Erinnerungen an den Sommer 2001
Ich weiß noch, dass wir früher öfter zu einer Bekannten meiner Mutter gefahren sind, um sie auf ihrem Bauernhof zu besuchen. Ein Tag davon blieb mir besonders in Erinnerung. Während der Fahrt zu ihr, zogen Felder an uns vorbei, auf denen Kühe grasten und Schafe umhertollten. Der Anblick hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, denn ich liebe Tiere über alles! Bevor wir auf den Hof fuhren, sah ich aus dem Augenwinkel auf der rechten Seite ein Gebäude hinter hohen Gebüschen hervorragen. Es sah alt und irgendwie gruselig aus. Dennoch zog mich der Anblick dieses alten Gemäuers magisch an.
Bei der Bekannten angekommen, konnte ich mich zunächst nur auf die süßen Katzen konzentrieren, die mir auf eine niedliche Art und Weise entgegenliefen. Und schon wurde meine Aufmerksamkeit für mehrere Minuten von ihnen eingenommen. Um mich herum war eine riesige Wiese mit ganz vielen Gänseblümchen, die Sonne schien und Vögel zwitscherten vergnügt. Ich hatte mir fest vorgenommen, für meine Mutter, Schwester und mich Ketten aus den Blumen zu machen. Dort auf dem ländlichen Platz war es idyllisch und die Atmosphäre sehr einnehmend. Ich wäre am liebsten für immer da geblieben.
Plötzlich ertönte ein lautes Geräusch und störte die Ruhe. Was war das? Ich drehte mich in die Richtung, aus der das Knallen kam und blickte direkt auf das Gebäude, das ich zuvor gesehen hatte. Ganz langsam bewegte ich mich bis zum Straßenrand und hatte somit eine bessere Aussicht. Das Gruselhaus wirkte verlassen und trostlos. Einige Scheiben waren eingeschlagen und es war keine Menschenseele zu sehen. Meine Neugierde wuchs von Mal zu Mal. Ich wollte unbedingt wissen, was es mit dem Haus auf sich hat. Mein Gefühl sagte mir, dass dies eine Schule gewesen sein muss. Mutig wie ich damals noch war, wollte ich auf das Gelände und hinein in das Bauwerk, aber irgendetwas hielt mich davon ab. In dem Moment rief meine Mutter nach mir, woraufhin ich mich sofort auf den Weg zurück machte. Ich warf noch einen letzten Blick zurück auf das Anwesen, das mich Jahre später noch immer faszinieren sollte.
22 Jahre später:
In den letzten Jahren musste ich immer wieder an diesen Tag zurückdenken. Mir kam öfter der Name Kent School zu Ohren. Ich hatte also recht damit, dass es sich bei diesem verfallenen Bauwerk unter anderem um eine alte Schule handelt. Wir sind öfter daran vorbeigefahren, als wir zum Hariksee oder nach Venlo fuhren. Jedes Mal blickte ich aus dem Autofenster in dessen Richtung und bemerkte, dass das Gelände neuerdings mit einem Zaun abgesperrt war. Gebüsche versperren die meiste Sicht auf die ehemalige Schule und lassen nur erahnen, was sich dort befindet. Mir fiel ein Schild ins Auge, auf dem Gedenkstätte steht.
Dieses Wort löste ein mulmiges Gefühl in mir aus. Zu Hause recherchierte ich, weil mein Interesse erwachte und was ich dabei herausfand, hat mich regelrecht schockiert und emotional getroffen. Bevor daraus eine Lehranstalt wurde, diente es als NS-Psychiatrie, in der, während des Zweiten Weltkrieges körperlich und seelisch beeinträchtigte Kinder und Jugendliche untergebracht wurden, um hinter diesen Mauern zu sterben. Viele Eltern wussten überhaupt nicht, was ihre Kinder wirklich durchmachen mussten. Das alles zu lesen, war zu viel für mich. Zu wissen, dass so etwas Grausames wirklich passiert war.
Ich finde noch heute keine Worte dafür. Diese Zeilen zu schreiben, treibt mir jetzt schon wieder Tränen in die Augen. Besonders seitdem in Europa Krieg herrscht, denke ich wieder vermehrt mit großer Trauer über das Schicksal der armen unschuldigen Seelen nach. Dieser Gedanke schnürt mir regelrecht die Kehle zu. Die Gedenkstätte habe ich noch nicht besucht. Mir fehlten die Gelegenheiten dazu. Die Bekannte meiner Eltern lebt schon seit etlichen Jahren nicht mehr und auch der Bauernhof existiert nicht mehr. Ich weiß nicht wieso, aber die Kent School übt eine große Faszination auf mich aus, die mich mal mehr, mal weniger einholt. Heute ist sie als Lost Place bekannt und wird von vielen schau- und abenteuerlustigen Menschen aufgesucht. Sofern diese nicht von den Wachleuten weggescheucht werden. Mich interessiert an solchen Orten eher die Geschichte dahinter. Auch wenn sie noch so grausam ist. Das zeigt mir, wozu unsere Spezies fähig ist. Würde ich da auch hineingehen wollen? Ich denke nicht. Natürlich bin ich sehr wissbegierig, wie es im Gebäude aussieht, aber mit dem Wissen im Hinterkopf, was und wie sich da alles abgespielt haben muss, möchte ich die Totenruhe nicht stören.
Auch in den letzten Tagen habe ich mehrmals nach der Kent School gegoogelt und versucht weiteres herauszufinden. Mir wurden tatsächlich Bilder angezeigt, wie es im Inneren aussieht. Jene ließen mich nicht los und führten mir die unvorstellbare Realität vermehrt schmerzhaft vor Augen. Ich bin ein großes Sensibelchen, was die gesamte Thematik dessen betrifft. Ich hoffe so sehr, dass die Opfer ihren Frieden finden konnten beziehungsweise gefunden haben. Wir dürfen niemals vergessen, was damals passiert ist und auch niemals mehr zulassen, dass so etwas Unmenschliches jemals wieder geschieht! Wenn ich zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges gelebt hätte, wer weiß, dann wäre ich auch ermordet worden. Ich leide nämlich auch an einer seelischen Erkrankung. An Depressionen, um genauer zu sein, die mich öfter daran hindert, am sozialen Leben teilzunehmen. Natürlich kann ich das nicht miteinander vergleichen und das möchte ich auch gar nicht, auf keinen Fall! Aber sich vor Augen zu führen, wie viele Menschen sterben mussten, weil sie nicht deutsch, gesund oder perfekt genug waren, widert mich an.
Wir waren mal in Berlin auf Abschlussfahrt und hatten die Wahl das KZ Sachsenhausen zu besuchen oder ins Holocaust-Museum zu gehen. Ein paar meiner Mitschüler und ich entschieden uns für letzteres. Schon alleine das Denkmal zu sehen, hat mich extrem sentimental werden lassen. Für mich war das schon kaum auszuhalten. Mir vorzustellen, in ein KZ zu gehen und solches zu besichtigen, ließ mich erschaudern. „Ich kann das nicht!“, waren meine Gedanken. Dabei habe ich das Gefühl, es zu müssen, weil ich den Opfern als Deutsche etwas schuldig bin. Mich damit auseinanderzusetzen und anzusehen, was wir getan haben. Auch wenn unsere Generation und die davor nichts dafür können, gibt es traurigerweise noch Menschen, die rechtsextrem sind und diverse Gedanken und Vorstellungen dieser Zeit teilen. Das erschreckt mich zutiefst! Wie können Menschen nur so etwas denken oder solch ein widerliches Verhalten oder Taten nacheifern? Weil diese Erfahrungen von Generation zu Generation weitergegeben werden? Damit sollte, nein, muss endlich Schluss sein! Wieso dürfen wir denn nicht alle unterschiedlich sein, eine andere Hautfarbe haben oder eine andere Religion? Verschiedene Sprachen sprechen, mehrere Wurzeln in uns tragen oder eine andere Sexualität ausleben? Menschen sind individuell, wir haben alle etwas Besonderes an und in uns.
Meine beiden Omas haben ein wenig aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges miterlebt. Ich habe nie das Gespräch zu ihnen gesucht, was das betrifft. Habe nie darüber nachgedacht und mein Interesse war zu dem Zeitpunkt noch nicht groß genug. Schade. Im Nachhinein bereue ich es sehr, keine der beiden darüber gefragt zu haben. Es wäre nie in meinem Sinne gewesen, sie zu triggern oder an furchtbare Ereignisse erinnern zu wollen. Ich fände es nur spannend, persönlich etwas darüber zu erfahren. Diese Chance gibt es leider nicht mehr, denn sie sind beide tot. Ich möchte mir dennoch nicht vorstellen, was die beiden wohl erlebt haben mochten, geschweige denn ihre eigenen Eltern und Geschwister. Ein Teil dessen, was zum Beispiel die Erziehung betrifft, haben sie an meine Mutter und meinen Vater weitergegeben. Die sogenannte Nachkriegsgeneration oder schwarze Pädagogik, die ausgereicht hat, um die beiden vollends zu traumatisieren. Immer, wenn ich Bilder von Kindern in den Nachrichten sehe, die über Grenzzäune weitergereicht werden oder zwischen Trümmerhaufen nach ihren Eltern rufen, bricht mir das Herz immer wieder aufs neue. Ich kann so etwas nicht sehen. Traurigerweise ist diese Situation in mehreren Ländern gang und gäbe.
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine bereitet mir Sorgen und macht mir regelrecht Angst. Ich habe Angst davor, dass ganz Europa da mit hineingezogen wird und vielleicht sogar der dritte Weltkrieg ausbrechen könnte. Solch ein schreckliches Extrem wünsche ich niemandem. Und doch geschieht dies immer wieder irgendwo auf der Welt. Die Medien schüren natürlich sämtliche Ängste und machen alles nur noch schlimmer. Tagtäglich gibt es negative Nachrichten, es wird vieles überdramatisiert und verheimlicht, damit keine Panik ausbricht. Würden wir auf das Schlimmste vorbereitet werden? Was passiert denn, wenn zum Beispiel der Strom für mehrere Wochen ausfällt oder Nahrungsmittel sowie Medikamente knapper werden als ohnehin schon oder Soldaten plötzlich hier einmarschieren? Das alles sind Horrorszenarien, die ich mir nicht ausmalen möchte. Wieso können wir nicht in Frieden leben? Ich habe schon immer die Hoffnung gehabt, dass wir Menschen endlich mal nachdenken und versuchen solche Ereignisse zu vermeiden. Schließlich sind das alles Erwachsene, die sich so dämlich verhalten und meinen ihre Machtposition ausnutzen zu müssen. Ich weiß, dass dies einfacher gesagt ist, aber wann hat ein Krieg jemals etwas Gutes hervorgebracht? Anstatt aus unseren Fehlern zu lernen, werden immer wieder dieselben begangen und mehr Rückschritte gemacht, als überhaupt mit Fortschritten vorwärtszukommen.
Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich leider nicht viel Ahnung von Politik habe, aber wir legen unsere Hoffnungen in die Hände von Politikern, die einiges nicht auf die Reihe bekommen. Da muss man sich nur mal die Corona-Krise als Beispiel nehmen. Das war ja wohl die reinste Katastrophe. Einen Krieg zu verhindern, ist nochmal eine ganz andere Schiene. Unser Schicksal liegt sozusagen in deren Händen. Ich möchte nicht vom Schlimmsten ausgehen. Wir leben im 21. Jahrhundert und trotzdem läuft so vieles falsch. Das hat für mich auch nichts mit „Andere Länder, andere Sitten.“ zu tun oder mit Religion. Das sind für mich nur Ausreden, um kranke Machenschaften auszuleben, um im kollektiven Gedächtnis erhalten zu bleiben. Und der Preis, der dafür gezahlt wird, zählt natürlich nicht. Menschenleben, als wären wir absolut nichts wert. Das stimmt aber nicht! Ich ertrage den Gedanken einfach nicht, dass den Menschen da draußen so viel Leid widerfährt. Egal auf welche Art und Weise. Es macht mich regelrecht wütend und ich fühle mich immer so hilflos, weil ich nichts tun kann.
Dankenswerterweise habe ich nie die Erfahrung machen müssen, aus meinem Heimatland zu fliehen und woanders um Asyl zu bitten. Zu hoffen, bei irgendwelchen Anschlägen nicht zu sterben oder meine Familie in Gefahr zu wissen. Die momentane Situation hat mir gezeigt, dass dies nicht selbstverständlich ist beziehungsweise sein sollte. Es kann immer etwas Schlimmes passieren, womit man nicht rechnet. Normalerweise bin ich pessimistisch veranlagt, aber dieses Mal bin ich zuversichtlich und voller Hoffnung. Ich hoffe und bete, dass der Krieg nicht ausartet und jener endlich bald ein Ende findet. Wir sollten zusammenhalten und einander die Hände reichen, anstatt Leid und Zerstörung zu verursachen. Mehr Liebe auf der Welt verteilen, Verständnis für andere Menschen und deren Probleme oder Sorgen haben. Versuchen, uns gegenseitig zuzuhören und gemeinsam Konflikte lösen. Es ist traurig, dass ich das so sage, aber wir müssen endlich lernen uns menschlich zu verhalten.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2024.
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