Tobias Lang

Novembergedanken

Fünf Jahre sind inzwischen vergangen, doch vergessen habe ich nichts. Und ich verstehe nun Dinge, die ich früher nicht verstanden habe, Kleinigkeiten, die ich damals in meinem Schmerz und meiner Hilflosigkeit übersehen habe. Warum Du mich beispielsweise damals im Mai öfters anriefst und mich fragtest, ob es mir wirklich gut gehe. Ich sagte ja und log damit, denn ich ahnte nicht, dass Du mich längst durchschaut hast. Und warum war die Lehrerin an jenem Samstag im folgenden November so lieb zu mir? Als sie mich so wissend und mitfühlend ansah... War es Zufall oder hast Du ihr von meinem Brief erzählt, von meinem Geständnis?

Ich war überrascht, als Du mir antwortest, dass Du alles "irgendwie schon geahnt" hättest, aber warum war ich eigentlich überrascht? All meine vielen Briefe an Dich, wie konntest Du sie nicht falsch verstehen ? - ja, jetzt belüge ich mich schon wieder selbst, ich muss doch fragen: Warum glaubte ich damals, dass Du sie nicht richtig verstehen wirst: Meine ständige Absicherung, ob ich Dich ja nicht nerve. Meine ewigen Betonungen, wie dankbar ich für Dein Vertrauen und Deine Hilfe bin, obwohl unser Vertrauen schon längst aufgebraucht war und ich von Dir schon lange keine Hilfe mehr erhalten habe.
Im Gegenteil, Du hast mich, ohne das Du es wolltest, unglücklicher gemacht als ich es jemals zuvor war.

Warum hast Du im März gezögert, mir von ihm zu erzählen? Weil Du meinen Kampf mit mir selbst, meine widersprüchlichen Gefühle zu Dir schon längst geahnt hast? Warst Du erleichtert, dass ich lachte, mich scheinbar freute, dass ich Dich ermutigte, auf ihn zuzugehen? Habe ich es wirklich geschafft, meinen Schmerz zu verbergen?
Ich glaube kaum, denn heute ahne ich, dass ich ein verdammt schlechter Schauspieler war.
Ich habe ein ganzes Jahr lang versucht, von Dir loszukommen. Ein Jahr lang ging ich durch ständig wechselnde Phasen von Wut und Liebe. War ich in der einen Woche glücklich, Dich aus der Distanz sehen zu können, so genügte nur eine Kleinigkeit, um wieder von einer Welle von Sehnsucht, Liebe und Eifersucht überschwemmt zu werden. Und wie oft versuchte ich mir einzureden, dass ich eigentlich gar nicht Deine Liebe suche, sondern bloß das Vertrauen zu jemanden, so wie ich es anfangs in Dir gefunden habe. Doch das war eine Lüge, und ich schleppte diesen Selbstbetrug lange mit mir herum, machte Ausflüchte, Versuche auf Dich zuzukommen, Versuche, mich von Dir abzuwenden, Ärger und Wut aus kleinlichen Gründen, doch alles war nur Enttäuschung und Leere. Vor Glück ganz außer mir, wen Du mal auf mich zugingst, doch bald wieder eingeholt von der Realität, in der ich nicht länger Dein Vertrauen hatte. Und viele ungeweinte Tränen. Der Tag im Oktober, an welchem ich plötzlich raus aus meinem Zimmer, raus aus dem Haus musste und in den Garten lief, wild um mich schlug und rannte, rannte, bis ich schließlich ins Gras fiel, das nasse Laub roch und versuchte, zu Atem zu kommen. Dann endlich begriff ich, dass ich einen großen Befreiungsschlag tun muss, ausbrechen muss aus dieser Endlosschleife. Blick nach vorne. Augen zu und durch. Keine Halbwahrheiten mehr, keine Notlügen, keine falsche Ehrlichkeit, keine grundlose Feindseeligkeit, keine unterdrückte Eifersucht mehr. Ich sehnte mich nach Klarheit, nach Ordnung in meiner brennenden Seele, nach Normalität in meinen Gedanken, nach Nächten mit erholsamen Schlaf und ruhigen Träumen.
Darum schrieb ich ihn, den Brief, das Geständnis meiner Liebe zu Dir. Selbst jetzt konnte ich nicht klar zugeben, dass ich Dich immer noch liebte, doch das tat ich noch, so sehr, dass es schmerzte und dieser Schmerz meine Empfindungen betäubte. Und es sollte auch noch lange dauern, bis ich entgültig von Dir freikam. Und als warum habe ich, während ich den Brief schrieb, nicht an die Folgen gedacht? Vielleicht war es besser so, denn als ich Dir den Brief gab und danach zu mir dachte, dass ich nun das Schlimmste überstanden habe, täuschte ich mich. Das Sehnen ging weiter, das Hoffen auf Deine Reaktion, der Wunsch, Dir alles genauer zu erklären, mich zu rechtfertigen und tief, tief in mir die Hoffnung, dass Du mir vergibst und das irgendwie bald alles besser wird. Es folgten erneut viele Monate voll Sehnsucht, Wut, Eifersucht und ungeweinter Tränen. Winter kam und Winter ging, und auch dies ging vorbei. Irgendwann schien alles geklärt und gut und Du lächeltest mich wieder an. Und dann kamen die Sommernächte, in denen wir stundenlang zusammensaßen und tranken und miteinander sprachen. Wir trösteten uns gegenseitig über unsere Sorgen hinweg, und ich lag in Deinem Arm und Du streicheltest mir übers Haar, und ich schaute in Dein Gesicht und spürte, dass ich Dich immer noch liebte. Aber es war leichter geworden. Bis zu der Zeit, da wir beide unser Studium begannen, an verschiedenen Orten. Wir trafen uns seltener, doch jeder hatte plötzlich sein eigenes Leben, an welchem der andere nicht teilhatte. Es ist merkwürdig, dass eine solche Freundschaft ein abruptes Ende haben kann. Aber es war der Abend, an dem ich Dir vorwarf, dass Du Dich so von uns zurückgezogen hättest. Und Du sagtest plötzlich, so wie nebenbei, dass es mit uns beiden eh nie wieder so geworden ist wie früher. Wahrscheinlich hattest Du in gewisser Weise auch recht, aber es tat mir weh, denn es stellte alles in Frage, was wir uns wieder aufgebaut hatten. Seit diesem Abend reduzierten sich unsere wenigen Wortwechsel auf Floskeln, und bei unseren wenigen Wiedersehen suche ich verzweifelt nach dem, was uns einst verband.

Sicherlich noch ein recht unausgereiftes Erstlingswerk...Ich schrieb einfach meine Gedanken nieder. Kann es verstanden werden, wenn es nicht miterlebt wurde?Tobias Lang, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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