Phio Asral

Schattenbuchstaben

Das leicht raue Papier raschelt leise zwischen deinen Fingern, als du umblätterst. Deine Augen gleiten über die ersten Zeilen, und für einen kurzen Augenblick hast du das seltsame Gefühl, dass etwas daran vertraut wirkt. Du blinzelst, versuchst es abzuschütteln, doch der Gedanke bleibt wie ein Schatten in deinem Hinterkopf, flüchtig, aber spürbar. Und während du weiterliest, verstärkt sich dieses leise Unbehagen – als ob das, was auf der Seite steht, nicht mehr bloß Worte wären. Die Welt um dich herum wird dumpfer, als wäre sie durch Watte gedämpft, während das Knistern und Rauschen des Papiers lauter wird.

Die Konturen schwinden, und vor dir breiten sich neue Sinneseindrücke aus wie eine riesige Decke, die vom Wind in wellenartige Bewegung gesetzt wird. Eine Bewegung, die du nicht unterbinden kannst. Etwas mulmig wird dir zu Mute, während das Wissen von etwas Altem, Bedrohlichem, das dich beobachtet, sich wie ein schwerer Umhang über deine Schultern legt.

Ein Kribbeln auf deiner Haut, das du nicht genau zuordnen kannst, flutet deine Sinne. Ein Flüstern, ein Hauchen, als hätte sich ein Schatten über die Zeilen gelegt. War da ein Schatten? Eine Regung in den Ecken der Buchstaben? Du bist dir nicht mehr sicher.

„Lass die Maske auf!“, flüstert eine raue Stimme, so nah, dass du spürst, wie der Atem über dein Ohr streift. Ein Instinkt lässt dich fast den Kopf drehen, doch du weißt es besser. Dort wird nichts sein. Nichts, was du sehen kannst. Der Kältehauch, der plötzlich deine Finger streift, lässt dich schaudern. „Sie dürfen nicht wissen, dass du noch lebendig bist.“ Die Worte klingen, als wären sie Teil des Textes selbst, aber sie sind für dich bestimmt. Dieser Text wird das Einzige sein, das zwischen dir und den Schatten steht – es ist der einzige Schutz, den du hast.

Das kalte Grauen schleicht sich in deine Glieder, macht sie schwer und langsam. Das Blut rauscht in deinen Ohren.

‚Es ist nur ein Buch,‘ sagst du dir? Doch warum pocht dein Herz unruhig, und warum fühlst du dich beobachtet? Woher kommt das leise Atmen in der Stille? Das Flüstern neben deinem Ohr?

Ein Knacken – scharf und nah – durchdringt die Stille, und etwas in dir sagt, dass es kein Mensch war, zumindest kein Lebender. Das Summen und Knurren wird lauter, als hätte sie jemand hereingelassen, und die Buchstaben auf der Seite dehnen sich, wirken verzerrt, bis sie zu Schatten werden. Schemen, die längst vergessen haben, wer sie einmal waren. Ihre eisigen Blicke bohren sich tief in deinen Rücken.

Ein kaum sichtbarer Umriss huscht über die Seite, und du hältst unwillkürlich den Atem an. Die andere Welt kommt dir immer näher, macht dich empfänglich für all das Geisterhafte um dich herum. Das Knarzen und Knacken. Das Necken und Keckern. Verzerrte Gesichter vor deinem inneren Auge. Hohnlachende Fratzen. Lange, dunkle Striche, die nur Erinnerungen sein sollten. Wispern und Raunen. Der beißende Geruch von Moder und Verwesung dringt in deine Nase, treibt dir Tränen in die Augen. Es gibt nun kein Zurück mehr. Tobend und jaulend wirbeln sie um dich herum, wollen, dass du ein Teil von ihnen wirst. Ein Kichern leise und durchdringend hinter dir, neben dir, dann aus dir!

Dein Blut gefriert in den Adern, als lange, schmale Finger sich um deine Schulter schlingen. Der jauchzende Kreis aus Geistern, Ungeziefer und Spukgestalten verstummte jäh. Ohrenbetäubende Stille breitet sich aus. Ein tiefer Seufzer fährt dir durch Mark und Bein.

Nein! Schau dich nicht um! Sieh nicht auf! Du wirst nichts sehen. Es wird nicht da sein, aber es wird dich begleiten, wann immer du dich in Sicherheit wiegst und nicht hinschaust. Dann wird es das Knacken hinter dir sein, die Klinge, die langsam heruntergedrückt wird, und die Tür, die quietschend aufschwingt, nur um ein gähnendes Nichts zu offenbaren. Es wird das unheimliche Raunen sein, sobald es still geworden ist. Der Schatten, den du siehst, wird nicht länger der deine sein! Dein Nacken wird steif? Egal! Du spürst die Hand immer schwerer auf dir ruhen, wie sie sich fester um dich schlingt. Fast fühlst du schon den stechenden Schmerz, wenn sich die Finger in deine Haut bohren. Du bildest dir ein, bereits die Wärme deines Blutes auf der Schulter zu spüren, die taub vor Kälte war.

Erst als du beginnst die letzten Zeilen zu lesen, spürst du, wie die Wärme langsam in deinen Körper zurückkehren. Doch die Stille, die zurückbleibt, ist von einer merkwürdigen Schwere erfüllt. Du redest dir ein, dass es vorbei ist, aber du wirst es nie wissen – bis zum nächsten Mal, wenn die Schatten aus dem Nebel steigen und leise hinter dir flüstern, wenn das Knacken in der Dunkelheit ertönt und du dich wieder fragst, ob sie wirklich gegangen sind?!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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