach ich.“ Aber sie suchte nach einem Ausdruck, den sie gebrauchen konnte. So benutzte sie das englische Wort “Spirit“, was übersetzt “Geist“ bedeutet. Natürlich habe ich auch einen Namen. Mein Schützling kannte ihn. Kaum daß ich da war, wußte sie, wer ich bin. Sie sprach mit mir, als wäre ich ein ganz normaler Junge, und nicht etwa für das menschliche Auge unsichtbar. Zuerst konnte ich nicht genau sagen, wie lange ich bei ihr bleiben wollte. Nur ein paar Tage, hatte ich mir vorgenommen. Nicht lange, und das sagte ich ihr auch. Doch ich blieb länger. Zu lange. Weil sie es so wollte - und weil ich es wollte. Ein Schutzengel, der sich aktiv ins Leben seines Menschen einmischt - es war unerhört, und doch blieb ich bei ihr. Wir lernten uns kennen, nach und nach. Wie sich Menschen untereinander eben kennen lernen. Ich sprach nicht nur mit ihr, ich zeigte mich ihr so, daß sie mich mit ihren Augen sehen konnte. Auch dies ist verboten, aber ich tat es. Warum, weiß ich nicht. Es geschah einfach.
Anfangs, am ersten Tag, hatte sie wahnsinnige Angst vor mir. Sie konnte nicht glauben, daß ich körperlos mit ihr reden konnte. Trotzdem spürte sie mich. Ich drang mit all meiner Kraft in ihren Geist ein und fing an, mit ihr zu sprechen, obwohl sie sich sträubte. Irgend etwas zwang mich dazu, sie dazu zu zwingen, mir zuzuhören. Ich wollte den Kontakt - ich wollte Freundschaft. Und die bekam ich auch. Bereits nach drei Tagen hatte mein Menschenmädchen sich daran gewöhnt, daß ich aktiv bei ihr war, als wäre ich einer ihresgleichen. Sie redete mit mir - manchmal laut, manchmal im Geist - als wäre ich ein ganz normaler Mensch. Doch nur sie allein konnte mich sehen. Darum blieb meine Anwesenheit, der Kontakt zwischen uns, unser Geheimnis. Selbst ihrem Tagebuch vertraute sie dies nicht an. Tag für Tag kamen wir uns näher, lernten uns mehr und mehr kennen. Wir verstanden uns, waren auf der gleichen Wellenlänge. Sie wollte mich nie mehr fort lassen, während ich nie mehr von ihr weg wollte. Und eines Tages geschah es: Wir küßten uns zum ersten Mal.
Ich weiß, es war ein Fehler. Ich hatte etwas getan, was noch viel verbotener als nur verboten war! Ein regelrechtes Verbrechen. Aber ich hatte es getan, ich hatte mich einfach in meinen Schützling verliebt. Sie liebte mich auch, zumindest sagte sie das ein paarmal.
Ich blieb lange bei ihr, über ein halbes Jahr. All die Regeln, die ich damit brach, zählte ich gar nicht mehr. Wieso auch? Es war ohnehin schon passiert. Mir war alles egal. Hatten nicht auch Engel das Recht, einfach nur Mensch zu sein?
Erst, als es viel zu spät war, wurde mir bewußt, was ich getan hatte. Kaum merklich, fast schleichend ging es meinem Menschenmädchen nach und nach immer schlechter. Sie bekam Depressionen, Angstzustände. Schließlich dachte sie sogar an Selbstmord. Konnte ich sie in dieser Situation allein lassen, einfach im Stich lassen? Nein! Ich mußte bei ihr bleiben! Also blieb ich. Tagsüber und auch Nachts, wenn sie vor Angst nicht schlafen konnte. Ich beschützte sie vor schlimmen Träumen, erzählte ihr Geschichten, damit sie die Angst verlor. Ich war ihr Freund, aber ich wußte, daß ich gleichzeitig auch ihr schlimmster Feind war. Das Mädchen hatte Angst, mich zu verlieren, wußte aber auch, daß sie mich loswerden mußte. ICH hatte sie in diesen Zustand gebracht; es war meine Schuld! Gut, mein Schützling hatte es zugelassen - aber es war ich, der damals, bei unserer ersten Begegnung, so lange nicht locker ließ, bis sie den Widerstand aufgab. Alles nur, weil ich einen Freund suchte. Die Situation schien auswegslos. Entweder, unser Geheimnis mußte auffliegen, oder aber mein Schützling würde sich irgendwann tatsächlich etwas antun. Die Vernunft siegte. Mein Menschenmädchen entschied sich dafür, zu kämpfen. Sie erzählte ihren Eltern von mir, besprach ausführlich die Situation, in der sie sich befand, und schließlich trafen sie gemeinsam die Entscheidung, daß das Mädchen zum Arzt gehen sollte. Das tat sie dann auch. Der Arzt hörte ihr aufmerksam zu und stellte eine Psychose fest, weshalb er sie an einen Spezialisten weiterempfahl... Diagnose: Schizophrenie.
Es traf mich wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht! Ich sollte mein Menschenmädchen beschützen und habe sie stattdessen krank gemacht. Ich existiere nicht; ich habe nie existiert - nicht in ihrer Welt. Nur in ihrer Phantasie. Es war für uns beide wie ein schöner Traum, der zum Alptraum wurde. Es war sehr schwer, das Ruder noch einmal herumzureißen. Wir waren einander all die Monate so vertraut geworden, daß eine Trennung fast unmöglich schien. Nur langsam gewöhnten wir uns an den Gedanken, Abschied zu nehmen. Nach und nach bereiteten wir uns darauf vor. Wir wußten, dies war der einzige Ausweg.
Eines Nachts kam ich einfach nicht zu ihr, obwohl sie mich rief. Da merkte mein Menschenmädchen, daß es auch ohne mich geht. Am nächsten Tag ging alles sehr schnell. Ich ging zu ihr, um mich zu verabschieden. Es war nur noch ein Schritt nötig: Sie mußte mich loslassen, sonst konnte ich nicht fort.
“Laß mich gehen“, sagte ich, “du brauchst mich doch gar nicht mehr.“
Und sie spürte, daß ich recht hatte...

Seit unserer ersten Begegnung ist mehr als ein Jahr vergangen. Den Kontakt zu meinem Schützling habe ich inzwischen abgebrochen. Unsere Wege mußten sich trennen; ich mußte die Welt meines Menschen verlassen. Ich ließ das Mädchen zurück, in der Obhut ihrer Eltern und der Ärzte. Ich mag sie immer noch sehr, und ich möchte, daß sie wieder gesund wird. Darum bin ich jetzt wieder da, wo ich hin gehöre. In meiner Welt. Wo mich kein Mensch sehen kann. Und hier bleibe ich. Denn heute weiß ich: Engel dürfen keine Fehler machen...

(25. 08. 2003 © by Viola Huber)

Ich gebe zu, dies ist eine ziemlich außergewöhnliche Geschichte. Vielleicht werden einige Leser sich wundern, weshalb ich sie nicht unter der Rubrik "Engel" eingeteilt habe. Der Grund ist, daß ich diese Geschichte aufgrund einer wahren Begebenheit geschrieben habe. Wem diese Geschichte passiert ist, wann und wo sie passiert ist, gehört meiner Meinung nach nicht hierher. Deshalb habe ich die Geschichte aus der Sicht der "anderen Seite" geschrieben, nicht aus der Sicht der erkrankten Person.

Viele, denen ich die Geschichte vorgelesen habe, sagten, sie würde sehr zum Nachdenken anregen, sei gleichzeitig schön und traurig. Wenn das stimmt, bin ich froh, daß sie so geworden ist, denn dies war mein Ziel: die Leute zum Nachdenken anregen.

Viola Huber
Viola Huber, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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