Während das heiße Wasser aus dem riesigen Duschkopf über meinen Kopf prasselt, pfeife ich den Refrain des alten Schlagers „La Paloma“. Wer es schon mal ausprobiert hat, weiß, wie schwierig es ist, unter der Dusche zu pfeifen. Singen ist kein Problem, aber pfeifen … Seit ich meinen Schnurrbart schön buschig wachsen lasse, funktioniert das Pfeifen wunderbar und ich kann mir selber vormusizieren, während ich mich wasche. Ich bin guter Laune, weil Eleonore, meine Schreibgefährtin aus der Kontaktplattform, endlich zu einem persönlichen Treffen ihre Zustimmung gab. Wir waren sehr lange umeinander herumgetänzelt mit unseren Nachrichten, die wir uns schrieben. Heiße Phasen mit leidenschaftlichem Schlagabtausch waren durchsetzt mit tagelangen Schweigeperioden von ihrer Seite. Ich war mehr als einmal der Verzweiflung nahe, aber ich hatte mich in ihre Bilder, ihre Texte und ihren Humor verliebt, zumindest fühlte es sich so an.
Ich massierte das Duschgel in meine zugegebenermaßen schon lichten Kopfhaare, wusch mir die diversen Körperstellen im Gesicht, unter den Achseln, der Brust, dem Bauch, meinem Intimbereich bis runter zu meinen langen Beinen, auf die ich besonders stolz bin. Bei meinen beachtlichen eins komma zweiundneunzig Metern Körpergröße bringe ich etwas über hundert Kilogramm Masse auf die Waage, gut gehalten, würde ich sagen. Genießerisch lasse ich das Wasser über mich laufen, spüle die Reste des Duschgelschaums weg und schließe den Wasserhahn. Ich angle mir das große flauschige Handtuch und reibe mich trocken, systematisch oben beginnend und mich nach unten durcharbeitend. Nach dem Abtrocknen des ersten Fußes mache ich einen Schritt aus der Duschkabine, beim Nachholen des zweiten Fußes diesen ebenfalls trockenreibend.
Ich hänge das Handtuch auf den Trockenständer und stelle mich vor den Spiegel, greife mir die Haarbürste und bürste meine Haare nach hinten weg, schön die Ohren freikämmend, dann gehe ich zur Gesichtsbehaarung über – Eleonore liebt Bart, hatte sie mir zumindest in einem der elektronischen Briefe mitgeteilt, die sie mir geschrieben hatte – und überlege gerade, ob ich meine Brusthaare hochbürsten solle, um meinen schon reichlich kahlen Schädel damit zu bedecken. Nein, das war nun wirklich ein Scherz. Eleonore liebt Glatzköpfe mit Bart und Körperbehaarung.
Dann finde ich mich vor dem Kleiderschrank wieder. Nicht nur Frauen haben das Problem, dass sie bei überquellendem Schrank nichts zum Anziehen haben, und ich war seit der Terminfestlegung zu unserer Verabredung immer wieder in Gedanken dabei, in die Stadt zu fahren und mich neu einzukleiden. Nach einigem hin und her entscheide ich mich für eine ziemlich verwaschene, weit geschnittene blaue Jeans, einem dazu passenden karierten Hemd und darüber einem dezenten grauen Pullover. Meine Schuhe sind auf Hochglanz gewienert. Ich stamme noch aus einer Generation, für die das tägliche Schuheputzen zur normalen Tagesroutine gehörte. Ich stecke Portemonnaie und Schlüssel ein und verlasse pfeifend das Haus. Von La Paloma bin ich mittlerweile übergewechselt zur kleinen Kneipe, die Peter Alexander vor über fünfzig Jahren so berühmt gemacht hatte.
Per Funksteuerung entriegele ich meinen Wagen, eine schon etwas in die Jahre gekommene Version des Wrangler von Jeep, steige ein, starte das Auto und reihe mich in den Feierabendverkehr ein. Das Navi zeigt mir die Fahrtstrecke an und gibt mir die Information, dass ich aus jetziger Sicht eine halbe Stunde zu früh am vereinbarten Treffpunkt sein werde. Ich weiß jedoch, dass der Verkehr hier in der Stadt dazu führen dürfte, dass ich wahrscheinlich mit etwas Glück eine ziemlich exakte Punktlandung hinsichtlich der Zeit schaffe, vorausgesetzt, die Parkplatzsuche dauert nicht zu lange. Die vermaledeite Suche nach einem Platz für meinen Wrangler ist dann auch der Grund dafür, dass ich eine zeitliche Punktlandung auf der Parkposition hinlege, aber noch etwa zehn Minuten bis zum Treffpunkt zu gehen habe und damit zu spät komme. Als ich etwas außer Atem – doch nicht ganz so gut gehalten – vor dem Lokal mit der eingebauten Kleinkunstbühne auftauche, steht sie schon da und schaut interessiert einem jungen Paar zu, das vergeblich versucht, ihre aus zwei hyperaktiven Jungen bestehende Nachkommenschaft zu kontrollieren. Ich weiß, dass Eleonore zwei erwachsene Kinder hat und ich gehe davon aus, dass ich der Vater dreier erwachsener Töchter bin, die allerdings in alle Himmelsrichtungen auf dieser Erde verstreut sind und deren Kontakte sich demzufolge auf seltene Telefonate und noch seltenere Besuche reduziert haben.
Ich trete an sie heran und sage: „Hallo, äh, ich bin zu spät. Der Verkehr …“ Sie zuckt erst zusammen und blickt mich dann an und lächelt. Genau so, wie sie auf den meisten Bildern lächelt. UND sie sieht fast aus wie auf den meisten Bildern, mit ihren etwas mehr als einssechzig Körpergröße, der wallenden, blonden Mähne (wahrscheinlich gefärbt), dem Figur betonenden blasspinkfarbenen Pullover und der engen weißen Hose über hellgrauen Cowgirlstiefeln. Auf ihrer hübschen kleinen Nase balanciert eine verchromte Brille mit fast runden Gläsern, wie auf all ihren Fotos. Und dazu die schalkhaft blitzenden braunen Augen. „Hallo, kein Problem. Ich schaue gerade den Vieren da zu und bin so froh, dass ich all diese Dressuraktionen lange hinter mir habe.“ Ich überlege, ob ich sie zur Begrüßung in den Arm nehmen soll, entscheide mich aber dagegen. Wie war das noch mal? Man macht entweder alles richtig oder alles falsch bei diesem komischen Spiel, zumindest am Anfang. Später wird es etwas diffuser und komplizierter, aber da wollten wir ja nie wieder ankommen, beim diffusen und komplizierten, man möchte ja von Anfang bis Ende alles richtig machen, indem wir dauernd an der Beziehung arbeiten und uns dadurch den gegenseitigen Respekt bewahren können. Heroische Pläne …
Wir schweigen einen Moment und holen dann synchron Luft, um etwas zu sagen. Sie ist etwas schneller als ich: „Wollen wir schon mal reingehen und schauen, wo wir uns hinsetzen?“ Ich winke auffordernd mit der Hand und sie wendet sich der Tür zu. Während wir den Gastraum betreten, kann ich sie von hinten ansehen. Sie ist einen guten Kopf kleiner als ich, schlank geblieben mit den Rundungen exakt an den richtigen Stellen, kleidet sich dezent modisch, soweit ich etwas von Frauenmode verstehe, auch das Make-Up im Gesicht ist sehr dezent. Soweit ich auch davon etwas verstehe. Eine leise Freude breitet sich in mir aus und gibt mir, beginnend im Bauch, ein bisschen Wärme. Sie weist unsere Eintrittskarten vor für die heutige Kleinkunstbühnenshow und wir sind drin, suchen uns einen kleinen Tisch, an dem wir dann gegenüber sitzen. „Willst Du schon etwas essen?“ Das kam von mir und sie lächelt, sagt: „Ach, mal sehen. Ich bin ja nicht so der große Esser, aber Du darfst Dir gerne etwas bestellen und ich nasche dann einfach bei Dir mit.“ – „Das klingt fast nach einem Plan.“ Ein junger Mann mit umgebundener Schürze tritt an unseren Tisch heran und ich blicke Eleonore fragend an. Sie überlegt kurz und fragt dann nach einem kleinen Wasser, still. Der Kellner nickt und ich bestelle ein großes Wasser mit Gas und einen großen Salat nach Art des Hauses. Die Frage nach dem Dressing beantworte ich mit „Essig und Öl“ und ergänze die Bestellung um die Bitte nach einem zweiten Besteck.
Der Kellner verlässt unseren Tisch und ich sage: „Wenn ich noch mehr Hunger habe, kann ich ja einen Nachschlag holen.“ Wir lachen und blicken uns an. Oh Gott, ist das lange her, seit ich das letzte Mal in so einer Situation war. Über dreißig Jahre, ehe meine letzte Frau verstarb und ich Witwer wurde. Meine älteste Tochter fing irgendwann an, mich zu drängen, dass ich mir doch wieder eine Freundin suchen solle, und ich ließ mich gerne drängen, weil das Alleinsein nun wirklich nicht die beste Version einer Zweierbeziehung ist.
Eleonore sagt: „Was hast Du denn heute so gemacht, ehe Du Dich aufgebrezelt hast für den gemeinsamen Termin?“ Ein über Tage laufender Gag in unserer Korrespondenz, der Aufwand, den man treibt, um sich beim ersten Date von seiner optisch besten Seite zu zeigen. „Tja, da war nicht mehr so viel Zeit, ehe ich unter die Dusche kletterte und meine ausgedehnten Hautflächen abschrubbte.“ Sie nahm das auf dem Tisch liegende Programm und ich schiebe nach: „Und Du, womit hast Du den Tag verbracht?“ – „Ich war heute hauptsächlich mit meinem Enkel beschäftigt. Meine Tochter bereitet gerade den Umzug in die neue Wohnung vor und da war sie ganz froh, dass die Oma sich um den Kleinen kümmert. Er ist ja auch so süß, der kleine Franz.“ Sie kramt ihr Smartphone aus ihrer Handtasche, tippt darauf herum und zeigt mir das Bild einer glücklich lächelnden Oma mit einem kleinen Kind auf dem Schoß, das mit aufgerissenen Augen in die Linse starrt. „Wie alt ist er noch mal?“ – „Ein gutes halbes Jahr. Er fängt gerade an, feste Nahrung zu sich zu nehmen und er entwickelt sich ganz prachtvoll.“ Sie blickt noch einmal beglückt lächelnd auf ihr Smartphone und steckt es wieder in die Handtasche, sich dabei eine nach vorne gefallene Haarsträhne aus dem Gesicht streichend. In diesem Moment kommt der Kellner wieder an den Tisch und stellt zwei Flaschen und zwei Gläser ab, ein kleines stilles Wasser für Eleonore und ein großes Sprudelwasser für mich. Er gießt uns jeweils etwas Wasser in unsere Gläser, wünscht ein „Zum Wohl“ und verschwindet wieder. Ich hebe mein Glas hoch und proste ihr zu. Sie lächelt und lässt ihr Glas an meines klingen: „Auf den schönen Abend zu zweit. Es hat ja lange gedauert, ehe wir beide die Kurve bekommen haben.“ – „Zum Wohl. Ja, es hat lange gedauert mit dem ersten Vorspiel.“ Verdammt, das war nun gar nicht gut, das klingt schon sehr nach Aufforderung zum Beischlaf. Sie steckt es mit einem Lachen weg: „Wenn alle Vorspiele so lange dauern, dann verspricht es mit uns Beiden ja sehr spaßig zu werden.“ Oho, nun muss ich etwas einbremsen, ehe es richtig schlüpfrig wird. Jedenfalls ist sie nicht zu prüde, wie es scheint. Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile, halten den Ton sehr leicht, bis der Salatteller kommt. Das sieht aber nach sehr viel zu essen aus. So viel wollte ich eigentlich gar nicht zu mir nehmen vor der Veranstaltung. Der Kellner stellt die Platte in die Mitte des Tisches und je einen Teller vor uns ab, platziert dann das Besteck und wünscht uns grinsend guten Hunger. Ich blicke Leonore über den Salatberg hinweg an und wünsche ihr einen guten Appetit. Dann erinnere ich mich an meine Kinderstube und nehme das Vorlegebesteck, um ihr ein bisschen von diesem und jenem auf den Teller zu legen. Sie winkt ab, strahlt und sagt: „Das reicht schon. Willst Du mich mästen?“ – „Um dann jubelnd um Dich rumzuhüpfen und zu singen, alles meins, alles meins?“ Wir lachen beide, wünschen uns guten Appetit und fangen an zu essen. Sie hat wirklich ein sehr kontrolliertes Essverhalten, pickt nur ein bisschen auf dem Teller herum und nimmt ganz kleine Bissen von dem Brotstück, das sie sich gegriffen hat. Langsam füllt sich der Gastraum, zwei Bedienungen flitzen hin und her, um die Bestellungen aufzunehmen und die Speisen und Getränke zu servieren, während wir geruhsam die Salatplatte räumen und uns dabei über alltägliches unterhalten. Irgendwann tauchen die ersten Gestalten auf der Bühne auf und wir versuchen, anhand des Programmblattes zu bestimmen, wer wohl wer sein mag. Endlich wische ich meinen Mund mit der Serviette ab, nehme einen großen Schluck Wasser und lehne mich zurück. Leonore hat nach ein paar Bissen schon aufgehört zu essen. Nun lächelt sie und sagt: „Und, brauchst Du noch einen Nachschlag?“ – „Fürs erste bin ich voll, danke. Außerdem esse ich abends nie besonders viel.“ Wir lachen wieder und blicken uns an, suchen unsere Augen mit den Blicken.
Ein junger Mann hüpft auf die Bühne und greift sich das Mikrofon, um mit launigen Sprüchen den Abend einzuleiten. Er ist Moderator und Interpret in Personalunion, kündigt aber erst einmal eine andere Künstlerin an, die sich an einem Lied versucht, das mit viel Witz und Charme die derzeitige politische Situation karikiert. Der Abend entwickelt sich prächtig, in mehrfacher Hinsicht, Eleonore scheint eine Menge Spaß zu haben und wir tauschen zwischendrin Bemerkungen zu den einzelnen Darbietungen aus. Irgendwann ist Pause, die wir für einen Toilettengang nutzen und für eine letzte Order von Getränken.
Die Veranstaltung nähert sich dem Ende, nach der letzten Darbietung eines bärtigen Riesen, dessen Vortrag wimmelt von zwei- und dreideutigen Anspielungen, geht donnernder Applaus durch den Gastraum und einige Zuschauer skandieren „Zugabe“, bis der Moderator wieder auf die Bühne hüpft und sagt: „Ihr wollt eine Zugabe? Nun gut, Ihr sollt sie haben. Dann darf ich alle Interpreten noch mal auf die Bühne bitten und wir werden uns nun in dem versuchen, was kein Darstellungskünstler leiden kann, nämlich der Spontaneität. Ich habe hier einen Text verfasst, der sich zur Melodie von Grönemeyers ‚Wann ist ein Mann ein Mann‘ singen lässt. Wir hier singen den Text, der Refrain ist Laaalalalalaaa,“ er singt den Refrain vor, „und wenn ich die Hand hebe, dann seid Ihr alle aufgefordert mitzusingen. Wir proben das ganze mal.“ Theatralisch schnippt er mit dem Finger, summt einen Leitton und wir stimmen ein in unser „Laaalalalalaaa“. – „Das war noch nichts, das muss noch besser werden.“ Er lässt uns ein paar mal den Refrain singen, ehe er sich dem gemischten Chor auf der Bühne zuwendet und die Hand hebt, was für uns das Signal ist, den Refrain zu singen, was dann in allgemeinem Gelächter endet. Schließlich hat der Moderator alle Missverständnisse ausgeräumt und es geht los. Der Text persifliert offenbar ein bekanntes Stück aus der aktuellen Darbietungskunst und die meisten Leute lachen an Stellen, die sich mir nicht als lustig erschließen. Eleonore scheint jedenfalls besser informiert zu sein, ihr laufen die Tränen aus den Augen vor Lachen. Ich werde sie gleich mal nach den Hintergründen fragen müssen.
Langsam nähert sich der Augenblick der Entscheidung. Ein letzter Applaus, die ersten Zuschauer stehen auf und drängen zur Tür. Wir bleiben noch einen Augenblick sitzen und blicken uns an. Wie geht es nun weiter? Ich erinnere mich an einen ihrer Briefe, in dem sie betont hatte, dass es bei ihr sehr lange dauere, ehe sie Intimitäten wünscht. Wollen wir noch eine Bar aufsuchen und etwas trinken? Ich bin etwas verunsichert. Eleonore blickt mir in die Augen und sagt: „Wo steht Dein Auto eigentlich?“ – „Äh, die Straße runter, in dieser Richtung.“ – „Ah, da steht auch mein Auto. Was hältst Du davon, wenn wir noch zu mir fahren und etwas trinken?“ – „Das klingt gut. Dann lass uns aufbrechen.“ Mittlerweile ist der Gastraum ziemlich leer, die Darsteller stehen vorne an der Bühne und plaudern, während sie ihre Instrumente einpacken und aus Gläsern nippen. Von wegen spontan. Mir wird klar, dass diese Show seit einem halben Jahr angeboten wird und die Leute sich wahrscheinlich mittlerweile ziemlich gut kennen dürften und diese spontane Zugabe jeden Abend eingeplant ist. Ich bin kein sonderlich großer Konsument von Kunst, in welcher Form auch immer. Die Idee für diese Kleinkunstbühne stammte von Eleonore.
Wir verlassen das Lokal und gehen nebeneinander den Bürgersteig entlang. Manchmal streifen sich unsere Hände und Arme, während wir noch einmal den vergangenen Abend Revue passieren lassen und ich sie frage, worum es bei der letzten Präsentation denn überhaupt gegangen sei, weil ich einige Pointen nicht verstanden hätte. Sie erläutert mir, dass sich der grundsätzliche Inhalt auf ein aktuelles Bühnenstück der städtischen Theaterbühne beziehe, was ja eigentlich eine Tragödie sei, aber durch leichte Modifikationen im Blickwinkel eine Situationskomik entstehe, die wegen des tragischen Hintergrunds umso lustiger wirke. Sie nennt mir ein paar Beispiele, die natürlich jetzt, aus der Stimmung und dem Zusammenhang gerissen, überhaupt nicht mehr witzig wirken. Mittlerweile sind wir an meinem Auto angekommen. Eleonore blickt die Straße entlang und sagt: „Das ist ja lustig. Mein Auto steht da vorne, nur drei Fahrzeuge weiter. Fahre einfach hinter mir her.“ – „Ok, bis gleich.“ Ich schließe meinen Wrangler auf und klettere hinein, schließe die Tür, starte ihn und parke aus, während sie zu ihrem knallgelben Mini geht, ihn ebenfalls aufschließt, einsteigt und ausparkt. Ich schließe auf zu ihr und folge ihr kreuz und quer durch die Stadt, bis wir in ein ruhiges Wohnviertel kommen, dessen Liegenschaften eher in der oberen Preiskategorie angesiedelt sind. Sie wird langsamer und drei Grundstücke weiter vorn sehe ich ein Gartentor automatisch aufgleiten. Ich blicke mich um, sehe eine Parklücke und rangiere meinen Wrangler hinein, während Eleonore ihren Mini auf ihr Grundstück fährt. Sie steigt aus, verschließt den Wagen und kommt an die Straße, während ich auch ausgestiegen bin und zu ihr gehe, dabei den Wagen automatisch verriegeln lasse.
Sie sagt: „Du hättest doch hinter mir reinfahren können. Hier ist Platz genug.“ – „Ich habe schon den perfekten Ankerplatz gefunden, kein Problem.“ Und damit gehen wir zur Haustür, Eleonore schließt auf und wir treten ein. Ich ziehe meine Jacke und meine Schuhe aus, die sie verstaut, und dann leitet sie mich durch ins Wohnzimmer, das auf der einen Seite von einer Wohnlandschaft, sprich einer riesigen Sofagarnitur mit niedrigem Tisch, und auf der anderen Seite von einem Fernseher mit kineastischen Ausmaßen beherrscht wird. Eleonore schaut mich an und fragt: „Was willst Du trinken?“ Spaßeshalber sage ich: „Wenn ich nicht mehr nach Hause fahren muss, dann ein Glas Wein.“ Sie zuckt mit keiner Wimper und fragt: „Rot, weiß, trocken, lieblich?“ – „Das sollte jetzt eigentlich ein Scherz sein, aber wenn Du mich so fragst, dann einen trockenen roten.“ – „Setz Dich schon mal, ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verschwindet sie durch eine Tür, um gleich wieder mit einer Flasche und einem Korkenzieher aufzutauchen, mir beides hinzuhalten und zu sagen: „Öffne schon mal die Flasche, ich hole eben zwei Gläser.“ Während ich den Korken ploppen lasse und an der Flasche schnuppere, kommt sie mit zwei Rotweingläsern zurück und fragt: „Ist der Wein in Ordnung?“ – „So weit ich etwas davon verstehe, ja.“ Eleonore setzt sich neben mich, stellt die Gläser auf den Tisch und sagt: „Dann schenk doch ein, mal sehen, ob er gut ist.“ Gluckernd läuft etwas von der dunkelroten Flüssigkeit in ihr Glas, sie hebt es zum Mund, nimmt einen kleinen Schluck, zerkaut ihn, testet ihn und nickt: „Der passt. Schenk ein.“ Nachdem beide Gläser voll sind, hebt sie ihr Glas, schaut mir in die Augen und sagt lächelnd: „Auf uns beide.“ Ich beeile mich, mein Glas ebenfalls zu heben und es an ihres klingen zu lassen, während ich nicke und sage: „Das gefällt mir, auf uns.“
Genießerisch nehmen wir beide einen Schluck und stellen synchron die Gläser ab. Während ich noch überlege, was ich als nächstes sagen kann, blickt mich Eleonore plötzlich ganz ernst von der Seite an und meint: „Du hast in Deinem Profil geschrieben, dass Du keinen Streit magst, sondern lieber gehst, wenn es zu schwierig wird und alles nur noch nach Streit aussieht. Wie stellst Du Dir dann vor, Differenzen in einer Beziehung zu klären, wenn Du immer gleich davon läufst?“ – „Ich habe nicht geschrieben, dass ich gleich davonlaufe, ich habe geschrieben, dass ich Streit nicht mag und ich habe geschrieben, dass ich gehe, wenn es zu schwierig wird und nach Streit aussieht. Gegen eine Diskussion mit Austausch kontroverser Argumente habe ich nichts, das halte ich sogar für notwendig, aber diese verbitterten Streitereien, bei denen irgendwann die Sünden der Jugend auf den Tisch kommen, um eigenen Boden zu gewinnen, die habe ich aus meinem Leben gestrichen. Die brauche ich nicht mehr.“ Eleonore schweigt eine lange Weile, dann nickt sie und sagt, mich immer noch ernst anblickend: „Kannst Du mich bitte vorwarnen, ehe Du Dich mit den Gedanken trägst zu gehen?“ Ich zucke etwas hilflos mit den Schultern und nicke. Das scheint nun schwierig zu werden. Soll ich gehen? Nein, Scherz, natürlich bleibe ich, und sei es nur, weil ich nun Wein getrunken habe. Eleonore nimmt ihr Weinglas, nippt daran und hält es dann in der einen Hand, blickt nachdenklich vor sich hin und fängt an, mit ihrem Zeigefinger an meinem Unterarm entlang zu streichen. Ich blicke sie an, sie blickt mir in die Augen, ich versinke in ihren warmen moorseebraunen Augen …
Leute, manchmal entwickeln sich Dinge sehr viel schneller als geplant, und nun habe ich ein Problem. Ich bin ein Kind der späteren Nachkriegszeit und damals war es noch nicht üblich, dass man einen großen Aufwand trieb, um ein Gebiss vom Kleinkindalter an in guter Ordnung zu halten, kurz gesagt, der größte Teil meiner Zähne steckt in einer entnehmbaren Zahnprothese und für meine verstorbene Frau und mich war es ein ganz normaler Akt, wenn ich abends ins Bett ging, ob mit oder ohne Beischlaf, dass meine Zähne im Badezimmer in einem Glas parkten, das gefüllt war mit einer Reinigungssubstanz. Aber Eleonore … Die wusste nichts von meiner Prothese und ich war eigentlich ganz froh gewesen um ihren Hinweis auf den sehr langen Weg bis zur ersten Intimität, weil dann viel Zeit geblieben wäre, sie auf diesen Teil meines Ichs behutsam vorzubereiten. Meine Fassade leidet nämlich durchaus, wenn die Zähne erst mal aus dem Mund sind und die Lippen nach innen fallen. Meine Aussprache ist dann auch nicht mehr so pointiert, sondern ziemlich vernuschelt. Schreiend aufzuspringen ist gar keine Lösung, die Prothese entfernen dürfte schwierig sein. Soll ich sie im Weinglas parken? Bei einem heißen Kuss mit Erforschung des anderen Mundes entsteht das eine oder andere Risiko, unter anderem, dass die Haftcreme versagt und mein Gebiss sich plötzlich eigenständig in ihrer Zunge verbeißt. Ganz Mann, entscheide ich mich für Angriff und Risiko und gehe auf ihre Berührungen ein, nehme ihr vorsichtig das Weinglas aus der Hand, stelle es neben meines und drehe mich zu ihr. Sie dreht mir ihr Gesicht zu und hält mir ihren Mund hin, bietet sich mir an für den ersten Kuss. In Bayern gibt es ja das Busserl als Vorstadium eines Kusses und dann gibt es überall auf der Welt noch die verschiedenen Varianten eines Kusses, bei dem die kalte, intellektuelle Seite in mir immer wieder fragt, welchen Sinn dieses Zusammenführen zweier Lippenpaare eigentlich haben soll. Den Geschmack der anderen Person aufzunehmen? Bakterien und Keime auszutauschen und sich gegenseitig auf den gleichen Status hinsichtlich der Krankheitserreger bringen? Es ist mir im Moment völlig egal und ein erster Kuss mit einem Menschen, bei dem man gerade anfängt, sich zu verlieben, ist wie ein Vulkanausbruch, bei dem kalt fließendes Blut schlagartig durch heiße Lava ersetzt wird und der Hohlmuskel in der Brust zum Zentrum vielschichtiger Emotionen mutiert und plötzlich losrast, als wolle er noch über den Mount Everest springen. Da ist es dann egal, ob der erste richtige Kuss beim sechzehnjährigen geschieht oder nach diversen Wiederholungen beim schon reichlich in die Jahre gekommenen mit der Zahnprothese im Mund.
Eleonore hat ihre ganz weichen Lippen leicht geöffnet. Als ich nun versuche, vorsichtig ihren Mund zu erforschen, kommt mir ihre Zunge entgegen und es gibt ein gelindes Gerangel, wer nun wie und wann und warum und überhaupt. Schließlich beendet Eleonore zu meinem Bedauern dieses Schlagwetter an Emotionen, lehnt sich zurück, blickt mir mit ihren Moorseeaugen wieder tief in meine und sagt: „Waoh, das war aber mal ein Kuss von einem Kuss.“ Ich kann nur nicken, mir sitzt eine ganze Familie von Klößen im Hals und traue meiner Stimme überhaupt nicht. Sie beugt sich nach vorne und streichelt meine Hand, dann mein Gesicht, setzt sich wieder zurück und seufzt. „Eleo – m hm, Eleonore, ist was?“ Sie schüttelt den Kopf und seufzt wieder, sieht plötzlich total unglücklich aus. „Eleonore, was habe ich falsch gemacht?“ Sie schüttelt den Kopf und fängt auch noch an zu weinen. Ganz still kommen Tränen aus ihren Augen und laufen ihre Wangen hinab, tropfen auf ihren weichen blasspinkfarbenen Pullover, der ihre herrlichen Rundungen bedeckt. Mein Hohlmuskel in der Brust, der nun wieder ein Herz ist, zieht sich zusammen, ich will sie in den Arm nehmen, sie wehrt sich dagegen. Irgendwann gibt sie nach, legt ihren Kopf an meine Brust und weint, schluchzt. Ich umarme sie, streichle sie, wiege sie und lasse sie sich ausweinen. Ich bin emotional plötzlich total erschöpft und frage mich, ob es wirklich klug ist, im Herbst des Lebens noch einmal auf Freite zu gehen.
Irgendwann hat Eleonore sich ausgeweint und atmet ganz still, ihren Kopf an meine Brust gelehnt. Dann sagt sie: „Dein Herz schlägt ganz langsam, aber kräftig. Das ist total beruhigend, Deinem Herzen zuzuhören.“ Dann schweigt sie wieder sehr lange, schnieft zwischendrin und wenn mein Taschentuch noch etwas frischer wäre, würde ich es jetzt aus der Hosentasche arbeiten und ihr anbieten. Aber das Taschentuch zu tauschen habe ich vergessen bei all meinen minutiösen Vorbereitungen. Endlich holt sie tief Luft, löst sich von meiner Brust und meiner Umarmung, was ich sehr bedaure, und blickt mich sehr sehr ernst an: „Ich muss Dir etwas sagen, ehe wir weitermachen, und das ist auch der Grund, warum ich so zögerlich bin mit den Intimitäten. Ich bin ein Kind der späteren Nachkriegszeit und damals war es noch nicht üblich, dass man einen großen Aufwand trieb, um ein Gebiss vom Kleinkindalter an in guter Ordnung zu halten, kurz gesagt, der größte Teil meiner Zähne steckt in einer entnehmbaren Zahnprothese. Die nehme ich abends raus und lege sie im Badezimmer in ein Glas mit einer Reinigungsflüssigkeit. Wenn ich für mich bin, dann ist das kein Problem, aber meine Fassade leidet halt drunter und ich schäme mich dann vor einem – fremden – Mann ein bisschen für mein unvorteilhaftes Gesicht.“ Sie blickt mich verschämt an, während der eisige Winter in meiner Brust, der vorhin so schlagartig ausgebrochen war, von frühlingshaftem Glucksen und Gluckern heimgesucht wird und ich plötzlich, so leid es mir tut und so blöd es klingt, laut loslachen muss. Ich machte mir Sorgen um meine Fassade und schämte mich vor Eleonore. Ich kann einfach nicht, immer mehr Gelächter eruptiert in mir und mit weit geöffnetem Mund lache und lache ich und endlich löst sich meine Prothese von ihrer Haftcreme und fliegt in hohem Bogen raus, landet auf dem Teppich in Eleonores geschmackvoll eingerichtetem Wohnzimmer, und ich muss noch weiter lachen, jetzt erst recht. Als ich anfing zu lachen, sah Eleonore mich erst entsetzt und dann mit entstehendem Zorn an, als dann meine Prothese an ihrem Gesicht vorbeiflog und auf dem Teppich landete, erkennt sie die Situation in ihrer gesamten Absurdität und stimmt ein in mein Gelächter, dann nimmt sie lachend ihre eigene Prothese aus dem Mund, legt sie in ihr Weinglas und gluckert und gluckst immer weiter. Wir starren uns an, sehen unsere herbstlich verwitterten Fassaden und immer wieder brechen Kaskaden von Gelächter aus uns.
Wir frönen an jenem Abend keinem Beischlaf. Wir beruhigen uns irgendwann, ich sammle meine Prothese ein und erhalte von Eleonore ein Glas und Reinigungs- und Pflegeflüssigkeit, in das ich meine Zähne legen kann, wo sie dann die ganze Nacht neben dem Glas mit ihren Zähnen in ihrem Badezimmer stehen. Aber wir liegen noch lange wach in ihrem Bett und nuscheln über ganz viele Themen, aber nicht mehr über die absurde Situation in ihrem Wohnzimmer und über unsere Angst davor, dass eine verwitterte Fassade im Herbst unseres Lebens ein Problem sein kann.
Vorheriger TitelNächster TitelDie Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Josef von Stackelberg).
Der Beitrag wurde von Josef von Stackelberg auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.09.2024.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Josef von Stackelberg als Lieblingsautor markieren
Gegen meine Willen
von Doreen Kniewel
Gemma und Patrice - zwei Freundinnen, die sich in einem kleinen Detail unterscheiden:
Die eine liebt Bücher -
die andere kann damit nichts anfangen.
Erst als ein außergewöhliches Buch in besonderer Weise Macht über die beiden erlangt, findet auch Patrice sich plötzlich in einer Welt zwischen Traum und Realität wieder.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: