Blick in die Zukunft

Irgendetwas fühlt sich an diesem Gesprächsablauf anders an als gewohnt. Das Ehepaar Regina und Steffen Zinkgraf ist in eine Diskussion vertieft, die das Faible für Horoskope und Orakel von Ehefrau Regina zum Thema hat. Derartige Gespräche finden im Hause Zinkgraf aus gegebenem Anlass immer wieder mal statt. Regina ist der Überzeugung, dass das Schicksal aller Menschen von der Korrelation zwischen Tierkreiszeichen und anderen astrologischen Mediatoren richtungsweisend beeinflusst wird. Entscheidungen zu Themenbereichen wie Geburt, Heirat, Gesundheit oder Beruf trifft sie daher nie ohne astrologische Absicherung. Ehemann Steffen nennt die Horoskopgläubigkeit seiner Gattin auch schon mal, etwas despektierlich, esoterische Kinkerlitzchen. Immer wenn Regina sich intensiv mit ihren Zukunftsstudien befasst, zieht sich Steffen zurück und bewahrt einen Sicherheitsabstand, wie er es ausdrückt. Ihre Ehe aus diesem Grund grundlegend in Frage zu stellen, ist für beide allerdings keine Option.

An diesem Abend verläuft das Gespräch in anderen Bahnen. Regina hat es geschafft, das Interesse ihres Mannes gezielt auf ihr Thema zu fokussieren. Sie kennt dessen Neigung, bei Erörterungen kontroverser Meinungen harte Fakten beweisführend heranzuziehen; vorzugsweise angereichert mit Ansichten von als seriös geltenden Referenzpersonen, wie Wissenschaftler oder andere Geistesgrößen. Kommen solche Meinungsbildner ins Spiel, hört er aufmerksamer zu als gewohnt. Diese Ausgangslage nutzt sie jetzt.

In der Vergangenheit waren es u. a. schon mal Zitate des Mathematikers Dr. Gunter Sachs zu Reginas bevorzugtem Themenkreis. Oder noch gewichtiger, vom Begründer der analytischen Psychologie, C. G. Jung. Und der einstige Freud-Schüler Jung, der die Lehre seines Vordenkers von der Dominanz der Libido als Antrieb menschlichen Handelns später ablehnt, ist aktuell zum Star am astrologischen Himmel Regina Zinkgrafs geworden.

Regina, der immer an einer Pflege ihrer partnerschaftlichen Beziehung gelegen ist, glaubt, bei Jung zu diesem Punkt u. a. den Ansatz einer Bejahung für eine Selbstbestätigung des Menschen über die Welt der Horoskope gefunden zu haben. Dieses soll auf einer Erkenntnis von Albert Einstein basieren, so wie sie es verstanden hat. Dies könnte für ihren Ehemann ihrer Einschätzung nach zu akzeptieren sein. Mehr Bezug auf hochkarätige Geisteswissenschaft als auf die eines Einsteins ist kaum möglich. Ehemann Steffen war schon früher unter bestimmten Voraussetzungen durchaus für Erörterungen zu ihrem Thema offen, sofern sie nachvollziehbare Beispiele von renommierten Denkern liefern konnte. Die passende These, die ihm seine Frau nun vorsetzt, „Logik bringt dich von A nach B. Deine Phantasie bringt dich überall hin“, spricht ihn an. Allem Anschein nach scheint hier nicht nur gezielt auf Horoskope und Orakel hingewiesen zu werden, denkt er. Und so steigt er in die Diskussion ein und fühlt sich auf sicherem Eis.

Horoskope hin oder her. Noch bis vor kurzem hätte er eher mit der reinen Auffassung von Siegmund Freud zum kurz vorher angerissenen Thema Dominanz der Libido sympathisiert, zumal er lange Zeit Anhänger der richtungsweisenden Bedeutung testosterongesteuerter männlicher Präsenz gewesen ist. Inzwischen folgt er mehr C. G. Jung, und ist auf diesem Gebiet zurückhaltender unterwegs, da seine libidinöse Agenda häufiger blinde Flecken aufweist. Sein Testosteronspiegel zeigt inzwischen deutlich nach unten.

Und diese Ausgangssituation nutzt Regina, um ihren Mann in eine veränderte Sicht auf eine Schicksalsbestimmung mitzunehmen. Das Thema Libido ist schnell abgehakt. Steffen steht dem folgenden Geschwurbel über Orakel u. ä. zwar immer noch skeptisch gegenüber, hört jedoch im Dunstkreis der Thesen anerkannter Geistesgrößen aufmerksam zu. So eröffnen sich ihm neue, nie erahnte Erkenntnisse. Er weiß zwar in groben Zügen um ihr Hobby, Orakel und Horoskope, hätte aber nie diesen Umfang und diese Tiefe in ihren sogenannten Studien vermutet. Steffen Zinkgraf sieht manches nun anders. Dies hat jetzt aber nichts mehr mit Deutungen der Geschlechterrollen nach C. G. Jung oder Siegmund Freud zu tun. Die waren für seine Ehefrau offensichtlich nur Aufhänger für etwas anderes.

Er ist von der akribischen Dokumentation seiner Frau beeindruckt und gleichzeitig verwirrt. Seine Gattin hat im Laufe vieler Jahre ein umfassendes Werk in personalisierter Form über Astrologie und tatsächliche Auswirkungen auf das alltägliche Leben verfasst. Ihre Orakel basieren auf Daten und Auswertungen verschiedener Arten von Mediatoren, z. B. Tarot-Karten, Kristallkugeln, Sternenkonstellationen, Horoskop-Steine. Aus Steffens Sicht, nüchtern betrachtet, ist das immer noch Spökenkiekerei, und die ist ihm nach wie vor suspekt. Mit Reginas Erkenntnissen über Tierkreiszeichen und Sternen-Konstellationen freundet er sich daher nur zögernd, und auch erst dann an, als sie Belege liefert.

Seine Frau hat im Laufe vieler Jahre für alle wichtigen Ereignisse ihres gemeinsamen Lebens ein Astrologie-Logbuch geführt – gefüllt mit ihren Voraussagen für real stattgefundene Geschehnisse. Ihr Ehegatte ist verblüfft über die hohe Trefferquote. Viele dieser Ereignisse sind ihm noch deutlich in Erinnerung. Die dazugehörigen Vorhersagungen hatte er seinerzeit stets ausgeblendet. Nun möchte er auf seinen neuen Pfaden, die diesem Thema eher zugewandt sind, sicher gehen. Er bittet um konkrete Ausblicke in seine Zukunft. Und Regina liefert. Es sind zwei Geschehen, die sie für den Lebensweg ihres Mannes zeitnah vorhersagt. Zum Einen, so ihre Weissagung, droht ihm eine ernste Erkrankung. Zum Zweiten sieht sie eine berufliche Katastrophe auf ihn zukommen. Steffen kann an dieser Stelle, trotz der vermeintlich dramatischen Tragweite dieser vorausgesagten Geschehnisse, nur milde lächeln. Gesundheit und Beruf, das passt immer.

Aber beides bewahrheitet sich kurze Zeit später. Ein Lungenfacharzt diagnostiziert bei Steffen den Beginn einer schwer zu behandelnden chronischen Atemwegserkrankung mit ungünstiger Prognose. Die Empfehlung des Mediziners ist ein längerer Aufenthalt in einer unbelasteten Umgebungsluft. Hier kommt in Deutschland optimalerweise die Nordseeinsel Helgoland mit ihrem faktisch emissionsfreien Klima in Frage. Dem angekündigten beruflichen Problem kann Steffen nicht vorbeugen. Und auch hier trifft die Voraussage seiner Frau ins Schwarze. Sein Arbeitsplatz wird tatsächlich ersatzlos gestrichen.

Das Ehepaar Zinkgraf wählt daraufhin die Hochseeinsel Helgoland als ihren neuen Lebensmittelpunkt. Steffens Gesundheit wird durch diese Maßnahme entscheidend verbessert. Und in der neuen Heimat fasst er auch bald beruflich wieder Fuß. Er verkauft frische, unbelastete Meeresluft in Dosen an Touristen. Ein Riesengeschäft. Regina steigt derweil tief ins Reich der Astrologie ein und wird in Fachkreisen als diejenige bekannt, die das Geheimnis um das als verschollen geltende dreizehnte Tierkreiszeichen lüftet, das Sternzeichen Oktopus.